Der Tag, an dem meine Schwägerin das spanische Wort für „Hilfe!“ lernte, oder: Warum ich das Gefühl habe, dem Zute immer noch was zu schulden

Donnerstag, 7. Juni 2007 um 10:05

In Sepúlveda, dem größten Ort in der Gegend, aus der meine Großmutter väterlicherseits kommt, war ich zuletzt vor zehn Jahren. Mit mir reisten damals mein Bruder, seine Freundin (heute Ehefrau) und der Mitbewohner, der mich auch diesmal begleitet. Die Schwägerin hatte sich anhand von Büchern und mit Hilfe meines Bruders ein wenig Spanisch beigebracht. Doch dann gingen wir gleich nach unserer Ankunft in die Bar Casa Paulino – ein Muss für meinen Bruder und mich, die wir dort mit unseren einheimischen Verwandten und Freunden wunderbare Sommernächte eingeläutet hatten, allerdings nie gemeinsam.

Wir traten durch die Tür der Casa Paulino, und uns schlug die typische kastilische Gesprächskulisse entgegen: Alle redeten gleichzeitig, alle mit erhobener Stimme, der Austausch zwischen Barpersonal und Gästen beschränkt sich konsequent auf bare Information, höchstens noch angereichert durch Kraftwörter, kurz – es klang, als herrsche heftiger Streit und als stünden allesamt kurz vor einer blutigen Auseinandersetzung. Meine Schwägerin blieb wie vom Schlag getroffen auf der Türschwelle stehen und erstarrte. Nach einigen Sekunden drang aus ihr: „Ich sage hier kein Wort.“ Sie konnte ja nicht wissen, dass alles in Ordnung war, dass kastilisches Barpersonal (männlich, weißes Hemd, schwarze Hose, ungeheuer effizient – wenn seinerzeit Barmänner die Armada befehligt hätten, wäre sie sicher nicht untergegangen) nie lächelt, aber jede Bestellung hört, selbst wenn sie aus 15 Metern Entfernung eingeht, und sowieso besser als man selbst weiß, was man trinken will. Dass Diskussionen unter Castellanos grundsätzlich kontrovers geführt werden, selbst wenn alle einer Meinung sind – keiner will sich die Gelegenheit entgehen lassen, sein Gegenüber einen Vollidioten zu heißen. Ich gebe zu, das gilt nur für Männer, aber die grundsätzlich anderen Spielregeln unter spanischen Frauen waren mir eigentlich immer zu doof: Beso links, beso rechts, irgendein Begrüßungsausruf im höchsten zur Verfügung stehenden Sopran, der den Namen der Begrüßten sowie möglichst oft ay enthalten muss, dann, GANZ WICHTIG!, ay que guapa eres, also „du schaust phantastisch aus!“. Im Gegensatz dazu unter Männern: Kräftiger Schulterklopfer, Ausruf des Namens des Begrüßten in Diminutivform oder sonst einer Verballhornung, und dann wird möglichst direkt auf eine Gelegenheit zugesteuert, ihn liebevoll einen Trottel zu nennen – viel sympatischer.

Auch meine Schwägerin aklimatisierte sich; es genügte nach einiger Zeit, sie beruhigend anzusehen, wenn sie wieder den Eindruck hatte, die Menschen um sie herum würden einander gleich an den Kragen gehen.

Die kulinarische Spezialität von Sepúlveda ist Cordero asado, Milchlamm aus dem Ofen, mit nichts anderem gewürzt als Salz. Bei meinen Kinderurlauben gab es das immer zum großen Familientreffen: Ein Onkel fuhr zum Metzger und holte in Tonreinen das vorher bestellte Lamm, das wurde dann zum Bäcker gebracht, der als Einziger genug Ofenraum dafür hatte. Zur verabredeten Zeit holte der Onkel das gare Lamm und brachte es an den Mittagstisch, auf dem es zur Vorspeise bereits ensaladilla rusa gegeben hatte (richtig: russischer Salat mit viel Dosengemüse, Thunfisch und Majonese, also genau das Richtige für einen heißen Sommertag). Als die großen Familientreffen aufhörten (Erbschaftsstreitigkeiten unter der dortigen Verwandtschaft, fragen Sie nicht), gingen wir zum Cordero-Essen ins Restaurant. Irgendwie hatte sich schnell festgesetzt, dass Zute el Mayor das beste Preis-/Leistungsverhältnis bot, mit Glück bekam man auch einen Tisch mit Ausblick über die Huertas de Sepúlveda.

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Auch vor zehn Jahren gingen wir zum Zute. Wir bestellten zwei Viertel Lamm (man bestellt nach cuartos und rechnet ungefähr eines für zwei Personen), dazu Salat, Brot, Wasser, Wein. Es schmeckte wie gewohnt hervorragend, und dass die Schwägerin – ebenfalls wie gewohnt – nur eine Miniportion Fleisch aß, kam uns anderen Dreien grade recht. Wir waren noch genüsslich am Kauen, als sie sich aufs Klo abmeldete. Als auch wir schon lange satt und fertig waren, wurde uns bewusst, dass sie ganz schön lange weg war. Im selben Moment trat einer der Kellner (alles Originale und eine Begegnung wert) an unseren Tisch und fragte, ob wir vielleicht jemanden vermissten, es gebe da ein Problem im Damenklo. Ich sprang auf und lief die Treppen hinunter zu den servicios. In einer der beiden durch Spanplatten voneinander getrennten Kabinen befand sich die Schwägerin und erklärte die Lage – eher hysterisch belustigt als besorgt: Beim Versuch die Tür zu öffnen, war der Klinkenknopf so blöd abgebrochen, dass sie nicht mehr rauskam. Das war der Moment, als ihr klar wurde, dass sie nicht wusste, was „Hilfe!“ auf Spanisch heißt. Sie hatte es mit einem „äh, help!“ versucht, doch das Klo lag tief unter dem lärmigen Restaurant, und niemand hörte sie. Als endlich ein weiteres weibliches Wesen aufs Klo musste, nahm sie Kontakt auf. Das kleine Mädchen stellte fest, dass die Türe sich auch von außen nicht öffnen ließ, und gab dem Kellner Bescheid. Der sich dann an uns wandte.

Alles sah danach aus, dass man zur Befreiung der Schwägerin um ein Herausschrauben des Türschlosses nicht rumkommen würde. Ich bat also das Restaurantpersonal um Hilfe und schilderte die Umstände. Bis heute weiß ich nicht, was an meinem wackligen Spanisch die darauf folgende Aktion ausgelöst haben mag. Als Nächstes tauchte nämlich einer der Kellner beherzt im Damenklo auf, ein riesiges Brecheisen in der Hand. Und mit dem hebelte er ohne weitere Umstände, dafür unter Höllenlärm die Tür und ihren Rahmen zu Kleinholz. Ich werde nie das entgeisterte Gesicht der Schwägerin vergessen, als ich es endlich durch die nicht mehr vorhandene Tür zu sehen bekam. Dann begannen wir beide hysterisch zu lachen, der beherzte Kellner verschwand. Spanische Ingenieurskunst.

Auch dieses Jahr waren wir beim Zute, als Ausflug von Ávila aus.

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(Nachdem man das gare Viertel Lamm gezeigt bekommt, übernimmt der Kellner das portionsgerechte Zerteilen.)

Natürlich habe ich nach dem Damenklo gesehen: Es ist komplett neu (nur noch eine Kabine), sehr gepflegt und schön. Aber irgendwie habe ich immer noch ein schlechtes Gewissen. Und „Hilfe!“ heißt socorro.

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Der Tag, an dem meine Schwägerin das spanische Wort für „Hilfe!“ lernte, oder: Warum ich das Gefühl habe, dem Zute immer noch was zu schulden“

  1. Elfe meint:

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    Gerne gelesen

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  2. Stefan meint:

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    Gerne gelesen

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  3. Eva meint:

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    Made my day

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