Beifang aus dem Internet

Samstag, 11. Januar 2014 um 21:59

Letzthin fiel mir wieder dieser Gaststudent aus England ein, den ich in meinem vierten Semester in Augsburg kennenlernte. Der bei einem Besuch in meiner Wohnung darüber dozierte, dass das Klassensystem in seiner Heimat längst ein Ding der Vergangenheit sei – während er im Kaschmirpullover auf meinem Sofa lag, die rahmengenähten Schuhe ohne Rücksicht auf Verschmutzung auf der Sofalehne abgestützt. Auch davor und danach hörte ich diese Behauptung (Klassensystem in England? Gibt’s nicht mehr) ausschließlich von Menschen, die davon profitierten.

Dieser Gaststudent fiel mir nämlich als ein Beispiel für den Umstand ein: Wer in einer Gesellschaft schon immer zu den Privilegierten gehört, merkt das oft nicht. Und tendiert deshalb dazu, diese Privilegien zu bestreiten. Zum Beispiel, wenn er oder sie zur hellhäutigen, westlichen Mehrheit gehört. Noah Sow beschreibt das ausführlicher in ihrem Nachhilfe im Weißsein.

Als weiße Deutsche haben Sie derzeit unter anderem von Geburt an die folgenden Privilegien:
– als Individuum betrachtet zu werden.
– als vollwertiges Mitglied der Bevölkerung betrachtet zu werden.
– nicht automatisch als ‚fremd’ betrachtet zu werden.
– nicht rechtfertigen zu müssen, weshalb Sie in Ihrem eigenen Land leben oder weshalb Sie überhaupt in Ihrer Form und Farbe existieren.
– sich und Ihre Gruppe selbst benennen zu dürfen.
– alle Menschen, die nicht weiß sind, benennen, einteilen und kategorisieren zu dürfen.
– dass Ihre Anwesenheit als normal und selbstverständlich betrachtet wird.
– sich benehmen zu können, als spiele Ihre eigene ethnische Zugehörigkeit keine Rolle.
– jede andere Kultur nachäffen oder sich in Teilen aneignen zu können, ohne dafür von der Mehrheitskultur ausgegrenzt zu werden (ausgelacht vielleicht … ausgegrenzt aber nicht).
– bestimmen zu dürfen, inwiefern die Errungenschaften und Meinungen aller Menschen, die nicht weiß sind, relevant sind, selbst wenn diese Menschen viel gebildeter sind als Sie.
– ohne die Möglichkeit aufzuwachsen, dass Sie rassistisch beleidigt werden können.
– in der Gesellschaft, in der Sie sich bewegen, öffentlich anonym bleiben zu können, wenn Sie wollen.
– nie darüber nachdenken zu müssen, ob Verdächtigungen oder Kontrollen vielleicht aufgrund Ihres vermeintlich anderen Aussehens erfolgen.
– Fremden Ihre Herkunft nicht erklären zu müssen.
– grundsätzlich ungehindert und unkontrolliert in die ganze Welt reisen zu können.
– auf Rassismus nicht reagieren zu müssen.

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Gefühlte Jahre hat Michael Krüger als Geschäftsführer des Verlags Hanser Abschied genommen. Seit 1. Januar nun ist sein Nachfolger Jo Lendle wirklich, wirklich im Amt. Im Interview mit der FAZ erscheint er als genau der Realist mit Leidenschaft, der Verlagen eine echte Zukunft ermöglicht: “Mehr Frauen, weniger Krimis, junge Stimmen” (doofe Überschrift, darum geht’s in dem Interview am wenigsten).

Verlage sollten sich nicht zu fein sein, Bloggern Rezensionsexemplare zu schicken. Das sind meinungsstarke und bisweilen durchaus wirkungsvolle Spielformen der Literaturvermittlung. Durch das E-Book denken wir anders über Bücher nach. Das sind nicht mehr einfach nur längere Texte, um die ich zwei Deckel schlage, sondern variable Gebilde betreffs Formaten, Aggregatzuständen, Erzählstrukturen. Ich kann über Abonnements nachdenken und Geschichten weitererzählen, Warum nicht dem ollen Fortsetzungsroman einen neuen Auftritt geben? Heute findet das lose im Netz statt, aber daraus können Werke entstehen.

(Und falls sie fragen, wo die “Auf einer Seite lesen”-Funktion geblieben ist: Daran wird nach dem Relaunch von faz.net noch gefrickelt, Redaktion bittet um Geduld.)

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Reden wir über zwei Worte: abstrakt und diffus.

Das ist das vorherrschende Grundgefühl, wenn ich mich so umhöre und mir Artikel reinziehe, in denen es auch nur ansatzweise um Überwachung und NSA geht. Eine diffuse Angst, heißt es, und ein Thema, das abstrakt bleibt, weil es nicht greifbar sei. Die Menschen nehmen das zur Kenntnis – (angeblich) achselzuckend.

Reden wir also über meinen Besuch in der Moschee und darüber, dass ich mich nicht getraut habe, zu unterschreiben.

Hakan schreibt auf kleinerdrei über die Auswirkung der NSA-Überwachung für ihn selbst: “Alles sehr real”. Vielleicht sollte ich künftig mein Smartphone daheim lassen, wenn ich in dieser Gegend Einkaufen gehe (keine 500 Meter von meiner Wohnung) – die gesammelten Ortungsdaten könnten mich sonst verdächtig machen.

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Sehr lange, sehr lesenswerte Geschichte (mit großartigen Fotos):
“Why I Bought A House In Detroit For $500”.

Drew Philp beschreibt darin das Detroit der vergangenen Jahre (inklusive Rückblicke in die Stadtgeschichte) aus der Sicht von jemandem, der fest an die Zukunft der Stadt glaubt und aktiv daran mitarbeitet – und der dabei mit vielen Menschen zu tun hat, die genauso wenig aufgeben. Die Kraft, die hinter diesem fast schon störrischen Gestaltungswillen steckt, beeindruckt mich tief.

via @spreeblick

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Laura Himmelreich war mit ihrem Brüderle-Portrait für den Stern vor einem Jahr einer der wichtigen Auslöser der Sexismus-Debatte. In der Meta-Diskussion tauchte sie kaum auf, äußerte sich auch nicht Talk-Shows (ihr sehr gutes Recht).

Jetzt fasst sie dieses Jahr zusammen: “Wie die stern-Autorin den #aufschrei erlebte” – angenehm unaufgeregt und nüchtern, dennoch sehr persönlich.

Ihr Fazit:

Es bleibt das Wort “sexistisch”, das Staub angesetzt hatte und nun wieder einen Platz in unserer Alltagssprache besitzt. Und vielleicht bei der ein oder anderen Frau das Gefühl, mit ihren Erlebnissen nicht allein zu sein.

Ich habe meinen Text nicht aufgrund einer feministischen Agenda geschrieben. Aber die Reaktionen auf den Text haben mich zu einer überzeugteren Feministin gemacht.

Auch ich traue inzwischen meinem Eindruck, dass diese Diskussion wirklich etwas bewirkt hat. Sexistische Bemerkungen möchten (noch?) nicht deutlich abgenommen haben, doch mir fällt auf, wie häufig sie inzwischen von Disclaimern begleitet werden: “Das mag jetzt sexistisch klingen”, “Das ist nicht sexistisch gemeint, aber”, “auch wenn man heute mit sowas den Vorwurf des Sexismus riskiert”. Der Sprecher / die Autorin hat also zumindest das Problem erkannt. Ein erster Schritt, sehr gut, jetzt bitte den nächsten gehen.

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Was die Stürme in England so angerichtet haben, wurde mir erst durch die Fotos des Brightoner Instagramers lomokev klar:

In Hove ist der Kiesstrand nun ein paar Meter landeinwärts.

Hier führten vor dem Sturm Stufen nach unten.

Die Website der BBC hat einige sehr bedrückende Vorher/Nachher-Fotos.

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Und dann noch was fürs Cherz:
“Why This Young Girl Is a Masterful Storyteller in Sign Language”.

Ein süßes kleines Mädchen gebärdet “‘Twas the Night Before Christmas”, der zugehörige Artikel schlüsselt in Standbildern die Gebärdensprachenelemente auf, die das Mädchen verwendet.

via Mitbewohners Hinweis

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Beifang aus dem Internet“

  1. walküre meint:

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  2. joriste meint:

    danke für “letzhin”. Hab ich seit mehr als anderthalb Jahrzehnten nicht mehr gehört.
    Außerdem natürlich alles, wie immer, gerne gelesen.

  3. kelef meint:

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  4. Bhuti meint:

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  5. Jenny meint:

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  6. Trulla meint:

    Danke für den Text von Noah Sow. Sehr richtig und sehr wichtig!

    Wir denken nicht einmal mehr darüber nach, dass wir Privilegien auf allen Ebenen haben, so selbstverständlich scheinen sie uns. Unsere Kinder machen Auslandsjahre, travel on work, können entscheiden, wo sie eines Tages leben möchten. Warum auch nicht? Manch eine/r geht des vermuteten besseren Verdienstes oder besserer Arbeitsbedingungen oder der Sonne wegen nach wo auch immer. Ist doch verständlich, wenn man sich ein noch größeres Stück vom Kuchen nehmen möchte, oder?
    Aber wenn Menschen in existenzieller Not ihre Heimat verlassen (müssen), hier bei uns Zuflucht und Überleben suchen, hört man: das Boot ist voll, wir können nicht jeden…….und die CSU wird nicht müde, diese Stammtische zu bedienen.

    Welche Arroganz. wenn nicht viel Schlimmeres spricht daraus!

  7. Sebastian meint:

    Sehr inspirierend, auch in dieser Kombination. Nachhilfe im Weißsein, der Bericht aus Detroit.

    Sehr erhellend auch Noah Sows Blick auf die Auswanderer-Shows. Als wir auf eigene Faust nach Australien gingen, war das wegen Deutschland – nicht weil wir hier weg wollten, sondern weil wir aus einem Land kamen, aus dem man als Staatsbürger auch leicht weg kann, wenn das Geld dafür reicht. Und dass es reicht, dafür gibt es kaum ein besseres Land auf der Welt. Und so konnten wir nach der vorzeitigen Rückkehr auch rasch und leicht wieder reinkommen, aus dem Sozialsystem waren wir eh nie draußen.

    Als die indonesische Bekannte in Jakarta drüber nachdachte, nach Deutschland zu gehen, sagte ihr deutscher Bekannter dort: “Warum denn, hier hast Du doch alles?” Was man mit einem guten Job bei einer deutschen Firma und vor allem mit einer deutschen Staatsbürgerschaft auch tatsächlich hat.

    Sie aber sollte bloß für einen Spontanbesuch 4 Woche auf einen Termin bei der Visastelle warten und dann dauerte es noch mal 2 Wochen bis zum ok.

    Und das sind nur zwei kleine persönliche Beispiele von wohlhabenden Menschen hier und dort. Mir wird von Jahr zu Jahr klarer, wie wohl wir es hier haben, ich bin sehr froh und dankbar dafür, aber zusehends frage ich mich, zu welchem Preis. Was müssen andere dafür tun, was verweigern wir ihnen? Das neue Unwort “Sozialtourismus” passt gut dazu.

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