Journal Mittwoch, 19. Oktober 2016 – Beifang aus dem Internetz

Donnerstag, 20. Oktober 2016 um 6:59

Gemischtes Wetter, trockener Fußweg am Morgen, hin und wieder Regen, trockener Fußweg nach Hause.

§

Kluger Aufsatz von Philipp Sarasin über
“#Fakten. Was wir in der Postmoderne über sie wissen können.”

Denn es ist wohl tatsächlich eine neue Erscheinung, dass individuelle Emotionen mit Fakten gleichgestellt werden, ungeachtet der Folgen. Hier ein paar Ausschnitte des Aufsatzes, ich empfehle ihn aber gesamt.

Was ist nur passiert? Kann man im Ernst der amtlichen Statistik widersprechen, weil man etwas Anderes „fühlt“? Sind wissenschaftliche Erkenntnisse blosse Ansichtssache? Kann man gar „ehrlich lügen“…? Man reibt sich die Augen: Wie ist es möglich geworden, so zu denken? Viele kritische, zu Recht besorgte Beobachter behaupten, dies sei das Resultat der Postmoderne (cum Google), d.h. die Folge eines angeblich verbreiteten anything goes, dem zynischen Spiel mit blossen Worten, der frivolen Behauptung, ‚alles‘ sei nur eine beliebige „Konstruktion“ und überhaupt Wissen von Glauben nicht zu unterscheiden… Das wäre zweifellos verwirrend. Sind Fakten tatsächlich nicht mehr, was sie einmal waren? Sind Fakten nun Tatsachen oder Konstruktionen, gar blosse Erfindungen?

Die Untersuchung beginnt bei Kant und führt über Nietzsche und Wittgenstein zur Postmoderne:

Tatsachen bzw. Fakten gelten in der heute dominanten Wissenschaftstheorie – und zwar in den Natur- ebenso wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften – aus den angeführten Gründen als „Konstruktionen“, das heisst als gemacht und von den Bedingungen ihrer Herstellung als wissenschaftliche Tatsachen geprägt. Das heisst, im Umkehrschluss, allerdings nicht, sie seien deshalb beliebig, blosse Erfindungen, Meinungen oder gar von Lügen nicht zu unterscheiden. Kein Postmoderner hat das je behauptet. Die Absicherung für die – immer nur relative – Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis liegt heute aber nicht mehr, wie bei Kant, in der Vernunft, sondern in einem durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community. Argumente und Behauptungen über die Wirklichkeit müssen nachvollziehbar und überprüfbar sein, sie müssen andere Diskussionsteilnehmer_innen überzeugen, und sie müssen an bisherige Diskussionen und Erklärungsmodelle anschliessen können.

(…)

Trotz der (nicht erst) postmodernen Absage an eine als absolut verstandene ‚Objektivität‘ sind Fakten nach wie vor ‚robust‘: Sie sind durch viele Evidenzen bestätigt und erscheinen als die beste Auskunft, die wir gegenwärtig zu geben im Stande sind. Sich in ‚nicht-absoluter‘, eben kontingenter Weise auf Fakten zu beziehen und um diese Kontingenz zu wissen, hat daher eine ethische Dimension: Es ist eine Frage der Redlichkeit, unseren Bezug auf Fakten immer mit einer Fussnote zu versehen, um offenzulegen, dank welcher Annahmen, Quellen und Modelle ein bestimmtes Faktum ‚möglich‘, ja ‚wahr‘ ist. Mit bestem Wissen und Gewissen, gleichsam.

Diese Redlichkeit ist ein doppelter Schutz. Sie schützt uns einerseits davor, „Positivist“ zu sein, das heisst glauben zu machen, Fakten seien – ganz unabhängig von unserer Erkenntnistätigkeit – ‚an sich‘ da und wahr und müssten bloss ‚ans Licht‘ gebracht werden. Wer eine solche Vorstellung von ‚Fakten‘ behauptet, tut mächtiger, als er menschenmöglich sein kann: ein Dogmatiker, ein Ideologe in Gestalt eines ‚Realisten‘. Gegen solche Versuchungen hat die postmoderne Philosophie nicht nur immer wieder die Konstruiertheit, sondern auch die damit immer mögliche Vielfalt von Aussagen über die Wirklichkeit angemahnt. Sie bedeutet aber, wie gesagt, nicht, dass man n’importe quoi sagen, dass man Beliebiges über die Wirklichkeit behaupten kann. Aussagen über die Welt müssen begründbar und für Andere nachvollziehbar sein, sonst sind es Glaubenssätze – oder Lügen. Im Garten steht kein rosaroter Elefant, auch wenn ich ihn „fühlen“ sollte.

Diese Redlichkeit schützt daher andrerseits auch gegen den Zynismus, der gegenwärtig am (breiten) rechten Rand des politischen Spektrums zu beobachten ist: Weil Wissenschaft, Experten und tendenziell komplizierte Erklärungen der Welt in weiten Teilen der politischen Öffentlichkeit merkwürdigerweise als „links“ oder „elitär“ gelten, wird in ziemlich dreister Weise die postmoderne Epistemologie dazu missbraucht, die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit einzuebnen. Das hat mit der Postmoderne nichts zu tun, sondern enthüllt nur, wie wenig diese Leute von Wissenschaft, Argumentation, Überprüfbarkeit und Rationalität halten. Das ist an sich nichts Neues. Aber es scheint heute keine Geheimdienste mehr zu brauchen, um mit komplizierten Operationen der schwarzen Propaganda Lügen den Anschein der Wahrheit zu geben. Die Neue Rechte lacht einfach über jene, die an so etwas wie die Wahrheit noch glauben.

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Auch diesmal ist es das kleine Detail, das den großen Wahnsinn viel besser verdeutlicht als die großen Zusammenhänge:
“British tea, jam and biscuits will be at the heart of Britain’s Brexit trade plans”.

British jam, tea and biscuits will be at the heart of Britain’s Brexit trade negotiations, the Government has said, as it unveiled plans to sell food to other countries to boost the economy.

In a speech at a trade fair in Paris last night, Environment Minister Andrea Leadsom outlined key Brexit preparation plans which she claimed would deliver a £2.9bn boost to the UK over five years.

(…)

It has identified nine markets across 18 countries with the best potential for specific products for selling British produce.

These include Japan, which apparently has a growing hunger for classic British items like afternoon tea items and beef.

Officials also believe Mexico is thirsty for whisky and gin with beer and cider demand increasing in Australia and New Zealand. The project aims to “raise the ambitions” of small British producers to help them sell their produce to different corners of the globe.

By doing this it is hoped that Britain’s reputation as a global producer of food and drinks will be elevated.

(…)

The decision was the UK’s first major foreign trade deal to be reached since the vote to leave the EU, and is set to boost the economy by £35 million a year, estimates show. Andrea Leadsom, the Environment Secretary said: “(…) Our food and drink is renowned for having the very best standards of animal welfare, quality and safety and I want even more of the world to enjoy what we have to offer.

“Scottish salmon, Welsh beef, Northern Irish whiskey and English cheese are already well-known globally and I want us to build on this success by helping even more companies send their top quality food and drink abroad.”

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Hier aber noch etwas zu den großen Zusammenhängen von Simon Head in The New York Review of Books:
“The Death of British Business”.

In UK gehören ja nicht mal die großen Banken der City den Briten, ganz zu schweigen von den Resten der Industrie.

The steady erosion of British corporate enterprises was partially offset by an increased flow of overseas investment to Britain, which had become a low-cost and low-wage producer in comparison with its nearest continental European neighbors. Also attractive to foreign investors was the efficiency, transparency, and—for American investors—familiarity of the British legal system, especially when set alongside those of its counterparts in continental Europe. But none of this was enough to raise deprived regions of the country to the level of even moderately prosperous local economies in Germany, France, the Netherlands, and the south of England.

I had first-hand experience of this while researching my book The New Ruthless Economy: Work and Power in the Digital Age (2005). I visited Japanese-, American-, and German-owned plants all over Britain, including Toyota, Honda, and Nissan’s assembly plants in the northeast of England; the plant managers showing me around would invariably explain that they were supplying the whole European market. Of course, these sales opportunities had opened up thanks to Britain’s membership of the EU and the free access to the European single market it guaranteed. This was also the chief rationale for locating the plants in the UK in the first place. With the completion of Brexit, this rationale will disappear.

via @ankegroener

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 19. Oktober 2016 – Beifang aus dem Internetz“

  1. arboretum meint:

    Die britische Regierung sieht auch Chancen für den Export von Wein, Bier und Cider nach Deutschland. Als nächstes dann wohl die britischen Würstchen.

    Japan hat übrigens die Einfuhr von Fleisch aus Großbritannien wegen BSE schon vor Jahren verboten.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Und wie ich erst auf die englischen Teeplantagen gespannt bin, arboretum!

  3. arboretum meint:

    Der Tee wächst dann bestimmt neben den Weiden mit den pinkfarbenen Einhörnern, die versprochen wurden. Außerdem gibt es dazu Kuchen für alle. Die Kekse werden ja alle exportiert.

    Der English Breakfast Tea, den ich gerne trinke, ist vorige Woche plötzlich 40 Cent teurer geworden, obwohl das Pfund so abgeschmiert ist. Diese Woche ist er im Angebot zum vorherigen Preis.

    Für die veganen Lebensmittel aus Großbritannien besteht vielleicht sogar eine Chance, kommt halt auf die möglichen Zölle an.

  4. U. meint:

    Sehr schöner Kommentar unter dem FT-Äquivalent des Kekse-Artikels: “Brexit government counters loss of EU market by opening new lemonade stands along world’s trade routes.”

  5. arboretum meint:

    @ U.: Sehr treffend.

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