Journal Samstag, 20. Januar 2018 – Schneematschgestöber

Sonntag, 21. Januar 2018 um 8:43

Zum Glück konnte ich ausschlafen und die nächtlichen Stunden nachholen, in denen mich der böse Tintenfisch im Bauch mit Querliegen und Sodbrennen wach gehalten hatte.

Vormittags nasses Schneegestöber, doch dann kam die Sonne raus. Ich nutzte sie für eine Radfahrt ins Olympiabad. Leider war meine Laune gereizt, so kam ich nicht mit dem Mitschwimmer zurecht, dessen Tempo ständig so stark wechselte, dass ich ihn mal am Beckenrand vorließ, dann überholte, bevor er mir wieder in die Fersen schlug – ich wechselte zornig die Bahn.

Und dann auch noch die übliche Statistik beim samstagnachmittäglichen Heimradeln: Zweimal Fußgänger nur durch ein lautes “Obacht!” davon abgehalten, mir durch blindes Kreuzen des Radwegs reinzulaufen, einmal einem spontan rechtsabbiegenden Auto durch Vollbremsung entkommen, einmal durch schnelles Ausscheren auf die Gegenfahrbahn einer aufschlagenden Autotür ausgewichen – zum Glück kam niemand entgegen. (Die Linksradler zähle ich schon gar nicht mehr, wenn sie mich nicht in echte Gefahr bringen.)

Bagels aus der Gefriere mit Frischkäse, Lachs und Kresse zum späten Frühstück.

Abends war ich verabredet und traf mich in der Spezlwirtschaft in Haidhausen. Inzwischen schneite es wieder pappnass, ich nahm die Tram. Sehr angenehmer Abend mit Ratsch (und mit zarten Kalbsbackerln zum Nachtmahl).

§

Schlimme Sache: Mussten die Juden in Deutschland immer schon mit Antisemitismus im Alltag und gewalttätigem Antisemitismus von Rechts fertig werden, kommt jetzt der Antisemitismus von Einwanderern aus dem Nahen Osten dazu:
“Warum hasst ihr mich?”.

Es ist unbestritten, dass Antisemitismus in der arabischen Welt weit verbreitet ist, sagt der Islamwissenschaftler Michael Kiefer. In vielen Schulbüchern sei der Staat Israel nicht einmal auf der Landkarte verzeichnet. Die iranische Fernsehserie Zahras blaue Augen beispielsweise handelt von einem jüdischen Politiker, der palästinensische Kinder entführt, um ihnen Organe zu rauben. Die Serie ist in vielen Teilen der arabischen Welt populär.

(…)

Die Antwort der europäischen Juden auf Anfeindungen war stets, sich kleinzumachen, unsichtbar, in der Hoffnung, dass der Kelch vorübergeht. Lebte ich in Schweden oder in Polen – ich würde es vermutlich genauso machen. Aber ich lebe in Deutschland, dem Land, das vor 80 Jahren den Versuch unternommen hat, die Juden auszurotten.

(…)

Deshalb schreibe ich nun diesen Artikel.
Jetzt, wo er erscheint, wollen Politiker von SPD und Union Flüchtlinge zum KZ-Besuch verpflichten, wenn sie sich antisemitisch äußern, oder sie gar abschieben. Aber geht es ihnen darum, Juden zu helfen? Oder wollen manche nur Flüchtlinge möglichst laut kritisieren?

Hass verschwindet nicht, wenn man ihn sanktioniert. Ein KZ-Besuch widerlegt nicht die “jüdische Weltverschwörung”. Wichtiger wäre es, dass die Politik persönliche Begegnungen fördert. Es ist leichter, “die Juden” zu hassen als einen Menschen im selben Raum.

§

Eins meiner Lieblingsthemen:

In den letzten Jahren erschien eine Flut von Studien und Büchern über die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns: in Psychologie, Ökonomie, politischen Wissenschaften. Ihr Ergebnis ist persönlich eine Beleidigung, politisch ein Schock: Irrationalität spielt bei persönlichen, wirtschaftlichen, politischen Entscheidungen nicht nur irgendeine Rolle, sondern oft die Hauptrolle. Am kürzesten brachte es die britische Hirnforscherin Susan Greenfield auf eine Formel. Sie sagte: «Logik ist das Letzte, was das Gehirn tut.»

Dazu ein sehr langer und sehr lesenswerter Artikel von Constantin Seibt in Republik:
“Demokratie unter Irrationalen”.

Was, wenn der rationale Mensch nur auf dem Papier existiert? Und in Tat und Wahrheit nur eine Art Pressesprecher ist, der im Nachhinein vernünftige Begründungen für Entscheidungen sucht, die sein Instinkt bereits lang vorher getroffen hat?

(…)

Und wie zum Teufel organisiert man eine Demokratie mit pressesprechenden Instinktwesen, die ihre politische Meinung – wenn überhaupt – mit der Geschwindigkeit eines wendenden Öltankers der Wirklichkeit anpassen? Und wie organisiert man die Debatte zwischen ihnen, wenn Fakten und Argumente weit weniger beeindrucken als Ton und Absender?

Sag ich doch. Einfachster Beweis: Dass ich mich trotz dieser Erkenntnis kolossal über irrationales Verhalten ärgern kann.

Sollten sich Historiker einst über das Jahr 2018 unterhalten, wird wahrscheinlich eines der wichtigsten Themen sein, dass liberale und konservative Amerikaner nicht einfach zwei verschiedene Ansichten zur Wirklichkeit haben, sondern zwei komplett verschiedene Wirklichkeiten. Beide ausgestattet mit eigenen Sendern, Zeitungen, Internetplattformen, eigenen Fakten, Experten, Themen, eigenen Statistiken, Prognosen und Thinktanks.

(…)

Klar ist, zumindest, dass Amerika mit dem System von zwei verfeindeten Stämmen nicht gut fährt. Das aus zwei Gründen:
1. Die Hälfte der Leute wird automatisch zu Ihrem Feind.
2. Die andere Hälfte wird Sie erpressen: Sie müssen auch zu unfähigen Clanmitgliedern loyal sein. Sie dürfen eine Menge Dinge weder denken noch wissen noch wissen wollen. Sonst werden Sie vielleicht ausgestossen.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Samstag, 20. Januar 2018 – Schneematschgestöber“

  1. Brigitte Novacek meint:

    ******************KOMMENTAROMAT**********************

    Gerne gelesen

    *******************************************************

  2. Sabine meint:

    An dieser Stelle möchte ich doch gerne Werbung machen für die großartige autobiographische graphic novel „Der Araber der Zukunft“ (bislang in drei Bänden) des nicht minder großartigen Riad Sattouf, in der er seine Kindheit und Jugend in diversen arabischen Ländern, vor allem Syrien aufarbeitet. Das geschieht mit großer erzählerischer Raffinesse und vor allem einem ehrlichen Blick auf Kindheit und kindliche Perspektive an sich (Sattoufs Lebensthema). Die Darstellung des beiläufigen und nicht so beiläufigen Antisemitismus in der arabischen Welt, den der kleine Protagonist durch Spielkameraden kennenlernt, hat mich sehr beeindruckt, weil man durch die Erzählperspektive sehr nah rankommt, ohne je die erschütterte Distanz dazu aufgeben zu müssen.

    Neben „Maus“ und Pénélope Bagieus „California Dreamin‘“ für mich als relativer Anfängerin eins der absoluten Highlights des Mediums.

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