Archiv für Oktober 2005

Hallow day off

Montag, 31. Oktober 2005

Ein freier Tag dazwischen beglückt mich eigenartigerweise viel mehr als ein regulärer Urlaubstag. Diesen heutigen habe ich so richtig genutzt:
Café con leche an Zeitung und Blogs.
– Marsch zur Muckibude.
– Muckis gestählt.
– Einkauf auf dem Elisabethmarkt.
– Rührei mit viel Thymian, dazu Bergkäse und einen Apfel zum späten Frühstück.
– Duschen und Schickmachen für eine Einkaufstour durch die Innenstadt.
– Kakaobohnen in Schokolade bei Götterspeise gekauft.
– Suppenfleisch und Markknochen beim Metzger Schlagbauer besorgt.
– Im Antiquitätenladen eine gute Polsterin erfragt.
– Auf dem Viktualienmarkt ein halb Pfund Hagebuttenmark geholt (wie kann das so billig sein?).
– Dem Mitbewohner an der Isar lustige Bäume gezeigt.
– Dortselbst in der Sonne gesessen.

Ich finde, ich habe den geschenkten Tag genug gewürdigt. Und damit die Berechtigung, den Rest auf dem Sofa zu verbringen und mir die fünfte Staffel Emergency Room reinzupfeiffen. Get me to the the o.r. NOW.

Reste des großen Isarhochwassers. Welchem Haus die Flut wohl diese Matratze entrissen hat?

Isarjogger

Sonntag, 30. Oktober 2005

Wunderschön bunt sind die vielen Laubbäume der Isarauen in München. Morgens um halb neun legt saftiger Nebel Weichzeichner darüber.

Um jede Biegung ein neues, kitschiges Panorama.

Die Haubentaucher schaukeln noch schlafend in ruhiger Strömung, die Stockenten sind bereits hörbar wach.

Viele Isarjogger unterwegs, in sehr unterschiedlichem Tempo. Manche davon mit ausgesprochen inspirierendem Laufstil:
– Dem seine Gelenke müssen ja wohl mit Gummibändern ausgestattet sein, sonst könnten seine Beine nicht so schlenkern.
– Dieser Gugelhupf kennt sonst sicher nur Gewichteheben: Heftig schnaufend mit schweren Bewegungen wirkt er wie eine Dampfmaschine.
– Oh je, so wie die aussieht, fühle ich mich: Jeder ihrer langsamen Schritte löst ein kleines Beben am Boden aus, alles an ihr wabbelt und wackelt im Rhythmus ihres Stampfens.
– Hoppla, der singt ja gar nicht den Refrain seiner Walkman-Musik mit, sondern ruft seinen großen weißen Hund.

Ein Angler in voller Montur aus grünem Gummi überholt mich auf dem Fahrrad, seine Angelausstattung auf Fahrradkorb und Tragetaschen verteilt.

Beobachtung: Wenn der Isarjogger als Pärchen auftritt, trägt das Männchen immer lange Leggins, die engen Hosen des Weibchens reichen allerdings oft nur übers Knie.

Eines der Pärchen ist ein sehr hochgewachsener Er und eine deutlich niedrigere Sie, die einige Meter hinter ihm in eleganten Trippelschritten läuft. Er wendet sich immer wieder nach ihr um, sie fordert ihn zweimal auf: „Lauf doch einfach weiter.“ Er grummelt jeweils Unverständliches, bis sie wütend ausbricht: „Weil ich nicht schneller KANN, verdammt noch mal. Lauf einfach so schnell wie DU kannst und lass mich.“ Ah, schlagartig fällt mir ein, warum ich am liebsten allein laufe, Ski fahre, Schlittschuh laufe, radle.

Möglicherweise habe ich endlich einen Sport-BH gefunden, der die mehreren Pfund Bindgewebe halbwegs zufriedenstellend an meinen Rippen fixiert, ohne dass seine Träger mir blutige Striemen in den Trapezmuskel schneiden.

Mittlerweile habe ich meinen Bergwander-Grüßreflex unter Kontrolle: Isarjogger sind einsame Wölfe, sehen betont beiläufig aneinander vorbei; Grüßen ist komplett indiskutabel.
Als Alternative grüße ich Hundegassiführerinnen: Das geht.
Versuche mich am gezielten Anlächeln hübscher Joggerinnen. Heute zweimal mit Zurücklächeln belohnt worden.

Zadie Smith, On Beauty

Freitag, 28. Oktober 2005

Achtung, (kleinere) Spoiler!

Eine richtige university novel hat sie als dritten Roman veröffentlicht, die wundervolle Zadie Smith.* So richtig in der Tradition von Kingsley Amis, Malcolm Bradbury und – am deutlichsten – David Lodge. Das fängt mit dem Schauplatz an, einer Universität Wellington in New England, setzt sich mit der Gegenüberstellung Großbritannien / USA fort und hört mit der satirischen Beschreibung des akademischen Alltags noch lange nicht auf. Als zentrale Figuren in On Beauty haben wir zwei Professoren aus demselben Fachgebiet (Kunstgeschichte, Rembrandt), aber mit grundsätzlich verschiedenen Ansätzen. Einer davon ist laut und populistisch, anerkannt und erfolgreich (siehe David Loges Morris Zapp), der andere ist verkopft, intellektuell verquast und schreibt seit Jahren an seinem fachlichen Opus Magnum (siehe Phillipp Swallow). Unterschiedliche Bildungsideale treffen aufeinander, (selbstverständlich verschrobene) Assistenten werden ausgenutzt, Studentinnen vernascht, politische Protestaktionen organisiert. So weit, so traditionell.

Doch eigentlich ist alles anders. Denn der rote Faden der Geschichte spinnt sich um die Familie des weißen, englischen Professors Howard Belsey. Und wiederum in deren Zentrum steht seine schwarze Frau Kiki, Amerikanerin aus Florida. Diese Konstellation bildet die Bühne für die alltäglichen Auswirkungen von Stereotypen. Am deutlichsten – und komischsten – wirken sich die mit Hautfarbe verbundenen Stereotypen aus. In der Familie Belsey gibt es drei Kinder, alle dunkelhäutig, alle jugendlich. Da sie in einem noblen Haus in einer noblen Gegend der Universitätsstadt wohnen, muss Tochter Zora vom Vorgarten aus schon mal eine weiße Passantin beruhigen, die ihren jüngeren und als Rapper gekleideten Bruder Levi anstarrt:

„Thank you! Yes, move along now – he lives here – yes, that’s right – no crime is taking place – thank you for your interest!”

Hautfarbe spielt in On Beauty eine so entscheidende Rolle, dass ich bei der Einführung einer neuen Figur immer auf die Information wartete, ob er oder sie nun schwarz oder weiß ist – weil alles Weitere davon abhängen würde. Die drei Belsey-Kinder gehen ganz unterschiedlich mit ihrer Schwarzheit um (und dass sie gezwungen sind, sich damit auseinanderzusetzen, daran lässt die Geschichte keinen Zweifel): Zora ist die liberale und politisch aktive Intellektuelle (die zudem auch noch durch ihr Geschlecht the other ist), Levi, der noch zur Schule geht, wendet sich der separatistischen Rapper-Kultur zu, der älteste Sohn Jerome ist fundamentalistischer Christ geworden. Für ihre Mutter Kiki wiederum kommen die (fremdem und schuldbeladenen eigenen) Stereotypen von Klassenzugehörigkeit und Körperformen dazu.

Die wichtigsten Nebenrollen übernimmt die andere Professorenfamilie, die des schwarzen, britischen und vehement anti-liberalen Monty Kipps. Zwischen seinen Angehörigen und der Familie Belsey entstehen viele, auch unvermutete Verbindungen auf geistiger und menschlicher Ebene.

Das Ganze ist fesselndes Lesefutter auf oberem Niveau. Zadie Smith kann glücklich machen; bei mir reicht dazu schon ein Kapiteleinstieg wie dieser:

Summer left Wellington abruptly and slammed the door on the way out. The shudder sent the leaves to the ground all at once, …

Sie ist für mich eine Geschichtenerzählerin in der Tradition des 19. Jahrhunderts, zu der ich auch Salman Rushdie und John Irving zähle. Noch weniger als schon in ihrem zweiten Roman The Autograph Man tauchen aber in On Beauty die Elemente auf, die White Teeth für mich zu einem Meilenstein machten: das unbefangene, freche Spiel mit Erzählformen, Vorbildern, Traditionen, Kulturen, Topoi. Ich hoffe sehr, dass Zadie Smith das nicht für immer aufgehört hat.

*Romanautoren als Personen interessieren mich ja sonst nur am Rande, aber dieser Frau Smith bin ich verfallen. Vielleicht nachvollziehbar nach der Lektüre des Artikels “Touching up Zadie Smith”, in dem sie über die Verfilmung ihres ersten und brillanten Romans White Teeth erzählt? Da gibt’s auch ein schönes Foto von ihr.

Auf meinem Weg in die Arbeit (28): How to charm me

Dienstag, 25. Oktober 2005

Als ICE-Schaffner freundlich grüßen, einen kurzen Blick auf meine Bahncard 100 werfen, lächeln und sagen: „Dachte ich mir.“

Alles an seinem Ort

Dienstag, 25. Oktober 2005

In Augsburg, gleich neben der Tuberkulose-Meldestelle.

Trotz!

Montag, 24. Oktober 2005

Das Sprachblog schreibt über die Veränderung des Kasus, mit dem trotz konstruiert wird. Ich hatte nie Probleme, sowohl Dativ als auch Genitiv zu akzeptieren, seit ich in meiner Jugend Bachmottetten sang.

Wer jemals in Jesu meine Freude als Zweiter Sopran das Vergnügen hatte, die erste Zuschauerreihe mehrfach mit einem herzhaften „TaROTZ“ anzusprotzen, kennt den Text:

Trotz dem alten Drachen,
trotz des Todes Rachen,
trotz der Furcht darzu!
Tobe, Welt, und springe;
ich steh hier und singe
in gar sichrer Ruh!
(Ganzer Text hier.)

Wir sehen: Genitiv- und Dativkonstruktion friedlich nebeneinander.
Ist eine meiner Lieblingsstellen der Motette, weil’s da so schön stürmisch durch die Stimmen wogt, immer mit dem „TaROTZ“ als Gischt auf dem Wellenkamm.

Mad Hot Ballroom ist da

Montag, 24. Oktober 2005

Blackpool goes Brooklyn.

An sich schon eine originelle Idee, elfjährigen Schülern aus den armen Gegenden New Yorks Turniertanzunterricht anzubieten. Und eine brilliante Idee, einen Dokumentarfilm daraus zu machen. In grobkörniger Super-8-Anmutung zeigt Regisseurin und Produzentin Marylin Agrelo Mad Hot Ballroom, eine Dokumentation über den Weg dieser Schüler zum großen Tanzturnier, in dem die staatlichen Schulen New Yorks gegeneinander antreten, mit Merengue, Rumba, Tango, Foxtrott und Swing.

Im April hatte ich zum ersten Mal davon gehört (und geschrieben), jetzt kommt er in die deutschen Kinos.

Es gibt keinen Off-Sprecher, statt dessen kommen Hintergrundinformationen als Zwischentitel. Die meiste Zeit sprechen die elfjährigen Schüler aller möglichen ethnischen und kulturellen Abstammungen, mal auf Englisch, mal auf Spanisch. Sie erzählen über sich, ihre Träume, ihre Werte, lassen sich über Mitschüler aus – oder erklären mal kurz die Welt (hoher Dingsda-Faktor). Zu Wort kommen natürlich auch Tanzlehrer, Schuldirektorinnen, Lehrerinnen, mit allerdings viel berechenbareren Aussagen. (Vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich so viele Lehrer gut kenne. Ein Außenstehender ist möglicherweise überrascht, wie viel Herzblut und Engagement diese Leute in das Projekt stecken.)

Zwischen den einzelnen Kapiteln immer wieder atmosphärische Bilder aus dem New Yorker Alltag, seinen Leuten, Häusern, Himmeln.

Ganz besonders hinreißend ist alles, was das Tanzturnier von Veranstaltungen wie einer Miniplayback-Show unterscheidet: Das sind alles Kinder – keine Wunderkinder, keine kleinen Erwachsenen. Hin und wieder sieht man echte Begabungen, aber auch die haben gerade erst mit dem Tanzen angefangen – und das merkt man. Wundervoll auch, wie sich die Schüler für die Wettbewerbe fein machen: Selbst Stylingkatastrophen wirken in erster Linie rührend. Wie im Paartanz üblich, werden die kleinen Tänzer konsequent mit „Ladies and Gentlemen“ angesprochen; es ist wundervoll zu beobachten, wie sie das im Lauf des Films verinnerlichen und dann auch ausstrahlen.

Personal issue: Dass dicke Männer gute Tänzer sein können, habe ich selbst ja schon in jungen Jahren erfahren. In Mad Hot Ballroom tauchen zwei ausgesprochen mopsige Buben auf, die dasselbe belegen.

Gerade ich bin sehr versucht zu behaupten, dass Tanzen bessere Menschen macht. Doch da waren diese zwei Dutzend etwa elfjährigen Tanzschulmädchen gestern bei der Preview im Kino, in drei Gruppen: Hübsch zum Gotterbarmen, Schleifchen im Haar, Rüschchen am Röckchen oder am Jeanssaum, kichernd, tuschelnd – die personifizierte Kehrseite des Turniertanzes, ergänzt durch einen Tanzlehrer im dunkelglänzenden engen Hemd, der vor Beginn der Matinee Werbung für Münchner Tanzschulen in ein Mikrophon säuselte.
Doch da diese Kehrseite im Film nicht auftaucht: Hingehen, anschauen.