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19.7.2004 8:22 AM CET
Mariella

„Ach übrigens, morgen kommt Mariella zum Spielen.“

Wenn meine Kinder Freunde einladen, dann stellen sie mich meist vor vollendete Tatsachen.

„Und damit Du’s gleich weißt:
Mariella darf keine Schokolade essen!“

Auf meine Frage, ob Mariella denn allergisch gegen Schokolade sei, oder vielleicht Diabetikerin, schüttelte meine Tochter energisch den Kopf.

„Nein nein, keins von beiden! Ihre Mutter sagt nur immer, dass sie von Schokolade zu fett wird.“

Meine Tochter weiß, was eine Allergie und auch, was ein Diabetes ist.
Eine ihrer besten Freundinnen muss Insulin spritzen und viele ihrer Kumpels sind Allergiker.
Dennoch konnte ich die Antwort nicht so recht glauben, denn ich hatte Mariella schon einmal gesehen (was bei den von meinen Kindern angeschleppten Kumpels nicht immer der Fall sein muss).
Sie war ein zartes, fast schon untergewichtiges Geschöpf, in gepflegten, vollkommen fleckenlosen, mädchenhaften und offensichtlich sehr teuren Kleidchen.
Ihre Körperhaltung verriet, dass sie vermutlich schon seit einiger Zeit Ballettunterricht hatte.
Als sie von ihrer Mutter zu uns gebracht wurde, fragte ich diese, ob es etwas gäbe, was das Kind nicht essen dürfte.

„Süßigkeiten!“,

die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
Auf meine vorsichtige Nachfrage, warum sie die denn nicht essen dürfe, kam tatsächlich, ich konnte es kaum glauben:

„Die machen dick!“

Diesem kleinen spindeldürren Geschöpf, mit seinen erbarmungswürdigen Streichholzärmchen und – beinchen wurde wirklich der Genuss von Schokolade, Keksen und Gummibärchen verwehrt, weil es sonst Gefahr lief, augenblicklich zu dick zu werden?
Als ich den herausfordernden Blick der Mutter sah, beschloss ich, doch lieber die Klappe zu halten.
Die Mutter ging, die Kinder spielten und irgendwann war es Zeit, etwas zu essen.
Während sich meine beiden Kids die Teller mit Spaghetti und Tomatensoße voll häuften, nahm Mariella von allem nur ganz wenig, was sie dann aber brav, gesittet und stocksteif auf der vorderen Stuhlkante sitzend aufaß.
Dabei achtete sie sehr genau darauf, nur ja nicht zu kleckern, so dass sie sehr lange an ihrer Portion mümmelte.
Meine Tochter, die sie, während sie selbst ihre Nudeln in sich hineinschaufelte, die ganz Zeit beobachtet hatte, sah mich mit ihrem „Bitte-sag-jetzt-nichts-Blick“ eindringlich an, schmiss Gabel und Löffel beiseite und griff mit der ganzen Hand beherzt in Spaghetti und Tomatensoße.

„Wir essen manchmal mit den Fingern!“
(Und damit hier keine Missverständnisse aufkommen – die Betonung liegt auf manchmal.)

Ihr Bruder zog sofort mit .Kleckern und Rumsauen ist schließlich sein Metier.
Mariella war irritiert. Ich gab ihr ausdrücklich die Erlaubnis, es den anderen nachzumachen.
Sie schaute mich weiterhin ängstlich an.
Erst als auch ich mein Besteck zur Seite legte, um ebenfalls mit den Pfoten weiter zu dinieren, traute sie sich, sehr zögernd, mit ihren winzigen Fingerchen das Essen zu berühren.

Von diesem Moment an veränderte sich das Kind.
Es war, als ob mit jedem Bissen ein wenig mehr Leben in Mariella kam.
Zuerst entspannte sich ihre Haltung, dann, ganz langsam, auch ihr Gesicht.
Nachdem sie ihre Puppenportion aufgegessen hatte, schaufelte sie sich noch einmal einen ordentlichen Berg Spaghetti auf ihren Teller – Soße wollte sie keine mehr.
Sie hatte Angst, sich zu bekleckern.
Dann aß sie eine geschlagene Stunde (die beiden anderen spielten längst schon wieder) so strahlend und mit einem derartigen Genuss, dass ich ihr einfach zusehen musste.
Zum Schluss stieg sie triumphierend auf den Stuhl, nahm immer wieder eine Nudel in die Hand, um sie dann mit einem wohligen Seufzer vom ganz nach oben gereckten Arm in den Mund flutschen zu lassen.
Zwischendurch schaute sie mich immer wieder fragend an.
Nicht nur, als müsse sie sich rückversichern, dass sie das hier auch wirklich dürfe, sondern auch ein wenig so, als wolle sie sehen, ob ich auch wahrnehme, wie gut es ihr gerade geht und ob ich sie auch weiterhin aufmunternd anlächle.
(Was ich ganz automatisch tat – ihre Freude war so groß, jeder hätte gelächelt!)

Als sie endlich vom Stuhl geklettert und sich wieder hingesetzt hatte, strahlte sie immer noch.
Nicht mehr so freudig-aufgeregt wie gerade eben noch, sondern zufrieden und ruhig, eben...

...“So, jetzt bin ich satt.“

Und irgendwie hatte ich den Eindruck , dass sie das zum ersten Mal wirklich war,

satt!

Dann fiel ihr ein : “Wenn das Mama wüsste!”

Meine Tochter erzählte mir erst Wochen später, sie habe sie damals nur eingeladen, weil sie ihr leid tat. Es wollte keiner mehr mit ihr spielen, weil sie sich, wie sie selbst sagte, aus Angst vor irgendwelchen Bakterien, ständig die Hände wusch.

Sie war zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt.


Leider habe ich dieses Kind, das in der Realität nicht Mariella heißt, aus den Augen verloren. Sie lebt jetzt in einer anderen Stadt, wo sie angeblich eine elitäre Privatschule besuchen soll.


Kommentare: 11 Kommentare

das ist ja zum weinen, was manche Leute ihren Kindern antun.
Gut So! Ab heute essen wir 1 mal in der Woche nur noch mit den Fingern!

wunderschön geschrieben. danke.

Sehr schöne Geschichte. Und das arme Kind!

Das ist ja wieder typisch, diese armen Geschöpfe müssen sich an Privatschulen quälen.
Sowas schimpft sich Elite. Pfui Teufel noch eins.
Ob man nicht doch den Einsatz von .... ?
Bestimmt, ganz bestimmt.
Ein wirklich sehr sehr schöne Geschichte. Vielen Dank.
Das gibt mir Kraft für den ganzen schweren Tag.

Süssigkeiten machen vorallem krank. Dick machen sie auch, wenn man zuviel davon konsumiert.

Und wie diese Geschichte zeigt, macht striktes Süssigkeitenverbot Kinder zu Aussenseitern. Etwas, das sie fast schwerer verkraften als die Folgen von zuviel Süssigkeiten.

On a lighter note: Folgen des Süßigkeitenverbots, eine Geschichte aus meiner Kindheit.

Es waren mal zwei Jungen, die hießen Menno und Benno. Menno und Benno waren Söhne des Schulzahnarzts. Alle Kinder durften Süßigkeiten essen, den Kindern des Schulzahnarzts war es streng verboten. Damit sie das Verbot positiv sahen, versprach der Vater ihnen einen Pfennig für jedes Bonbon, das sie anschleppen.

Die beiden Jungen waren nicht dumm. Zu Karneval, wenn in allen Dörfern der Umgebung Kamelle geschmissen werden, stehen sie mit großen Tüten bereit und sammeln ein, was sie nur können. Alles wird beim Vater abgeliefert.

Es sind einfache, billige Bonbons, aber jedes von ihnen ist einen Pfennig wert. Der Vater zählt und zahlt. Er lobt seine Jungens. Sie werden als einzige Kinder keine Löcher in den Zähnen haben. Braver Benno, braver Menno.

Menno und Benno nehmen das Geld und sagen danke schön Papa. Und dann gehen sie zu Edeka und kaufen richtig leckere Süßigkeiten davon.

Die Moral von der Geschicht, quäle deine Kinder nicht. Nicht mit Fettfüttern, nicht mit Extrem-Askese.

"Quäle deine Kinder nicht."

Danke Lila, besser, treffender und kürzer kann man es kaum auf den Punkt bringen.

Viele, wenn nicht alle psychosomatischen Erkrankungen
ließen sich vermeiden, wenn man Kindern erlauben würde, sich auf ihre eigene Wahrnehmung und Kompetenz zu verlassen. Und das nicht nur in Bezug auf Ernährungsfragen.

Denn Mariella hat sich ja gar nicht den Bauch mit Süßigkeiten vollgeschlagen.Es waren einfach nur
gekochte trockene Spaghetti, die sie mit Genuss verputzt hat.
Ein Genuss, der sie später vielleicht einmal vor vielem schützen könnte, würde man ihn ihr jetzt erlauben.
(Von der Lebensqualität dieser momentan noch kleinen Frau mal ganz zu schweigen.)

Ach du liebe Güte. Hoffentlich wurde da nicht der Grundstein für eine spätere Magersucht, Gelenkverschleiß und Rückenprobleme gelegt.

Einigermaßen unbeschadet entkam ein ehemaliger Schulkamerad dem brutalen Leistungsdruck seines Vaters. Dieser ließ sich von seiner Annahme, daß sein Sohn zum Klaviervirtuosen geboren sei, erst durch die Anwendung von Gewalt abbringen. Im zarten Alter von fünf Jahren begann Olafs [*1*] Martyrium. Als Zwölfjähriger nahm er unfreiwillig an drei Tagen pro Woche Unterricht bei einer merkwürdigen, alten und strengen Schachtel, welche bereits Pension bezog, aber dennoch darauf bestand, mit "Fräulein" angeredet zu werden. Abends kontrollierte der Vater die Fortschritte seines Sprößlings, welche jedoch seinen Anforderungen oftmals nicht gerecht wurden, worauf er sich schließlich dazu durchrang, Mißtöne mittels eines eigens dazu angeschafften Rohrstocks zu ahnden. Drei Jahre später entschloß sich Olaf [*1*] zum heimlichen Muskeltraining. Seine Kräfte wuchsen. Nach einem halben Jahr Eisenstemmen legte er seinen Vater anläßlich einer schmerzhaften Brahmsschen Klaviersonate über das Knie und ließ den Rohrstock tanzen, worauf er Tage später bis zu seinem 18. Geburtstag in einem Internat verschwand. Von einem leichten Erschaudern beim Anblick eines Klaviers und einer Allergie gegen klassische Klaviermusik abgesehen, blieben keine weiteren Schäden zurück.

[*1*] ... Name von der Redaktion geändert.

So ist schon vielen Kindern der Genuss großartiger Musik verhagelt worden.

Eine traurige Geschichte... zumal es auch anders geht, ganz anders...ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen...

Aber Herr Budnase, die "schmerzhafte Brahmssche Sonate" - bei aller Betroffenheit, da musste ich dann doch *prust* LAUT LOSLACHEN..nee, wat isset schön *trän* :-)

OT:Haben Sie vielleicht einen Tipp für mich? Also, seit gestern sitzt ein Pferd in meinem Auto. Wie bekomme ich das da wieder raus? Ich glaube es hat sich in einem der Kindersitze verklemmt - vielleicht ist es aber auch einfach nur stur und will partout nicht aussteigen? Was soll ich denn jetzt machen, Herr Budnase, kennen Sie sich mit sowas aus? ;-)

@pepa: Nicht wirklich. Ein paar Karotten könnten das Tier aus dem Wagen locken. Wie ist es denn dort hineingeraten?

@Knut Budnase:
Also...
das war so...
;-)