Bachmannpreis 2011, der Samstag

Samstag, 9. Juli 2011 um 16:58

Anlasslos Kopfweh und steinerne Müdigkeit – aber der dritte Vorlesetag war erheblich leichter zu nehmen als der Freitag. Beim Schlangestehen vor dem Klo fassten Frau Sammelmappe und ich den Vormittag zusammen mit: Mehr Wessi geht nicht, mehr Ossi geht nicht. Der Nachmittag wiederum hinterließ eine Lache Testosteron und Sperma.

Diesmal war ich früh genug da, um von Anfang an einen Sitzplatz zu bekommen – auch wenn im nahezu leeren Zuschauerraum fast alle Stühle durch abgelegte Gegenstände reserviert waren. @engl und ich beschlossen, nächstes Jahr einen Stand mit Bachmannpreis-Merchandising in den Garten zu stellen, an dem wir auch Handtücher zum Stuhlbelegen anbieten würden. Am liebsten wäre mir aber, wenn man einen Sitzplatz ausschließlich durch das Absetzen des eigenen Hinterteils reservieren könnte.

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Ich lese im Programmheft, dass Leif Randt (vorgeschlagen von Sulzer) bereits eine „Fitnesscenter-Erzählung“ und eine Nominierung für den „Plopp!-Hörspiel-Award“ vorweisen kann und befürchte große Albernheit. Doch sein „Schimmernder Dunst über CobyCounty (Auszug)“ ist nicht albern. Am Anfang machen mich die Zitate erwartbarer Klischees noch misstrauisch, doch schnell fügen sie sich beim Zuhören in die realistische Glattheit und Oberflächlichkeit des Schauplatzes ein, auf dem sich die Wohlstandskinder von Eltern in Kreativberufen bewegen. Randt sieht ein paar Mal beim Vorlesen sentenzhafter Passagen betont romantisch nach oben rechts (mindestens zwei Mal, meist nahm mir eine Kamera die Sicht), einmal hebt er die Faust sekundenlang. Passt ebenfalls zum mehrfach fiktional gefilterten Inhalt.

Erst jetzt sehe ich, dass dem vorgelesenen Text ein Dramatis Personae vorausgeht und dass die wörtliche Rede kursiv gesetzt ist.

Winkels hat einen „schönen, gelungenen Auftakt“ bekommen. In der Welt des Textes seien „alle Höhen und Tiefen wegoperiert“, alles Schmerzliche sei verschluckt. Er sieht eine „All-Age-Wellness-Kultur“ dargestellt, die unsere Lebenswelt trifft, findet den Text „äußerst gelungen“. Strigl stellt die Verbindung zum Film The Truman Show her, spricht von Selbsthistorisierung, „retrospektiver Trendforschung“, weist auf die Schilderung von Literatur hin, die eigens für diese Welt gezüchtet wird, auf die „kapitalistische Utopie des neuen Menschen“. Doch Feßmann sieht sich provoziert: Der Elterngeneration werde vorgeworfen, sie sei so entspannt, dass nur die Melancholie als Gegenbewegung übrig bleibe. Sie schimpft, das Generationenthema sei inzwischen ein Marketingthema und appelliert, die Provokation anzunehmen, indem man den Text nicht schön finde. Jandl weist auf den Gebrauch der Zitate hin: Eltern, Gefühle, die eigene Geschichte würden in Anführungszeichen präsentiert. Doch seiner Meinung nach fällt der Text in seiner Künstlichkeit zusammen.

Keller ist sich sicher, dass der Kern der Geschichte in der Oberfläche liegt: Es gebe nur noch Erfolg, der Einbruch von Authentizität habe keine Chance: „Sekundärleben durch und durch.“ Winkels sieht eine „Dystopie im Gewand der Utopie“ und weist darauf hin, dass irgendjemand für dieses Wohlstandsleben zahlen muss. Sulzer unterstreicht die durchaus vorhandenen Irritationsmomente der Geschichte (Bad zu dritt, Vorahnung der neospiritualistischen Mutter), sieht darin Vorboten eines Zusammenbruchs dieser Gesellschaft. Strigl fürchtet sich vor dieser Welt, in der jemand am allerstolzesten auf den Umstand ist, dass er noch nie Yoga gemacht hat – und findet die Geschichte genau deshalb gut.

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Anne Richter wurde von Keller empfohlen und kommt aus dem Osten Deutschlands. Ihr „Geschwister“ nimmt uns in die Tristesse einer thüringischen Kleinstadt inklusive geschlossener Fabrik. Ich bekomme bis zuletzt keinen Zugang zur Hauptperson Ruth, doch es tauchen interessante Figuren auf, mit hochemotionalen Szenen, unerklärt. Jajaja, die klaftertiefen Lücken schließen sich wahrscheinlich im Fortlauf des Romans, doch ich habe es langsam satt, einen Text auf Basis von Spekulationen über einen anderen Text rezipieren zu müssen. Dann sollen sie doch gleich erst mal die Autorin ihren Text erklären lassen.

Es beginnt eine erstmals richtig kontroverse Diskussion in der Jury, Keller vermutet: „Vielleicht liegt es am Solidaritätsbeitrag.“ Sulzer nennt den Text „gut gemacht“, eine Rückkehr zu den Wurzeln, eine Recherche ohne Ergebnis. Doch er interessiere ihn nicht so richtig. Laut Strigl hätte man mehr aus dem „konventionellen Ausgangspunkt“ machen müssen (nämlich einer Beerdigung), für sie ist die „ausgesprochen dünnflüssige, blutende Familie“ nicht stringent. Feßmann mag den „leisen Text, dessen Qualitäten man leicht übersieht“, ihr hat gefallen, wie der Bruder die Mutterrolle übernimmt. Winkels widerspricht: Der Text sei viel eher „schrill“, er findet die Verwendung von Leerstellen misslungen. Ganz anders Keller, für die Richter erzählen kann, „in Pastellfarben, in Grautönen“, emotionslos, aber nicht herzlos. Sie sieht eine Geschichte über zwei Geschwisterpaare – und die Beziehung zu Geschwistern sei meist die längste, die man im Leben habe. Das Thema DDR hält sie für unwichtig.

Spinnen sieht den Tod als zentrales Motiv, eine sterbende Region, „familiäres Zerbrechen“. Er rechnet dem Text hoch an, dass er dies diskret verarbeite, nicht allegorisch, doch „ganz gelungen scheint es mir nicht zu sein“.

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Nun zur Testosteronschlacht des Tages (ich saß in der zweiten Reihe und spürte schier meinen Damenbart sprießen). Michel Božiković (der französische auszusprechende Vorname kollidiert mit dem Nachnamen) präsentiert sich in einem Filmchen nach eigenem Konzept, von dem ich schnell wünsche, er möge als Witz gemeint sei: Japanischer Kampfsport, Segeln, „ich mag Herausforderungen“. Sie ahnen es: Das war kein Witz. Denn Božiković rast anschließend mit vielen Verhasplern durch seinen Text „Wespe“ mit Jean-Claude Van Damme in der Hauptrolle. Sprachliche Besonderheit: Die Man-Perspektive. (Wobei ich es durchaus begrüße, dass ein Autor Farbe in die Literaturbräsigkeit bringt, indem er schier Motoröl im Gesicht hat und Steaks nur blutig isst.)

Daraus versucht Keller später in der Diskussion das hohe Niveau der Geschichte zu zwirbeln: Es gebe gar keine Figur, nur eine Maske. Und dieser entsprächen sowohl Handlung als auch Sprache. Es handle sich um ein Bewusstseinsexperiment in einer Extremsituation.

Davor hat Winkels kritisiert, dass diese „spannende Männerunterhaltungsstory“ auf einem konstanten Höhepunkt erzählt werde, von dem sie nie herunterkomme. Er verwendet das Wort „abgeschmackt“. Sulzer wählt die Ausdrücke „überorchestriert“ sowie „ständiges Fortissimo“ und bietet dann an, dass es sich ja vielleicht um die „Imagination eines Jungen mit jugoslawischem Hintergrund“ handle, der in Wirklichkeit garade auf einer Schweizer Autobahn dahinrase, um am Ende auf einem Parkplatz zwischen Winterthur und Zürich Rast zu machen. Feßmann schlägt als alternativen Titel „Der Macho mit der Wespe“ vor, die Sprache hat sie an die Jugendbücher der 50er erinnert. (Strigl von links: „Nicht-österreichische Jugendbücher!“)

Strigl bemüht Nestroys Einen Jux will er sich machen: Da wolle auch jemand mal so richtig ein verfluchter Kerl sein. Sie verweist auf die Flüche und den Jargon aus deutschen Synchronfassungen amerikanischer Actionfilme – das habe jeden Versuch zunichte gemacht, den Text zu mögen. Jandl vermutet den Intelligenzquotienten der Hauptfigur auf dem Niveau der quietschenden Autoreifen. Die ganze Jury bemüht sich herauszufinden, was den Helden überhaupt dorthin gebracht hat und motiviert (Deserteur? Söldner?).

Keller entschuldigt die Leerstellen damit, dass der Text ja der Anfang eines Romans sei. Vielleicht, gesteht Spinnen zu, habe Božiković einfach den falschen Ausschnitt aus dem Roman gewählt und lobt die Darstellung eines Menschen zwischen allen Fronten. Doch, so Spinnen, „mit der Literatur ist es wie mit einer Suppe: Man muss den Löffel an jeder Stelle eintauchen können und muss von allem etwas schmecken“.

Vielleicht mögen Sie sich ja zur Erheiterung die Verlagsbeschreibung des resultierenden Romans ansehen? (via innere_simone)

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Zum Schluss noch eine Runde Porno. Thomas Klupp, der seinem Autorenfoto so wenig gleicht, dass er einen Bruder hätte schicken können, liest „9to5 Hardcore (Romanauszug)“, vorgeschlagen von Winkels.

Nachdem wir zumindest am Morgen von Randt zum ersten Mal in dieser Bachmannpreisrunde von SMS und E-Mail gehört hatten, sind wir jetzt ganz im Heute gelandet: Internetpornografie. Die Geschichte ist ungewöhnlich und witzig, ohne die ganz billigen Pointen zu bemühen. Das Publikum lacht und gluckst viel, wird aber – wie ich – im letzten Viertel müde und unruhig. Für mich ist mit einem recht drastischen Mittel eine gesellschaftliche Stimmung getroffen, geisteswissenschaftlicher Relativismus aufgespießt.

Und wieder ist die Jury fast exakt meiner Meinung. Feßmann mag den witzigen Text, die „Persiflage auf die Kulturwissenschaft, auch auf eine Generation, die alles macht, was man von ihr verlangt.“ Doch sie bemängelt die Abnutzung der Effekte am Ende. Keller sieht einen Mann, der sich auflöst, versteht aber nicht, warum er auf seiner Stelle bleibt. Jandl hat sich irgendwann gelangweilt, findet den Text „literarisch eine Petitesse“ (der ist heute eh kaum zu hören – geht’s ihm nicht gut?), Strigl diagnostiziert aber eine Ausbeute aus dem Zusammenprall von hehrer Wissenschaft und Pornografie. Das Mittel: Das Verbotene wird zum eigentlichen Arbeitsfeld gemacht. Außerdem ist sie begeistern über die Satire auf den Universitätsbetrieb: Dort arbeite sie ja, und es gehe genau wie beschrieben zu, wenn nicht noch schlimmer. Dann, meint Spinnen, sei sie doch gar nicht gut, die Satire, wenn sie an die Realität nicht heranreiche (er verweist auf Karl Kraus). Doch er lobt die Struktur des Textes, die eine Aura schaffe, in der „alle lebensweltlichen Abgründigkeiten konserviert“ würden.

Sulzer rügt faktische Widersprüche im Text, Winkels fand ihn beim Hören immer weniger witzig. Es folgt eine Nebendiskussion über Datenerhebung in der Wissenschaft.

Fast im Rauslaufen behauptet Spinnen, als Feigling nicht diskutieren zu wollen, ob „Texte, über die man lachen kann, gute Literatur sind“. Es müsse zumindest eine bessere Welt durchschimmern – und das täte sie hier nicht.

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Aus, Amen. Mir haben die Jury-Diskussionen sehr gut gefallen, die Perspektiven waren fast immer bereichernd. Und jetzt mache ich mich fertig fürs Bachmannwettschwimmen im Wörthersee.

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Bachmannpreis 2011, der Samstag“

  1. Sammelmappe meint:

    Der Hinweis zur Romanbeschreibung sollte mit Warnzeichen versehen werden. Es könnte sein, dass er Menschen zum Weinen bringt.

  2. Nathalie meint:

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    Gerne gelesen

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  3. Gaga Nielsen meint:

    Leif Randts Lesung „Schimmernder Dunst über CobyCounty” tatsächlich bis zur Hälfte ohne Abschalt-Reflex angehört. Virtuose Beschreibungen aus der Mitte des Wellness-Zeitalters. Aber weil das ja, wie der eine Herr aus der Jury zugab, nicht über vierhundert Seiten so weiter gehen kann… er hat das auch sehr gut gelesen, so gut, dass man aufhört, über den Lesenden nachzudenken und sich in den Text fallen lassen konnte. Ausnahmeerscheinung. Die Diskussion im Anschluss auch hörenswert. Auch sein Portraitfilm. Jetzt tut es mir umso mehr leid, nicht die Texte der anderen so gut gelesen verfügbar zu haben. Mich hätte zum Beispiel durchaus der Text von Julya Rabinowich interessieren können, was ich erst feststellte, nachdem ich die Diskussion verfolgte. Beim nochmaligen Versuch, in die Lesung zu gehen, wieder abgeschaltet. Sie bleibt zu stark im Vordergrund. Ich hätte mehr davon gehabt, wenn sie in ihrem schweren Österreichisch ein Heurigen-Lied gesungen hätte. Aber wie wir ja schon gehört haben, ist das nun einmal das Konzept dieser Veranstaltung, dass die angehenden Berufsschreiber versuchen ihre Texte vorzulesen.

  4. andreaffm meint:

    Sehr richtig, Frau Sammelmappe. Ich weine nämlich gerade.

  5. Nana Gaussmann meint:

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    Gerne gelesen

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  6. Tanja meint:

    Ich find’s immer schlimm, Bloggerinnen zur Berichterstattung zu nötigen – aber es ist schon sehr angenehm für mich, dass ich mich in Schulschlusszeiten nicht auch noch um den Bachmannpreis und dessen Umfeld zu kümmern brauche, weil ich auf der Vorspeisenplatte alles vortreffliche arrangiert serviert bekomme. Vielseitig und bekömmlich. Herzlichen Dank dafür.

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