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Journal Freitag, 13. Juni 2025 – Abend im Dantler / Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen

Samstag, 14. Juni 2025

Zu früher Wecker, ich hatte gerade besonders schön geträumt. Aber mir fiel gleich meine Abendverabredung mit Herrn Kaltmamsell ein und munterte mich auf: Dieser Freitagabend sollte im Dantler gefeiert werden. Draußen der vorhergesagte Sommermorgen mit herrlichem Licht.

Marsch in die Arbeit in Morgenfrische und leichtem Lindenduft, in der Arbeit ordentlich Arbeit.

Auf auf dem Weg zu meinem Mittagscappuccino war es lediglich angenehm warm, wieder genoss ich die Luft.

Zu Mittag gab es reichlich Aprikosen, außerdem restliche Nektarinen und Flachpfirsiche, davor eine Hand voll gemischte Nüsse als magenschonende Unterlage (klappte nur ein bisschen). Für Freitagnachmittag war es dann auf meinem Schreibtisch überraschend emsig, doch ich kam pünktlich wie geplant in den Feierabend.

Linden-Party an der Heimeranstraße.

Nach Hause ging ich über einen Umweg in der Innenstadt für Komplettierung Geburtstagsgeschenke, am Samstag sind wir bei meiner Familie zu Geburtstagskaffeeundkuchen eingeladen.

Daheim kurzer Schuh-Wechsel: Ich nutzte die Gelegenheit, die edlen Hochzeitsschuhe vom Vorjahr auszuführen.

Nach Obergiesing zum Dantler nahmen wir die Tram statt die U-Bahn, um mehr vom Sommerabend mitzubekommen: Die Isarauen bunt vor Menschen, den Giesinger Berg rauf jede Kneipenmöglichkeit genutzt.

Im Restaurant wurden wir herzlich begrüßt. Da ich mich auf die Weinbegleitung zum Menü freute, ließ ich mir lieber einen alkoholfreien Aperitif mixen: Schön herb mit Grapefruit und Bitter Lemon, Herr Kaltmamsell hatte einen mit Hollunder.

Und dann begann das große Schlemmen.

Salade mediterranée mit Artischocke, angeschmorten Datteltomaten, herzhafter Ricotta und Basilikum – das wurde gleich mal mein Lieblingsgang. Dazu gab es einen ganz jungen Gelben Muskateller Zweytick aus der Steiermark, überraschend herb.

DIE KAROTTE (muss immer dabei sein) kam diesmal gegrillt mit Salzzitrone und Zitronenverbene. Im Glas der letzte spontanvergorene Giesinger Berg von Claus Preisinger aus Gols – wir erfuhren, dass es auch einen Nachvolger geben wird.

Auch den optionalen Zwischengang wollten wir: Seeforelle mit Teriyaki, Senfsaat und Sesam – ganz hervorragend, und die Begleitung durch einen Grauburgunder Dreißigacker aus Rheinhessen zauberte zusätzliche Geschmacksnoten hervor.

Forelle in Mandelbutter kross gebraten mit Radi und Gingerbeer-Sud, dazu einen weiteren “Giesinger Berg”, aber als Weiß- und Grauburgunder-Cuvée von Zweytick.

Zum Onglet mit Spargel gab es einen interessanten Lagrein Riserva Cantina Terlan aus Südtirol.

Als Pre-Dessert wie immer im Mini-Weizenglaserl und mit Brause-Körndln drauf: Erdbeere.

Weiße Schokolade, Himbeere, Mandeleis – ganz wunderbar. Der Wein dazu passte nicht recht, war aber für sich ein Knaller: Riesling Kabinett “Limestone” von Keller aus Rheinhessen – kaum Restsüße, mit prickliger Säure. Wir überlegten mit Wirt Jochen Kreppel, womit man ihn noch kombinieren könnte, Jochen kam auf den wahrscheinlich besten Vorschlag: Leberwurst. Würde ich definitiv probieren.

Auf Espresso hatten wir beide keine Lust, ließen uns statt dessen Vogelbeerschnaps einschenken.

Spaziergang zurück zur Tram durch warme Sommernacht, statt zehn Minuten zu warten spazierten wir auch den Giesinger BergNockherberg runter zum Halt Mariahilfplatz, überall nächtliches Feiervolk, die Nacht genießend.

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Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen

Wieder ein Roman über eine türkische Gastarbeiterfamilie aus der Perspektive der zweiten Generation, und wieder ganz anders als alle, die ich bislang gelesen habe.

Hier sind wir in einer deutschen Industriearbeitergegend, Opel-Land. Der Vater ist ein verantwortungsloser Hallodri, der sich ständig in neue “Geschäfte” stürzt, die alle kein Geld abwerfen, sondern die Familie immer höher verschulden. Um sie zu ernähren, geht die Mutter Fatma in die Fabrik arbeiten, und um die Schulden abzuzahlen, nimmt sie einen zweiten Job als Erntehelferin an, organisiert unter den türkischen Einwanderinnen mit ähnlich nichtsnutzigen Ehemännern einen richtigen Erntehilfe-Trupp – natürlich ohne Arbeitnehmerinnenrechte zu kennen und in entsprechend ausbeuterischen Umständen.

Doch wer kümmert sich um die Kinder, ihre beiden kleinen Söhne, nach denen sie sich so sehr und so lange gesehnt hatte? Ihre alte Mutter wird aus der Türkei geholt, um auf die beiden aufzupassen, während Fatma Geld verdient. Ich hatte sofort die alten türkischen Frauen vor Augen, über die im Ingolstädter Arbeiterviertel meiner Kindheit am hässlichsten gelästert wurde: Offensichtlich bäuerlicher Herkunft, für einheimische Augen schlampig gekleidet, sprachen kein Wort Deutsch, konnten weder lesen noch schreiben – doch hatten sie sich sicher nicht ausgesucht, in kompletter Fremde zu leben, ohne Kontaktmöglichkeiten. Sie kamen halt wie ihr ganzes Leben zuvor ihrer Pflicht nach, weil jemand auf die Kinder aufpassen musste. Pflichtbewusstsein wie Queen Elizabeth II, die sich ihren Lebensweg auch nicht ausgesucht hat, show some respect!

Dann wieder tauchen im Roman bekannte Umstände auf: Das Gastarbeiterkind, das im Kindergarten sein erstes Deutsch lernt – und fortan von den Erwachsenen überallhin als Dolmetscher mitgenommen wird (“wie eine Aldi-Tüte mitgeschleppt”). Oder der Druck, in der Heimat als erfolgreich dazustehen – mit Geschenken und Geschichten.

Aber diese Zusammenfassung wird dem Buch nicht gerecht. Die faktische Handlung und Geschichte ergibt sich nämlich aus einer Vielzahl von Einzelteilen in kurzen Texten, mal aus der Perspektive von Fatma, mal aus der ihres Sohnes, mal als Geschichte, dann als Lamento, als Gedicht, als Lied. Dazu kommen Fotos aus dem Familienalbum.

Am meisten erfahren wir über die Personen nicht aus Selbstaussagen, sondern aus denen übereinander. Von Fatmas Lieblingsschauspielerin erzählt Dinçers, wie in sich gekehrt Dinçer ist, beschreibt seine Mutter – die unter anderem deshalb enttäuscht von ihm ist und fürchtet, er würde wie sein Vater; dabei ist irrelevant, dass er schon als Kind aus eigenem Antrieb zum Lebensunterhalt der Familie Geld verdiente. Die ewige Tragödie von Kindern, die einfach nicht sind, wie ihre Eltern sie gerne gehabt hätten, Schmerz und Leid auf beiden Seiten. Und dann zieht es Dinçer auch noch zur Literatur mit immer dickeren Klassikern, zum Theater, auch wenn er in der Fortsetzung des mütterlichen Pflichtbewusstseins seine Lehre in der Fabrik abschließt.
Die Stimme des Vaters liest man bezeichnenderweise nicht, er hat eh nur gestört.

Und wie so oft bei erfolgreichem Ausbruch aus Fremdbestimmtheit gibt es auch hier einen Deus ex machina, Dinçer lässt ihn spät im Buch auftreten.

Dinçer Güçyeter kommt eigentlich aus der Lyrik und aus dem Theater, das ist offensichtlich. Und es liegt nahe, den Roman (?) auf der Bühne zu inszenieren, wie es gerade das Gorki-Theater macht.

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Zum Deus ex machina von Dinçer Güçyeter passt der jüngste Post von dasnuf (ich freue mich ungemein, dass sie wieder bloggt; einige der besten Blogposts aller Zeiten stammen von ihr – “ACHETUNGE! ACHETUNGE!”). Sie besucht gerade wichtige Kontakte aus ihrer Vergangenheit, lesen Sie bitte selbst die geniale Grundidee.

Vergangene Woche war Patricia in
“Forchheim”.

Mit 17 hat mich meine Mutter auf die Straße gesetzt. Die Zeit davor war auch nicht gerade harmonisch. Die Orte zu sehen, verbindet mich mit meiner Vergangenheit und es schmerzt wie einsam und unverbunden mit der Welt ich mich früher gefühlt habe.

Ich erkenne im Nachhinein, dass ich nie alleine war. Ich hatte so viel Unterstützung auf meinem Weg.
Die Eltern einer Freundin, die mir eine Wohnung organisiert haben. Die Frau, die mir diese Wohnung damals für 100 DM vermietet hat, damit ich mein Abi machen kann. Der Freund, der mit mir gebrauchte Geräte gekauft hat, um meine neue Wohnung auszustatten. Der Bio-Lehrer, der mich den ganzen Sommer mit Gemüse aus seinem Garten versorgt hat, damit ich immer genug zu essen habe.

Ich hasse deswegen diese neoliberalen Sprüche, dass man sich im Leben nur anstrengen muss, dann würde alles gelingen. Nein, das Anstrengen alleine bringt gar nichts, man braucht auch Glück und Unterstützung.

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Hier kann ich schön die gestrige Folge von “Reden wir über Geld” der Süddeutschen Zeitung anlegen (€):
“‘Ich spare wie ein Deutscher'”.
Das sagt Autor und Tiktoker Tahsim Durgun, der mit Mama, bitte lern Deutsch einen Bestseller geschrieben hat (steht schon auf meiner Leseliste) und sein Lehramtsstudium derzeit pausiert – vorübergehend geschlossen wegen Erfolg.

Journal Donnerstag, 12. Juni 2025 – Beinhaarärger

Freitag, 13. Juni 2025

Gerne hätte ich länger als bis Weckerklingeln geschlafen. Aber irgendwo muss ja die Miete für die schöne Wohnung herkommen, also aufstehen für Erwerbsarbeit.

Draußen ein wolkenlos sonniger Sommertag, so früh noch ganz schön frisch.

Arbeitsvormittag verhältnismäßig eng getaktet, ich schaffte ordentlich was weg.

Mittagscappuccino bei Nachbars – diese Tage sind gezählt, kürzlich ging die offizielle Info rum, dass wir ab 1. September wieder eine eigene Cafeteria im Haus haben. Allerdings tun mir die Mittagsmärsche ins Westend wirklich gut; ich nehme an, dass ich die beibehalte.

Lang herbeigesehnter Termin in der Mittagspause: Beinenthaarung. Ich marschierte in perfektem Sommerwetter (im Schatten so kühl, dass die Sonne angenehm wärmte) 20 Minuten dorthin, wurde begrüßt – und dann wartete ich. Und wartete. Und wartete.

Leider schaffte ich es nicht, umzuschalten auf Neugier, wie lange sie mich diesmal warten lassen würde, außerdem war meine Mittagspause durch einen Termin begrenzt: 16 Minuten nach gebuchtem Termin ging ich (sehen Sie, wie ich extra eine Minute aufs akademische Viertel drauflegte?) und werde nicht wiederkommen. Das war das eine Mal zu oft, dass ich trotz Termin lange warten musste: Mal weil Walk-In-Kunde, mal weil Vortermin länger, mal weil Doppelbuchung, und diesmal verschwand sie einfach im Nebenraum. Es war lediglich eine Frage der Zeit, bis ich einschnappte.

Und ich hatte richtig kalkuliert: Die SMS mit Erkundigung, wo ich sei, kam eine halbe Stunde nach vereinbartem Termin. Bye bye enthaarte Beine, zurück zum Rasieren.

Bei Ankunft am Schreibtisch hatte der Ärger den wenigen Appetit gefressen, den ich an Arbeitstagen überhaupt aufbringe. Doch irgendwann musste ich ja was essen, das waren dann Nektarinen, Aprikosen (sensationell), Flachpfirsiche und ein Restl Sojajoghurt. Dem Magen gefiel die Steinobst-Flut nur so mittel, aber leer hatte er ja auch gezwickt. Und wackelig schwindlig war ich nachmittags trotzdem, zefix.

Nach Feierabend mit der U-Bahn zum Odeonsplatz, Geburtstagsgeschenk besorgen. Tatsächlich bekam ich fast alles, was ich wollte. Es war wärmer geworden, aber immer noch nicht heiß, sondern angenehm.

Fürs Abendessen war ich zuständig (Basis: Ernteanteilsalat), doch ich sehnte mich arg nach einer Einheit Yoga-Gymnastik – auch wenn es dadurch später als sonst Abendessen gab.

Aufsicht auf eine weite Salatschüssel mit grünen Blättern, Streifen gelber Paprika, Tomatenachtel, Vierteln gekochter Eier

Mit Joghurtdressing, außerdem zugekauften Tomaten, Paprika, Eiern. Dann noch Käse, Nachtisch Honigwaffeln, Fruchtgummi, Schokolade.

Im Bett neue Lektüre: Nach Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen (gefiel mir gut, darüber möchte ich noch schreiben) was ganz Anderes, nämlich Science Fiction in Form von Becky Chambers, The Long Way to a Small, Angry Planet. Der ging schonmal gut los, nämlich indem die Geräusche auf dem Raumschiffs aus der Perspektive des Besitzers beschrieben wurden, durchaus mit technischer Note (die schön indirekt Information transportierte).

Journal Donnerstag, 5. Juni 2025 – #WMDEDGT? mit einem Streetart-Memorial

Freitag, 6. Juni 2025

Frau Brüllen fragt an jedem 5. im Monat: “Was machst Du eigentlich den ganzen Tag?” -“WMDEDGT?” – und sammelt die Antworten diesmal hier.

Der sehr frühe Wecker rettete mich aus Angst mit schnell und hart schlagendem Herz: Erleichtert stand ich auf für Milchkaffee, Fertigbloggen, Zähneputzen, Katzenwäsche, Laufkleidung, Morgenkaffee für Herrn Kaltmamsell, Bankstütz. Und dann lief ich an die Isar.

Wie vorhergesagt, regnete es ein bisschen (die Unwetterwarnungen waren bereits vor Mitternacht aufgehoben worden). Doch da die Luft mild war, brauchte ich als Regenschutz lediglich meine Schirmmütze und ließ mich in hin und wieder von Regentropfen feuchtregnen.

Asphaltierter Weg durch Park mit dichten Bäumen

München ist ordentlich.

Ich war oft an ihm vorbeigelaufen, der Herr hatte es sich in der Unterführung der Brudermühlbrücke mit viel Ausstattung häuslich gemacht. Doch irgendwann standen Kerzen am Ort der Häuslichkeit. Heute entdeckte ich, dass Streetart die Unterführung in ein Memorial für ihn verwandelt hat.

Das fand ich sehr rührend.

Die gut 70 Minuten Lauf waren genau richtig, ich fühlte mich gut durchbewegt und erfrischt.

Zackiges Duschen, Körperpflegen, Anziehen, gegen das regnerische Wetter schlüpfte ich für den Marsch in die Arbeit in meinen Kapuzenmantel.

Über den Vormittag regnete es vorm Bürofenster immer wieder kräftig, gut so. Ich schaute nach einem Friseurtermin, denn ich fühle mich bereits ziemlich eingewachsen. Doch Herr Friseur macht erstmal zwei Wochen Urlaub – mal sehen, ob ich durchhalte oder einfach irgenwohin gehe.

Zum Mittagscappuccino unter Kapuze, die musste aber lediglich Tröpfeln abhalten.

Emsigkeiten bis Mittagessen, dann gelbe Kiwi sowie Hüttenkäse mit ein wenig Leinsamenschrot.

Nachmittags unter anderem jemandem etwas beigebracht, vermutlich mit deutlich zu vielen Details für echtes Hängenbleiben. Na gut, war eh die erste Stufe: Zeigen und Zugucken. Die nächste Stufe Selbermachen, während ich zugucke – die kommt ja noch.

Ich bekam meinen zweiten Bildschirm und eine Einführung. Und stellte sehr schnell fest: Wie geil ist DAS denn!

Fürs Abendessen war ich zuständig. Ich nahm eine U-Bahn zum Marienplatz, um am Viktualienmarkt beim Tölzer Kasladen noch etwas zum geplanten Ernteanteil-Salat zu kaufen. Ich musste ein wenig in der Schlange warten, tat das aber zum einen gern, weil ich das flinke, aber immer aufmerksame und zugewandte Personal schätze, zum anderen weil mir das Zeit zum Umschauen gab. Als ich drankam, erfuhr ich auch Trauriges: Den Donauwörther Landkäse gab es derzeit nicht, weil die Käserei Opfer des schlimmen Hochwassers vor genau einem Jahr wurde und jetzt erst wieder aufgebaut wird.

Abstecher in den Eataly für italienische Nektarinen aus Direktimport. Daheim Yoga-Gymnastik, dann richtete ich das Nachtmahl an.

Es erwies sich, dass Nektarinen hervorragend zu Stilton passen. Das Abgefahrenste auf dem Käseteller war allerdings der noch unreife Graukäs, der aussah wie verschiedene zusammengepappte Käsebrösel. Nachtisch Schokolade.

Im Bett neue Lektüre: Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen – gleich mal von den poetischen Erzähltechniken überrascht worden.

§

Nature writing hat in der englischsprachigen Literatur eine lange Tradition, immer wieder gibt es auch Ausgaben zu diesem Thema vom Literaturmagazin Granta. Meist geht es in irgendeiner Weise um die intensive Begegnung eines Menschen mit einem heimischen Tier, um die Auswirkungen dieser Begegnung auf die Einstellung des Menschen zu Natur und um die Reflexion dessen. Ich würde aber auch den Roman Watership Down ganz ohne Menschen in diese Kategorie einordnen. Warum gibt es wohl in dieser Ausprägung keine deutschsprachige Tradition? Tiergeschichten wie die von Felix Salten sind ganz anders.

Gleichzeitig kommen deutsche Übersetzungen von typischen Vertretern dieses nature writing in Deutschland sehr gut an, H is for Hawk von Helen Macdonald war auch als H wie Habicht ein Bestseller (Empfehlung, ist wirklich gut). Jetzt also Chloe Dalton, Raising Hare, deutsch Hase und ich (nein, mir fällt kein besserer Titel ein – schade, dass auch niemandem bei Klett-Cotta). Während der Corona-Einschränkungen lebt die beruflich sehr umtriebige Chloe in ihrem Haus auf dem Land. Sie stößt in dessen Nähe auf einen verwaisten Junghasen – und nimmt ihn nach einigem Zögern mit. Das Buch schildert, wie sie das Junge durchbringt, sehr bemüht darum, dem Wildtier das Wildsein zu lassen: Chloe gibt ihm keinen Namen, streichelt es nicht, fasst es nur notfalls an. Sie liest sich tief ins Hasentum ein, in historische Perspektiven, in seine Rolle im Ökosystem. Und sie schildert ihre Beobachtungen des Tiers – im Bewusstsein, dass sie ihm dafür so nahe kommt, wie es nur selten Menschen vergönnt wird. Natürlich macht das etwas mit Chloe, verändert sie durch Einsichten und Erlebnisse.

Das war für mich ungemein spannend und anrührend zu lesen, ich lernte viel. Lese-Empfehlung, auch wenn das letzte Kapitel überflüssig ist und den Haugout von Seitenschinden hat: Eine nochmalige Introspektion und die Predigt zu Achtsamkeit im Umgang mit der Natur hätte es aus meiner Sicht nicht gebraucht.

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“Ingolstadt erkennt Zeitungsverleger Reissmüller posthum die Ehrenbürgerwürde ab”.

Der frühere Herausgeber des “Donaukurier” hatte seine Rolle im NS-Staat bis zu seinem Tod vertuscht. Nun distanziert die Stadt sich von der einstigen Machtfigur, die Kritik rigoros unterdrückte.

Dieses Reissmüller-Ingolstadt ist auch das Ingolstadt, das man in Marieluise Fleißers Werken erleben kann. Und das, wie ich auf einer Beerdigung vor zwei Jahren feststellte, immer noch gelebt wird. (Es gibt auch andere Ingolstädte! Sonst würden sich nicht so viele wundervolle Menschen dort wohl fühlen!)

Journal Sonntag, 25. Mai 2025 – Berlin Tag 2: Heldin vormittags, Freundin nachmittags

Montag, 26. Mai 2025

Sensationell gut und sehr lang geschlafen: Mein Hotelzimmer ist so ruhig, dass ich die Ohrstöpsel weglassen konnte, das Bett offensichtlich genau das richtige für mich.

Als Allererstes Morgenkaffee aus mitgebrachter elektrischer Cafetera und Milchschäumer, das war schön.

Verabredet war ich erst am Nachmittag mit einer in Berlin ansässigen Freundin, das düstere Nieselwetter machte die Entscheidung zwischen Ausflug ins Berliner Umgebungsgrün und Kino-Matinee einfach: Den Film Heldin hatte ich eh sehr gern sehen wollen, wie praktisch, dass er gestern zehn Minuten zu Fuß entfernt um 11 Uhr im Kino Hackesche Höfe gezeigt wurde.

Wand mit vergitterten Altbaufenstern in einem Innenhof, daran unendlich viele Reste von Aufklebern und Plakaten, davor abgenutzte Bierbänke und -tische

Einer der Hackeschen Höfe konserviert ein längst vergangenes Berlin museal, zwischen gruslig und rührend.

Gemauertes Jugendstil-Treppenhaus in Creme-Tönen und schwarzem Metall

In einem weiten Altbau-Treppenhaus Blick auf die niedrigere Halbebene mit großen Sprossenfenstern, durch die man über den Innenhof eine Klinker-Fassade sieht

Erhöhter Blick in Altbau-Innenhof mit verschiedenförmigen großen Fenstern

Große, Blumenstrauß-artige Wandlampe an Holz

Das Kino liegt im 3. Stock eines sehr schönen Gebäudes.

Der Film gefiel mir ganz ausgezeichnet mit seiner Darstellung eines einzigen Spätdienstes einer Schweizer Krankenpflegerin (Leonie Benesch ganz beeindruckend als diese Figur). Meine eigenen fünf Tage als Hüft-TEP-Patientin im Klinikum Garmisch hatten einen tiefen Eindruck von der Bedeutung des Pflegepersonals für das Befinden der Patient*innen hinterlassen: Ja, für die hochmedizinische Seite sind die Ärzt*innen zuständig, aber es waren die Krankenschwestern, die mir Sicherheit gegeben hatten, Zuversicht, die diese existenzielle Hilflosigkeit erträglich machten. Gleich zu Anfang gibt es im Film einen Dialog, der das transportiert: Ein Patient erzählt, dass er hier im Krankenhaus fern seiner Heimat niemanden hat, keine Familie, keine Freunde. Die Hauptfigur, Krankenpflegerin Floria Lind, antwortet ein wenig scherzend: “Aber Sie haben ja mich.” So war es für mich: Ich bin ja nun wirklich gerne allein und für mich. Aber in dieser Situation als Patientin vor und nach einer größeren Operation erleichterte es mich wie selten, dass da jemanden für mich da war.

Sehr gutes Drehbuch, genau die richtige Kamera für den Stoff (fast ununerbrochen am Gesicht der Hauptfigur), der Schnitt sorgte für einen stimmigen Rhythmus. Da alles sehr realistisch gezeigt wurde, half die durchgehende (immer leicht aufgeregte, aber nie dramatisierende) Musik, den Spielfilmcharakter präsent zu halten.

Theke vor Ladenfenster, darauf ein Sandwich und ein Glas Cappuccino, vorm Fenster nasse Großstadtstraße

Für mein Frühstück setzte ich mich um eins in ein Stehcafé auf einen Barhocker, es gab ein Sandwich mit Sprossen, Karotten, Tofu und einen Cappuccino. Es regnete. Die Zeit bis zur Verabredung an der Neuen Nationalgalerie verbrachte ich im Hotel.

Auf diesem Berlin-Urlaub fühle ich mich schlecht vorbereitet. Nicht nur konnte mich der Fußball-Tsunami kalt erwischen: Ich habe auch keinen Schirm dabei. Gestern regnete es ganz normal, so dass man davon halt nass wird. Mit Schirm wäre ich dennoch zu Fuß zu meiner Verabredung gegangen, hätte Bewegung und Frischluft bekommen. Doch ohne wäre ich nach einer Stunde nass eingetroffen, ich musste die U-Bahn nehmen.

Regennasse Pflasteroberfläche, darauf spiegeln sich zwei große dunkle Skulpturen, im Hintergrund Großstadtsilhouette und düsterwolkiger Himmel

Eigentlich hatten wir uns rechtzeitig für eine der Inszenierungen von Fujiko Nakayas Nebelskulpturen verabredet, doch nach herzlichen Begrüßungsumarmungen und Bekanntmachen mit Begleitung erfuhren wir: Fiel gestern wegen technischer Probleme aus. Na gut, schritten wir gleich zum zweiten Programmpunkt: Die Yoko-Ono-Ausstellung “Dream Together”.

Die war dann recht kompakt in einem Raum, mir gefiel die notwendige Beteiligung der (vielen) Besucher*innen – die meiner Überzeugung nach immer ein Teil von Kunst ist (existiert Kunst ohne Rezeption überhaupt?), in diesem Fall aber auch physisch von ihr gestaltet wird.

Auf einer weißen Tischoberfläche liegen weiße Keramikscherben, Paketschnur, Tesafilm, drei Menschen sitzen daran

An weißen Regalbrettern hängen zwei Klumpen aus Keramikfragmenten, Schnur und These, man sieht den Schatten der Fotografin

Mein Anteil mal wieder das fotografische Festhalten inklusive meiner selbst.

Blick durch Menschen auf einen langen weißen Tisch, auf dem Schachbretter mit nur weißen Figuren stehen, daran Menschen sitzen, die Schach spielen

Wir waren schnell durch, die paareinhalb Exponate hinterließen mich eher ratlos. Plan: Am Donnerstag der andere Teil der Yoko-Ono-Ausstellung im Gropiusbau.

Beim Verlassen des Raums begegnete ich einem meiner ältesten Blogkontakte, @ruhepuls. Auch Berlin ist ein Dorf, ich freute mich sehr.

Nach Hause zu meiner Freundin fuhren wir im Auto – so kenne ich Berlin überhaupt nicht, wahrscheinlich habe die Stadt zuletzt vor über zwölf Jahren durch ein Autofenster gesehen.

Es folgten wundervolle Stunden mit Freundin, Partner, ihren fast erwachsenen Kindern (die sich an mich nicht mehr erinnern konnten, aber ich verfolge sie zwischen den wenigen Begegnungen seit ihren Kindertagen halt auch über vereinzelte Urlaubsfotos ihrer Mutter), Hund. Auf der regnerischen Terrasse wurde gegrillt, ich bekam unter anderem herrliche ausgelöste Hühnerschenkel, abgefahrenen Gurkensalat, Kartoffelsalat. Und zu all dem Kontakt und Gespräche (unter anderem die nachgeholte Erzählung eines Japan-Urlaubs im Vorjahr), wohliges Menschenkuscheln.

Kulinarische Entdeckung war ein Tee, den die Freundin in einem japanischen Mitte-Laden bekommen hatte.

Stehende helle Verpackungstüte, darauf groß

Der Laden liegt nicht weit entfernt vom Hotel, mal sehen, ob ich diese Woche zu Öffnungszeiten hinkomme.

Abschied im letzten Abendlicht, meine Schirm-Lücke wurde durch einen geschenkten aus dem Freundinnen-Haushalt geschlossen. Den brauchte ich dann zwar auf dem Heimweg zu Fuß nicht (keine halbe Stunde – Berlin wird immer kleiner), aber jetzt fühle ich mich besser für die kommenden Tage gerüstet.

Im Bett Start neuer Lektüre: Chloe Dalton, Raising Hare.

Journal Samstag, 24. Mai 2025 – Berlin Tag 1: Reise in den Fußball

Sonntag, 25. Mai 2025

Mittelguter Schlaf, es begann ein Reisetag mit mittelgutem Funktionieren.

Erstmal steckte die Zeitung im Briefkasten und ich hatte keinen Zugriff auf die Digitalausgabe: Meine Urlaubsabbestellung hatte nicht geklappt. (Ich checkte die schriftliche Bestätigung: Doch, ich hatte die richtigen Daten angegeben.)

Gehweg einer Ladenzeile links, von hinten sieht man eine Persin in schwarzen engen Hosen und schwarzen Stiefeln mit Absatz, die um die Schultern einen dünnen Plastikumhang trägt, in den Haaren unzählige kleine Alufetzen

Ich liebe den Anblick von Frauen vor Friseursalons mit Färbe-Alu im Haar, meist ja eher auf Sitzgelegenheiten und mit Getränk und/oder Zigarette in der Hand.

Gut funktionierte die pünktliche Abfahrt des Zugs am späten Vormittag (Zugbindung schon vor Wochen aufgehoben, da die Fahrt eine halbe Stunde länger als gebucht dauern würde, machte mir ohne Umstieg nichts aus). Doch sie begann in Gesellschaft eines Männergesangvereins, der die Weise „Mir holn de Pokal“ intoniert, dabei alle Vokale als O aussprach. Ich musste für meine komplette Fußball-Ignoranz büßen, denn Nachfrage auf Mastodon ergab: Ja, die Herren würden mich sehr wohl bis Berlin begleiten, dort fand gestern ein sogenanntes “Pokalfinale” zweier deutscher Männerfußballvereinsmannschaften statt. Eine kundige re:publica-Teilnehmerin würde genau deswegen erst am Sonntag anreisen.

Dann wieder: Umwerfend charmantes Personal im Bordbistro, das die Fußballfans mit deutlich schwäbischem Zungenschlag sowie deren Bierdurst gut im Griff hatte und mir in meinen Mittagscappuccino zum Ausgleich einen Extra-Shot spendierte. Mir fiel auf, dass die Fußballfans in Kleingruppen über viele Wagen verteilt waren: Das bremste Massendynamik, und unterm Strich waren sie auch nicht schlimm, sangen oder lärmten nur punktuell, waren lediglich beim Durchgehen zum Klo ein unverrückbares Hindernis mit Biertragl/Brotzeittaschen im Gang, über die ich halt kletterte.

Als Brotzeit gab es um zwei einen Apfel von daheim und ein Antipasti-Sandwich, das ich am Münchner Bahngleisende beim Rischart gekauft hatte – sehr glücklich, dass dieser Liebling (gebratenes Sommergemüse als Brotbelag!) nach langer Pause wieder im Sortiment war.

Eine Zugfahrt durch Robinienblüte, zwischen Bitterfeld und Berlin gar durch blühende Robinienwälder, am Himmel wechselten Sonne und Wolken.

Von Berlin Hauptbahnhof U-Bahn zum Alexanderplatz – wo die Göttinnen des Fußballs mir mein konsequentes Wegschauen so richtig in die Fresse hauten: Der Platz stand voller Menschen in blauen Leibchen, die das Fußballspiel ihrer Mannschaft wohl auf den vielen Leinwänden angucken wollten, ich kam mit meinem großen Koffer nur langsam und schwierig durch. Und mein Hotel war komplett geflutet von Menschen in dieser Kleidung und laut Rezeption ausgebucht.

Rezeption, denn mein Self Check-in hatte nicht funktioniert. Ich hatte das Check-in-Formular am Vortag online ausgefüllt (weil mich eine E-Mail darum bat, aber gerne!), doch im Hotel forderte der Check-in-Bildschirm nochmal den bereits gezahlten Betrag für sechs Nächte und akzeptierte meine Bankkarte nicht. Die menschliche Angestellte war aber sehr freundlich (und gestand, dass der Maschinen-Check-in eigentlich nicht funktionierte).

Sehr erhöhter Blick auf eine Großstadt, erkennbar eher unscheinbare Gebäude, im Vordergrund breite Straßen, der Himmel darüber voller Wolken

Zimmer mit der erhofften Aussicht (Alexanderplatz auf der Rückseite).

Erstmal ging ich auf Lebensmitteleinkäufe zu einem nahen Supermarkt, schlug einen großen Bogen um die wogende blaue Masse Fußballfans. Dann ging ich gleich nochmal los (Treppensteigen leider nicht möglich, da die Treppen nur als Fluchtweg nach unten gedacht sind und sich die Türen vom Treppenhaus aus nicht in die oberen Stockwerke öffnen lassen – klar habe ich das getestet, als ich Treppentraining witterte): Ich sehnte mich nach Bewegung und spazierte durch Berlin Mitte, wo ich schon lang nicht mehr unterwegs gewesen war.

Vor blauem Himmel ein prächtiger sakraler Gründerzeitbau, im Vordergrund städtischer Fluss mit Besichtigungsschiff

Aus vielen Gegenden, die ich nur als Baustelle kannte, waren Gebäude geworden, ich musste mal wieder von besonders gemochten Aspekten meines inneren Berlin-Bilds Abschied nehmen. Und voller Menschen war es natürlich, an einem Samstag in der Hauptreisesaison kommt man hier auf den Wegen nicht schneller voran als in der Münchner Innenstadt.

Zurück im Hotel freute ich mich über die mitgebrachte Yoga-Ausstattung.

Kleines Hotelzimmer mit links Einzelbett, rechts an der Wand einem schmalen Schreibtisch, dazwischen auf Laminatboden einer Yoga-Matte, gegenüber Fenster

Ja, das Zimmer ist klein. Aber wo sich eine Yoga-Matte ausfalten lässt, ist doch nicht zu klein? (Mal sehen, ob ich das Angebot der Rezeption annehme, für die weiteren fünf Übernachtungen in ein Doppelbettzimmer umzuziehen, für nur fünf Euro mehr pro Nacht.) Ich turnte auch darauf, eine Dehn-Einheit. Mit den Armen seitlich ausholen hätte ich allerdings nicht können.

Als Abendessen gab es griechischen und spanischen Käse von daheim mit roter und gelber Paprika aus dem Supermarkt. Ich hatte lang vorher gewusst, dass ich am ersten Abend keine Lust auf Suche nach Einkehrmöglichkeit haben würde, und die wäre mir im Slalom um Fußballfans eh vergangen. Nachtisch Schokolade. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass die Eigenmarken der Supermärkte alle vom selben Hersteller kommen, doch die Rahm-Mandel-Schokolade von Kaufland schmeckte deutlich süßer und weniger schmelzend als die von Aldi Süd – erstaunlich.

Sehr erhöhter Blick auf eine große Großstadt-Straßenkreuzung im letzten Abendlicht, umgeben von hohen, sachlichen Gebäuden

Ich hätte großartige Fotos vom dramatischen Abendhimmel aufnehmen können, doch das Zimmerfenster spiegelte und ließ sich nachvollziehbarereweise nicht ganz öffnen.

Im Bett (Zimmer so ruhig, dass ich kein Bedürfnis nach Ohrstöpseln hatte) Lena Christs Die Rumplhanni ausgelesen, war in der zweiten Hälfte nochmal anders geworden (Hanni zieht nach München, viele interessante Alltagsdetails der Au vor hundert Jahren) und hatte mir gut gefallen.

§

Ein Artikel in der Wochenend-Süddeutschen geht den Fragen nach, die ich mir kürzlich so ähnlich gestellte hatte: Wie gehen Eltern, die selbst als Kinder/Jugendliche sehr Schlimmes erlebt haben, damit gegenüber ihren Kindern um? Hier wird eine Sorte besonders Schlimmes herausgegriffen: Sexuelle Gewalt. (€)
“‘Es passiert nicht einfach so'”.

Wer als Kind sexuelle Gewalt erlebt hat, fürchtet sich oft vor der eigenen Elternschaft. Wird man Grenzen achten und den Nachwuchs schützen können – auch vor sich selbst?

Ausgangspunkt des Artikels ist eine systematische Untersuchung “Elternschaft nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend”.

„Viele Betroffene stellen sich grundlegende Fragen“, erklärt Pädagoge Claas Löppmann, der Teil des Forschungsbeirats der Studie war. Schon die Vorstellung, eigene Kinder zu bekommen, löse teils große Zweifel aus. „Kann ich mit meinen Erfahrungen überhaupt ein guter Elternteil sein? Kann ich Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen? Schaffe ich es mein Kind davor zu schützen, dass ihm Ähnliches passiert wie mir?“

Journal Montag, 19. Mai 2025 – Leise Kochenttäuschungen

Dienstag, 20. Mai 2025

Mittelgute Nacht, es wurde hell zu einem freundlichen Tag.

Vor blauem Morgenhimmel mit weißen Wolken ein eckiger Kirchturm, davor die Bäume eines Parks

Eher turbulenter Arbeitsvormittag wegen Unvorhersehbarkeiten, ich riss mich dennoch auf einen Mittagscappuccino im Westend los. Die Sonne schien, und die Luft war wärmer als erwartet.

Breites sonniges Brett vor Fensterfront, im Vordergrund ein Cappuccino, auf dem Brett der Schatten der Beschriftung auf dem Fenster: Stray

Verzögertes Mittagessen: Apfel, Mango (klein und sehr gut) mit Sojajoghurt.

Anstrengender Nachmittag, an dessen Ende nicht nur meine Jobs erledigt waren, sondern auch ich.

Heimweg durch Robiniendüfte (wenn sie nicht durch Auto- und Motorradabgase überlagert wurden – ich kann es nicht erwarten, dass diese Retro-Verbrennermotoren verschwinden). Im Vollcorner kaufte ich unter anderem für das Abendessen ein, für das war gestern nämlich ich zuständig. Den bayrischen Kartoffelsalat hatte ich bereits am Sonntag gemacht: Er wurde wässrig, denn die Kartoffeln nahmen die Brühe nicht auf – ohnehin schlechte Kartoffeln, wie ich schon beim Schälen festgestellt hatte, nicht nur das Kartoffelkombinat hatte 2024 eine richtig schlechte Kartoffelernte hingelegt. Die Gurke kam gestern dazu. Und Kartoffelsalat ist im Hause Kaltmamsell der klassische Begleiter zu Fleischpflanzerl. Für diese verwendete ich gestern erstmals reines Schweinehack, anderes gab’s beim Vollcorner nicht.

Joah, die Schweinefleischpflanzerl wurden ähnlich mittel wie der Kartoffelsalat. Aber machten insgesamt satt. Nachtisch Schokolade.

Endlich Verabredungen für meine Berlinwoche getroffen. Und endgültig festgestellt, dass Anreise am Samstag, drei Tage re:publica und Abreise am Freitag nur zwei frei verfügbare Tage ergibt. Einen habe ich schon vor langer Zeit vergeben: Ich möchte eine mir sehr liebe (Offline-)Freundin endlich mal wieder ausführlich sehen und sprechen. Ach, ich bin einfach nicht oft und lang genug in Berlin.

Weitere Lektüre der Rumplhanni. Heimlich hatte ich den 200-Seiter als schnelles Buch für zwischendurch angezielt, doch das wird nichts: Selbst ich als Bairisch-Muttersprachlerin muss die über 100 Jahre alte Version des Dialekts langsam lesen, um ihn zu verstehen, manchmal sogar laut.

§

Es ist mir ein Rätsel, wie man Menschen unterstellen kann, sie machten sich das Bekenntnis, weder weiblich noch männlich zu sein, leicht und einfach. Hier gibt jemand Einblick in einen kleinen Ausschnitt dieses Bewusstseins:
“objekt, subjekt & pronomen”.

Androgyn finde auch ich eine schöne Bezeichnung, und ich kann nachvollziehen, dass es in unserer Sprache immer noch keine Pronomen dafür gibt, die sich gut anfühlen.

Journal Samstag, 17. Mai 2025 – Draußenschwumm, mehr Blinzeln ins Ahndl-Kastl

Sonntag, 18. Mai 2025

Eher unruhige Nacht, der gar nicht so viele Rotwein führte zu Kopfschmerzen.

Kurz vor Weckerklingeln aufgewacht; Wecker, weil Herr Kaltmamsell früh zu einem beruflichen Termin musste und ich ihm gerne noch Milchkaffee servieren wollte.

Draußen gemischter Himmel, kühle Luft. Durch die ging ich nach dem gewöhnlichen Samstagmorgenprogramm zur Schusterin: Sie sollte die Naht an meinen Wanderstiefeln flicken. Doch die bewährte Orthopädieschuhmachermeisterin wies mich darauf hin, dass sie nur durch den ganzen Schaft nähen konnte – mit der Gefahr, dass eine harte Stelle entstand. Sie riet mir, die Stiefel über Handelspartner zum Hersteller Meindl einzusenden: Dort stünden spezialisierte Maschinen zur Verfügung. Großer Seufzer wegen großem Umstand.

Daheim griff ich den bereits gepackten Sportrucksack, ich radelte zum Dantebad. Ich bekam wunderbar leere Schwimmbahnen – vielleicht hatten andere wie ich zunächst auch die Info auf der Website missverstanden, das Freibad sei wegen zu niedriger Temperaturen geschlossen. Was aber nur für den Teil galt, der als Sommerfreibad dazukommt, der sogenannte “Stadionbereich” mit 50-Meter-Becken, der auch im Winter betrieben wird, war sehr wohl geöffnet.

Ich schwamm kraftvoll und elegant, der kühle Wind und die Sommer-gesenkte Wassertemperatur ließen mich allerdings etwas frösteln. Einerseits war ich also froh über jeden Sonnenstrahl, doch bei vorhergesagtem bedeckten Himmel hatte ich mich nicht sonnengecremt und fürchtete die unerwartet vielen Sonnenabschnitte. (Ich greife vor: Nein, kein Sonnenbrand.)

Der Wind schlug Wellen, ich schluckte immer wieder einen Schwall Wasser.

Nach Hause radelte ich auf direktestem Weg, Frühstückssemmeln hatte ich schon beim Gang zur Schusterin gesichert.

Ein breiter, einst mächtiger Busch mit dicken Stämmen, die auf unterschiedlicher Höhe über anderthalb Metern abgeschnitten sind, er treibt mit hellgrünen Nadeln aus

So treibt eine brutal zusammengeschnittene Eibe aus (in unserem Hinterhof).

Frühstück kurz nach halb zwei: Apfel, Vollkornsemmeln mit Labneh und Honig.

Meine Mutter hatte am Vormittag vorm Schwimmen angerufen, um das Aufnahmedatum des alten Fotos zurechtzurücken (wahrscheinlich Ende 1945 / Anfang 1946). Sie erzählte weitere Details, die für Recherche helfen (wir müssen uns wirklich mal zusammensetzen und sammeln). Unter anderem, dass ihr unehelicher Vater (der auch der Vater ihrer jüngeren Schwester ist) ebenfalls als Zwangsarbeiter aus Polen nach Burlafingen verschleppt wurde. Laut Familiengeschichte hat er meine Oma mit den beiden Kindern sitzen lassen und ist nach England verschwunden – in einer späteren Version erzählte meine Oma aber, er sei nach England gegangen und dort bei einem Lkw-Unfall ums Leben gekommen. Das könnte sogar die interessantere Recherche sein: Sowohl meine Mutter als auch ich hatten uns eigentlich längst damit abgefunden, dass wir nie Genaueres über ihren leiblichen Vater herausfinden würden.

Die Suche nach diesem Herrn, Michal Hajek, brachte mich in den Arolsen-Archiven zu dieser Karteikarte von 1945 für DP – Displaced Persons. Es war die Berufsangabe, die mir einen Treffer wahrscheinlich erscheinen ließ: “Painter” – laut meiner Oma war er Kunstmaler und hatte an der Akademie in Krakau studiert.

Er sei, so erinnerte sich meine Mutter an die Erzählungen ihrer eigenen, in die britische Armee eingetreten. Das einzige Foto, das es in der Familie von ihm gibt, zeigt ihn in Uniform lässig an einer Laterne lehnen. Wenn man wollte (und ich weiß nicht, ob ich will), könnte man sich also in britischen Militärarchiven umtun.

Beim Schwimmen hatte ich mit Kuchenbackideen gespielt, aber letztendlich alle verworfen, wie in den verganenen Jahren fast immer: Wer sollte den denn essen?

Doch als Herr Kaltmamsell laut überlegte, wohin mit all den Eiern, fiel mir das halbe Pfund gute Margarine ein, das ich irgendwann im Kühlschrank geparkt hatte, um jederzeit Marmorkuchen-fähig zu sein. Und das, wie ein Check ergab, im März sein MHD gefeiert hatte. Sah aber noch tippitoppi aus und roch auch so, ich buk Marmorkuchen.

Aufsicht auf einen frisch gebackenen Marmorkuchen noch in seiner Form

Eine Runde Yoga-Gymnastik, um den Verfall und die alterbedingt fortschreitenden Bewegungseinschränkungen zu verlangsamen.

Da es eigentlich ein Standardrezept ist, hielt ich den Spinat in Erdnuss-Sauce mit roter Paprika auf meiner Rezepte-Seite fest.

Der Alkohol des Abends war nochmal Maibowle, aber von einem neu gekauften Töpfchen Waldmeister, Version 1 war sehr schnell an seinem Mehltau verendet.

Dazu kochte Herr Kaltmamsell aus Ernteanteil-Pilzen und zugekauftem Brokkoli ein Pastagericht mit Mafaldine und Labneh, leicht Chili-scharf und köstlich. Nachtisch warmer Marmorkuchen (ein bisschen zu viel).

Im Bett die nächste Lektüre begonnen: Lena Christ, Die Rumplhanni, ich hatte mich gewundert, dass ich noch nichts von Lena Christ gelesen habe.

§

Spiegel-Interview mit Marina Weisband – sehenswert. Naja, Spiegel does Spiegel (u.a. ist Sachlichkeit nicht das Ziel), aber Marina Weisband (ihr Podcast-Interview zu “Lohnt sich Fairness in der Politik?” ist immer noch ein offener Tab auf meinem Rechner) hat einfach immer interessante Gedanken – hier unter anderem zu psychologischen Auswirkungen von Migration (wie bei den meisten Themen, die das Interview anreißt, würde ich hier gerne tiefer gehen).

Ich springe zu dem Punkt, an dem @Afelia (die sie für mich immer sein wird) gefragt wird, ob sie “das Twitter von damals” vermisse:

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https://youtu.be/3krV2roDz_U?si=MRENplf5Pm64imws&t=1796

Guter Anlass, für Mastodon zu werben – wo ich mich ebenfalls wie bei “Twitter von damals” fühle, lediglich viele Leute von damals vermisse, die entweder gar nicht mehr micro-posten oder andere Plattformen bevorzugen.

Digitalcourage hat eine schöne Einführung zu Mastodon gebastelt: