Wieder eine gute Nacht, doch wieder endete sie in einer unangenehmen Angstphase.
Nochmal Sonnen-Power draußen, ich marschierte in kurzen Ärmeln in die Arbeit (eine Jacke wäre wirklich angenehm gewesen, doch ich war wieder zu faul zum Heimschleppen).
Die Lösung meines Problems mit der Handyzahl-App (VIMPay übrigens, mit der meine Bank, die Sparda, zusammenarbeitet), von der eine erforderliche und angeblich abgeschickte TAN nie eintraf, nicht bei Dutzenden Versuchen und über mehrere Tage: Ich hatte am Sonntag an die Service-Adresse geschrieben, die am Montag zurückschrieb, “richte die PushTAN-Verbindung bitte nochmals anhand der folgenden Anleitung ein”. Stellte sich heraus: Ich hatte diese Funktion nie eingerichtet. Und wie ich bei neuerlichem Aufruf der App herausfand, ist sie auch gar nicht erforderlich, jetzt gab es eine Möglichkeit, auch ohne weiterzukommen. UX-Hölle in Lehrbuch-Qualität.
Emsiger Vormittag, aber ich hatte Zeit für einen Mittagscappuccino im Westend.
Zu Mittag gab es einen Kanten selbstgebackenes Brot und Mango mit Sojajoghurt.
Der Nachmittag war zäh, doch ich schaffte Dinge weg (und fand nicht heraus, wie ich für Outlook-Besprechungen Agenda und Protokolle in OneNote bastle, die nicht nur zu meinem persönlichen OneNote führen). Außerdem plagten mich Schwäche und Schwindel – wie ich aus meinem Blog weiß, bekomme ich den besonders häufig im Mai.
Nach Feierabend nahm ich eine U-Bahn in die Innenstadt, ließ mir bei einer Ärztin ein Rezept auf die Krankenkassenkarte laden, kaufte ein wenig im Kaufhaus ein und im Drogeriemarkt, kurz vor daheim noch Erdbeeren am Standl.
Ernteanteil war aufgegessen, Herr Kaltmamsell hatte Nachtmahl beim (deutschen) Traditionschinesen Shanghai am Stachus beschlossen. Da gingen wir hin.
Wir teilten uns Wasserspinat mit Knoblauch, Aubergine mit wenig Hack, Mapu Tofu – sehr schön unterschiedlich und aromatisch.
Zurück daheim gab es noch reichlich Erdbeeren und ein wenig Schokolade.
Im Bett begann ich neue Lektüre: Joseph Roth, Hiob.
§
Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin.
Didier Eribon schreibt über die letzte Lebensphase seiner Mutter, der titelgebenden Arbeiterin. Diesmal belustigte es mich beinahe, wie Eribon zutiefst menschliche und zwischenmenschliche Dinge mit den Werkzeugen der Soziologie analysiert (das tat er ja schon in Rückkehr nach Reims, hier besprochen). Zum Beispiel seine Schilderung, wie seine Eltern, die einander nicht ausstehen konnten, all die Jahrzehnte ihrer Ehe ein Bett teilten: Das sei halt durch ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklassen bedingt, in der Alternativen undenkbar gewesen seien. (PurzelchenCherie: Die Alternative ist in praktisch allen Klassen undenkbar.)
Aber auch so bewegte es mich zutiefst, wie seine Mutter am Umzug ins Pflegeheim zerbricht. Ebenso wie Eribon damit hadert, ob das durch einen Umzug in ein offeneres Wohnen für Alte ein paar Jahre zuvor hätte verhindert werden können, den seine Mutter im letzten Moment verweigerte. Eribon erkennt, wie müßig diese Frage ist, denn seine Mutter wollte halt einfach nicht.
So vieles läuft darauf hinaus, dass Menschen nun mal auch im hohen Alter und mit schwindender Kontrolle über ihren Körper immer noch eigenverantwortliche und mündige Menschen sind. Selbst wenn ihre eigenen Entscheidungen ihnen schaden. So kommt es oft zu tragischen Situationen, in denen nicht abzusehen ist, was größeren Schaden anrichtet: Der selbstverantwortliche Beschluss, allein in der eigenen Wohnung zu bleiben (auch wenn die Selbstversorgung nicht mal mit externer Pflegehilfe gesichtert werden kann, auch wenn jede Erkrankung, jeder Sturz schwerwiegende Folgen haben kann). Oder der Umzug ins Seniorenheim unter dem noch so liebevollen Druck der Anghörigen (“Es ist besser für dich.”), der mit Aufgabe der Selbstbestimmung einher geht, mit komplettem Wechsel von Alltag, Kontakten, Gewohnheiten – dem Verlust der eigenen Welt.
Und dem ultimativen Verlust von Zukunftsaussichten: Ohne Zukunft gibt es kaum ein Konzept von Selbstwirksamkeit, in einem Pflegeheim ist die Zukunft zu Ende.
Die Zeit ist stehen geblieben. Es ist kein auf die Zukunft gerichteter Entwurf mehr möglich, nicht einmal auf die unmittelbare Zukunft.
Wichtig ist in meinen Augen Eribons Hinweis darauf, dass den Pflegeheim-Bewohnenden die Möglichkeit zur Gruppenbildung, Solidarität, zum Protest gegen das System genommen ist, sollten sie mit den Umständen unzufrieden sein: Immobil und aus dem Bett heraus, ohne selbstbestimmte Kontakte lässt sich keine Revolte anzetteln. (Oder müssen wir uns auf den ersten über WhatsApp organisierten Aufstand der Patient*innen im Pflegeheim gefasst machen?) Eribon schildert, wie seine Mutter ihm und seinen Brüdern aus dem Pflegeheim-Bett Nachrichten auf den Anrufbeantworter sprach:
Meine Mutter weinte und beschwerte sich, aber sie konnte nicht für sich selbst sprechen, konnte sich kein Gehör verschaffen, zumindest nicht öffentlich. Ihre Klage gelangte nicht aus ihrem Zimmer nach außen.
(…)
Wie sollen alte Menschen, vor allem, wenn sie ihre körperlichen und manchmal auch einen Teil ihrer geistigen Fähigkeiten verloren haben, sich versammeln, sich als Gruppe mobilisieren, sich als “Wir” begreifen, und sei es nur, indem sie ihre Interessen an eine Gewerkschaft oder Partei deligieren?
Und doch stolperte ich über die soziologische Analyse der Verbindung Eribons mit seiner Mutter:
Man darf die sozialen Beziehungen – einschließlich der sich im Lauf der Zeit verändernden innerfamiliären Beziehungen – nicht psychologisieren, sondern muss sie im Kontext von Klassenverhältnissen betrachten.
Mir scheint dieser Satz unvollständig: Wenn man was erreichen/erkennen will? Oder es fehlt: Sonst…
Da ich weder Psychologin bin noch Soziologin, kann ich mir die feuilletonistische Ansicht leisten, dass eine Mischung von beiden Erklärungssystemen den größten Erkenntnisgewinn verspricht.
Kann es sein, dass Eribon seine Trauer soziologisieren möchte und dabei herzzerbrechend scheitert?
Doch Eribon knöpft sich auch seine eigenen philosophischen Lehrmeister*innen vor (u.a. Sartre) und weist ihnen nach, dass viele ihrer gesellschaftlichen Konzepte, gar Forderungen alte Menschen als Protagonist*innen ausschließen, mit alten Menschen vor Augen einfach nicht mehr funktionieren. Er beschließt sein Buch mit einem leidenschaftlichen Appell, greise Menschen nicht zu übersehen und denen eine Stimme zu leihen, die sich in ihrer letzten Lebensphase nicht mehr selbst Gehör verschaffen können.
die Kaltmamsell