Theater

Journal Mittwoch, 13. März 2024 – Freier Tag mit Schwimmen, Mohnnudeln und dem Horror des hohen Alters in Liebe (Amour) an den Kammerspielen

Donnerstag, 14. März 2024

Sind Sie auch so gespannt, wie ich es zuvor war, was ich wohl mit meinem freien Tag anfangen würde?
Feste Programmpunkte waren lediglich Schwimmen, Mohnnudeln zum Abendessen machen sowie ein Theaterbesuch am Abend.

Ich wachte nach mittelgutem Schlaf von Weckerklingeln auf, denn ich wollte Herrn Kaltmamsell den gewohnten Milchkaffee servieren.

Gebloggt, nach Milchkaffee und Wasser ein wenig Haushaltliches getrieben, eine große Tasse Tee aufgebrüht. Dazu sah ich ausführlich Videoausschnitte der Oscarverleihung an (Dank an Herrn Kimmel fürs Schimpfen über ausufernde Filmlängen), klickte mich durch viele Fotos von Oscarverleihungs-Stylings. Ich sah großartige, schöne Roben, nur wenige Katastrophen – und die schlimmste hatte ich wirklich nicht von Diane Kruger erwartet.
Vielleicht DER zentrale Styling-Tipp:
“Just because you’re physically capable of placing an item onto your corporeal form, it doesn’t mean you SHOULD.”

Neuer Anlass, mich alt zu fühlen: Der Anblick all der alten Hollywoodstars, deren Karrieren ich seit ihrer Jugend im Kino verfolgt habe.

Draußen war es grau und regnerisch, das nahm mir die Lust zu radeln. Raus ins Olympiabad nahm ich also die U-Bahn. Wie erwartet war nicht viel los auf den Bahnen, allerdings geriet ich an unerfahrene Schwimmer, die mühsam zu überholen waren. Meine 3.000 Meter waren nur anfangs durch Schulterschmerzen links getrübt, bald gewöhnte ich mich daran. Auf dem Rückweg zur U-Bahn nieselte es.

Kurz vor der U-Bahn-Station Olympiapark, hinter mir Münchens größter dem Autogott geweihter Tempel.

Frühstück kurz nach eins: Ein wunderschöner Apfel, der nach fast nix schmeckte (gebt mir schrumpelige Lageräpfel, wie sie jetzt Saison haben!), Bagel aus der Gefriere mit Frischkäse und halbgetrockneten Tomaten in Kräuteröl. Dazu Zeitungslektüre. Ich bemerkte echte Bettschwere, legte mich für ein Stündchen Siesta ins Bett.

Danach mehr Lesen auf dem Sofa, nämlich den schmalen Band Eigentum von Wolf Haas aus (mir fällt noch keine Übertragung der Kürze auf das elektronische Medium ein). Herr Kaltmamsell kam aus der Arbeit, erzählte ein wenig.

Internetlesen, ich stellte fest: Oh Gott, die Bärlauchsaison ist auf allen Plattformen ausgebrochen. Dieses stinkige Grünzeug (beleidigen Sie mir bitte nicht den guten Knoblauch mit Vergleichen) hat sich mit einer Penetranz in der saisonalen Kulinarik ausgebreitet, die nicht mal der Spargel je geschafft hat. In welche bislang unbekannte Territorien wird er sich dieses Jahr bohren? Bärlauch Cinnamon Rolls?
Rhabarber mag ich ja auch nicht, aber der verfolgt mich nicht jedes Jahr wochenlang durch alle Kanäle und Speisekarten.

Eine Runde Yoga-Gymnastik, meine linke Schulter schmerzte mehr als vor dem Schwimmen.

Zum frühen Abendessen (weil Theater) gab es nochmal Mohnnudeln nach dem Rezept im Standard, aber diesmal machte ich sie – problemlos und in 75 Minuten ab Einschalten des Topfs mit Kartoffeln auf dem Tisch.

In leichtem Regen spazierte ich zu den Münchner Kammerspielen, auf dem Programm stand Liebe (Amour) nach dem Film von Michael Haneke.

Komplett ohne Jugendstil: Das Klo der Kammerspiele.

Der Zuschauerraum nichtmal halb gefüllt, dennoch wartete ich wieder bis kurz vor Vorstellungsbeginn, bis ich mich auf meinen Außenplatz setzte, denn ein Naturgesetz – oder Wahrnehmungsverzerrung – sorgt dafür, dass die Inhaber von Mittelplatzkarten immer als letzte eintreffen. So auch gestern. Und dann sah ich die Geschichte aus Hanekes Film, nur ohne die Möglichkeiten des Kinos (ich hatte ihn seinerzeit in den Münchner City-Kinos erwischt, im Gegensatz zu vielen anderen Kinobesuchen lebhaft in Erinnerung, weil mich während der Vorstellung eine Migräne angefallen hatte – zum ersten Mal bei Tag).

Nach dem eben abgeschlossenen Haas-Buch Eigentum und kürzlich dem Theaterstück Dankbarkeiten jetzt also ein weiteres Kunstwerk, das die letzte Lebensphase des Menschen in der westeuropäischen Gegenwart thematisierte, nun ist aber für eine Weile genug.

Zunächst saß ich eher ratlos in dieser Inszenierung, ich sah nichts, was die Filmversion bereicherte. Formal schon: Liebe (Amour) ergänzte Hanekes Filmstoff durch eine Gruppe echter sehr alter Menschen, die an einigen Stellen Rollen vertraten und in einem längeren Teil vor der Pause auf Stühlen am Bühnenrand saßen, neben sich die Projektion von Bildern aus ihrem Leben, einige erzählten von ihren Alterserscheinungen.

Erst auf dem Weg nach Hause (immer noch Regen) begann ich zu greifen, was mein Unbehagen verursachte, gerade im Vergleich zur Filmversion, zum Haas-Buch und zu Dankbarkeiten: Das Kammerspiel-Stück dreht sich nicht um Charaktere, Biografien, Persönlichkeiten, sondern einzig um Gebrechlichkeit im hohen Alter, um Körperlichkeiten. Es zeigte nicht Individuen, sondern Typen. Das fand ich nicht gut. Wir erfahren nahezu nichts darüber, welche Menschen Anne und Georges (gespielt von André Jung) sind – das wurde in Hanekes Film auch nicht direkt klar, aber man lernte die beiden zumindest über ihre Wohnung kennen, über die Dinge, die dort standen. Doch das karge und architektonische Bühnenbild (Muriel Gerstner), auf das ab der Hälfte immer mehr Graberde gehäuft wurde, reduzierte sie auf ihre Funktion: Alter französischer Mann pflegt seine alte Frau nach Schlaganfall.

Unterstrichen wurde das Typen-Spiel durch die Besetzung der Rolle Annes mit mehreren Personen: Katharina Bach spielte sie, wenn sie sprach (sie spielte auch die Tochter der beiden), außerdem wurde sie mal von Joel Small, mal von einem kleinen Mädchen, mal von jemandem aus der Gruppe alter Laien dargestellt – eben kein Individuum, sondern der Platzhalter “alte pflegebedürftige Frau”.

Thematisiert wurden Pflegenotstand und Sterbehilfe, der Teil mit den echten alten Menschen wägte ab, wie individuell persönlicher Lebenswille ist – doch auch hier lernte ich einzelne Persönlichkeiten eher indirekt kennen durch ihr echtes Sprechen, ihren unterschiedlichen Kleidungsstil, ihren rücksichtsvollen und zugewandten Umgang miteinander, nicht durch das Stück. Über allem lag die eindringliche Botschaft: Wir werden alle sterben, irgendwann, echt ehrlich wirklich! Und der letzte Abschnitt davor ist entsetzlich für alle Beteiligten.

Pause mit Jugendstil.

Im Vergleich zu dieser Horror-Show konnte ich mit Dankbarkeiten nach Delphine de Vigan mehr anfangen: Neben dem Verfall einer alten Frau hatte ich hier auch die Frau kennengelernt, das Geflecht an menschlichen Beziehungen und Emotionen, in dem sie lebte, dass sie Pralinen liebte. In Wolf Haas Eigentum wiederum fühlt sich die greise Mutter kurz vor ihrem Tod zum ersten Mal überhaupt gut und nicht verbittert. Doch von Anne weiß ich nach dem gestrigen Abend über ihre immer schwerer werdenden Gebrechen hinaus nicht mehr, als dass sie mal Klavier unterrichtete. Nur an wenigen Stellen gab es überhaupt eine Interaktion mit Georges. Alte Menschen bestehen doch nicht nur aus ihrem Alter und ihrer Hilfsbedürftigkeit?

§

Wenn ich zum Ausgleich Heiteres brauche, reiche ich es auch an Sie weiter.
Eine der lustigsten und souveränsten Reden, die ich je eine Tochter auf ihren Vater haben halten sehen: Die Laudatio von Zoë Kravitz für Lenny Kravitz, als er seinen Stern am Hollywood Walk of Fame bekommt.

Journal Mittwoch, 6. März 2024 – Kalter Regentag, Pizzaabend

Donnerstag, 7. März 2024

Weckerklingeln zu Regengeräuschen.

Fußmarsch in die Arbeit unterm Regenschirm. Den Hauptteil des Vormittags verbrachte ich in einer internen Informationsveranstaltung an anderem Ort, zu dem ich unterm Schirm zu Fuß marschierte (Frischluft!). Nach viel Gelerntem marschierte ich auch zurück, war nur wenige Minuten nach den Kolleg*innen im Büro, die den Bus-Shuttle genutzt hatten.

In meiner Abwesenheit war überraschend viel aufgelaufen, das ackerte ich erstmal weg.

Spätes Mittagessen: eine Portion Eintopf vom Vorabend, ein wenig Weißkraut-Kimchi.

Büronachmittag mit emsigem Abarbeiten, darunter Angst wegen Anfragen, zu denen mir nicht sofort eine Lösung einfiel. Eine musste ich nach ein paar Rechercher-Runden absagen, aber das ist ja auch eine Lösung – am schlechtesten ertrage ich es, in der Luft zu hängen.

Dazwischen Abendessen-Abstimmungen mit Herrn Kaltmamsell: Ernteanteil war weggegessen, schon am Dienstag wälzten wir die Idee, aushäusig Pizza zu essen. Die Wunsch-Pizzeria war bereits ausgebucht, wir würden also einfach mal drauf losgehen. (In München muss man bereits seit Jahren selbst für Kaffee-Verabredungen reservieren, mal sehen, wann nicht mal Döner mehr spontan geht.)

Auf dem Heimweg brauchte ich keinen Schirm mehr, es war ohne Regen kalt und ungemütlich. Lebensmitteleinkäufe bei Edeka und im Süpermarket Verdi. Zu Hause hängte ich nur noch schnell Wäsche aus der programmierten Maschine auf und goss Pflanzen, dann spazierte ich mit Herrn Kaltmamsell Richtung Hauptbahnhof zum Ca D’oro, wo wir vor Jahren schonmal gute Pizza bekommen hatten.

Der Teig schmeckte mir sehr gut, der Belag schon auch – aber die Hälfte davon hätte gereicht. Ich schaffte die Pizza ohne Überfressung, doch es ging keinerlei Schokolade mehr. Dafür gab’s bis zum Einschlafen Basilikum-Rülpserchen.

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Auf Mastodon fand ich einige Hinweise auf diesen Deutschlandfunk-Beitrag von Andi Hörmann:
“Gefallener Engel
Marieluise Fleißer und ihre Heimat Ingolstadt”.

Sehr schön gemacht. Man hört Fleißer auch selbst, aber vor allem viele Menschen, die im heutigen Ingolstadt mit ihr und ihrem Werk zu tun haben. (Nebenbei erfuhr ich, dass die Buchhandlung Gerd Stiebert, an der ich seinerzeit lernte, dass es auch kleine Buchläden gibt, nicht mehr vom Namensgeber geführt wird. Wo hat die Fleißer wohl davor in Ingolstadt ihre Bücher gekauft?)

Das freute mich besonders, weil ich in letzter Zeit oft an die Fleißer denke. Eigentlich seit Jahren jedesmal, wenn die Lebensgeschichte von Künstler*innen erzählt wird, die sich gegen ungeheure Widerstände durchsetzten, “an sich glaubten” und damit Erfolg hatten. Marieluise Fleißer ist die Patronin all derer, die sich irgendwann nicht mehr gegen die Widerstände stemmten, sondern nicht mehr konnten und wollten, die aufgaben. Deren Geschichte wird halt nur sonst nie erzählt. Erst aus diesem Hörstück lernte ich, dass der Fleißer-Preis genau zu diesem Thema ausgeschrieben ist: “Der Marieluise-Fleißer-Preis wird an deutschsprachige Autorinnen und Autoren vergeben, in deren Werk wie bei Fleißer der ‘Konflikt zwischen unerfüllten Glücksansprüchen und alltäglichen Lebenswelten’ zentrales Thema ist.”

Ich seh sie dann immer vor mir, wie sie im Tabakladen ihres Ehemanns mitarbeitet, bis er endlich stirbt und sie sich zu ihren eigenen Interessen zurückziehen kann. Wenn ich mein Ingolstadt erklären möchte, verweise ich immer noch auf Fleißers Theaterstück Der starke Stamm und auf ihren einzigen Roman Eine Zierde für den Verein.

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Gestern Abend erfuhr ich, dass es für “Dankbarkeiten” im kleinsten Theater Münchens eine zusätzliche Aufführung gibt, eine Matinee um 15 Uhr am Ostersonntag, 31. März: Vielleicht bekommen Sie hier noch Karten dafür.

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Man sieht nur mit dem Herzen gut? Uoah – das Herz hat dazu auch eine Meinung.

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https://youtu.be/_i72tIEvFaE?si=fgAPB-dcTvEwedh4

Journal Dienstag, 20. Februar 2024 – “Dankbarkeiten” nach Delphine de Vigan im kleinsten Theater der Stadt

Mittwoch, 21. Februar 2024

Eine deutlich bessere Nacht (nach drei kurzen/schlechten war ich sehr früh eingeschlafen), der Schlaf hätte meinetwegen länger dauern können. Der Wecker klingelte wieder zu Regengeräuschen.

Also wieder unterm Regenschirm in die Arbeit, zum Glück mit besserer Laune als am Montag.

Überraschend emsiger Vormittag, meinen Mittagscappuccino nahm ich deshalb wieder bei Nachbars (der war diesmal aber besonders gut). Spätes Mittagessen Avocado, Granatapfelkerne, viele Orangen – ich befürchtete Zuckerschock. Tatsächlich fiel ich lediglich ins Fresskoma und konnte die Augen kaum aufhalten.

Überfrüher Feierabend, weil ich abends ins Theater wollte – nein, diesmal nicht Kammerspiel-Abo, sondern ein kleines Westend-Theaterchen, Mathilde Westend, das sich als “kleinstes Theater der Stadt” bezeichnet. Ich hatte bei einem Mittagscappuccino im Café Colombo Werbekärtchen für die Inszenierung “Dankbarkeiten” gesehen, daheim recherchiert, und da sich Stück und Theater interessant lasen, eine Karte für die gestrige Vorstellung gekauft. Schließlich hatte ich mir ohnehin gwünscht, auf meinem inneren Kulturtracker mehr Punkte mit Abseitigem zu machen.

Heimweg unter trockenem, hellen Himmel mit größerer Besorgungsschleife: Ich holte in einer Arztpraxis ein Rezept, löste es gleich ein. Zu Hause Yoga-Gymnastik, zum besonders frühen Abendessen servierte Herr Kaltmamsell auf der Basis von Ernteanteil-Weißkraut ein Okonomiyaki, das wir uns teilten. Und dann machte ich mich auf den Fußweg ins Westend an ein Ende der Gollierstraße, das ich noch nicht kannte.

Beim Betreten des Mathilde Westend war ich ohne jeden Beweis bereit zu glauben, dass es das kleinste Theater der Stadt ist: 17 Klappstühle, Bühne, Toilette, Bar füllten einen Raum etwa halb so groß wie mein – zugegeben großzügiges – Schlafzimmer.

Teil des Bühnenbilds gleich bei der Eingangstür.

Bühnenbeleuchtung.

Eine Frau servierte gerade bestellte Getränke an die bereits besetzten Plätze, hakte mich dann von ihrer Liste der Zuschauer*innen ab, bat mich auf einen einzelnen freien Stuhl, damit die restlichen von Gruppen belegt werden konnten. Sie begrüßte kurz vor der Vorstellung auch das Publikum und verschwand dann: Das war Christina Matschoss, die im Stück gleich darauf die Marie spielte.

Im Mittelpunkt von “Dankbarkeiten”, inszeniert von Theresa Hanich, steht eine alte Frau, Michka (Elisabeth Rass), die nicht mehr allein zurecht kommt und in ein Heim zieht. Die junge Marie hilft ihr dabei, besucht sie immer wieder. Michka, die in ihrem Berufsleben vor allem von ihrem Wortschatz profitierte, verliert jetzt die Wörter, sie leidet unter Aphasie. Der Logopäde Jerome (Florian Hackspiel) versucht im Heim, diesen Prozess zu verzögern, kommt darüber ins Gespräch mit Michka. In diesen Austauschen und in Mischkas Träumen erfahren wir Stück für Stück, welcher Mensch Michka ist und war, wie sich diese Gegenwart im Alter und das Leben davor unterscheiden. Mit Humor und in einleuchtenden Beispielen erzählt “Dankbarkeiten”, was diese letzte Lebensphase im höchsten Alter aus Menschen machen kann, wie sie irgendwann nur noch Fertigkeiten und Freiheiten verlieren, keine neuen hinzukommen, Zwangsende der Selbstoptimierung. Das fand ich berührend, aber auch trostlos, selbst wenn das Stück ein tröstliches Ende anbietet.

Die Hauptrolle der Inszenierung aber hatte das Theater selbst, nämlich durch den Umgang mit all seinen Einschränkungen. Für Jeromes Auftritte und Abgänge wurde das Klo genutzt, Marie kam von und ging auf die Straße (das könnte bei heftigem Regen oder Schneefall abenteuerlich sein). Ein angedeutetes Bett, ein Stuhl, ein Hocker, ein Schränkchen – mehr war an Requisiten nicht nötig. Und die (handlungsbedeutenden) Traumsequenzen wurden als Film auf die Wand hinter der Bühne projiziert, untermalt von einem Musikthema in Abwandlungen, je nach dem, in welche Stimmung Michka geführt wurde. Ich stelle mir ja vor, dass diese Theatersituation eine reizvolle Herausforderung für Regisseur*innen sein müsste. Und frage mich, ob WoW – Word on Wirecard-Folterregisseur Łukasz Twarkowski auch daraus etwas machen könnte. Dann wieder: Ist das für die Schauspieler*innen nicht auch seltsam, derart dicht am Publikum zu spielen?

Nach gut anderthalb Stunden und heftigem Applaus stand ich wieder auf der Straße und ging zur U-Bahn, dem Stück hinterher sinnend (und meine gegen die Sitzsituation protestierenden Lendenwirbel zurückrenkend). Ich bin schon sehr gespannt auf weitere Inszenierungen in dieser Winzel-Umgebung.

Zu Hause merkte ich, dass das Abendessen nicht gehalten hatte und aß noch ein Schüsselchen Haferflocken, um nachts nicht von Hunger geweckt zu werden.

Journal Freitag, 16. Februar 2024 – Abendessen und Theater im Blauen Haus

Samstag, 17. Februar 2024

Es war nachts so mild, dass ich das Schlafzimmerfenster ganz weit geöffnet hatte; erst beim Klogang um vier schloss ich es gegen aufbrandenden Vogellärm.

Ich verabschiedete mich von Herrn Kaltmamsell bis Samstag: Wir würden beide den Abend aushäusig verbringen, aber einzeln, und er würde schon nachmittags abreisen.

Verzauberte Anblicke auf dem Weg in die Arbeit.

Ruhige Arbeit in der Arbeit. Ein paar Saatkrähen vor dem Bürofenster, die sehe ich diesem Winter sehr selten.

Mittagscappuccino in der Cafeteria der Nachbarfirma, auf dem Weg die erste Ahnung von Frühlingsluft in der Nase. Mittagessen eine Wiederholung vom Vortag: Apfel, eingeweichtes Muesli mit Joghurt.

Nach pünktlichem Feierabend spazierte ich in milder Luft über Einkäufe im Süpermarket Verdi nach Hause. Ich klatschte kurz mit Herrn Kaltmamsell ab, der gerade die Wohnung verließ.

Vor der Abendverabredung war noch Zeit für eine Einheit Yoga-Gymnastik, auch die interessant genug für eine Wiederholung: Ab Tag 9 ist das diesjährige 30-Tage-Programm von Adriene, Flow, anregend genug.

Treffpunkt fürs Nachtmahl mit Freundin war das Blaue Haus hinter den Kammerspielen, Wirtshaus und Theaterkantine. Obwohl es mir schon immer ein Begriff war, hatte ich noch nie dort gegessen und freute mich auf den Abend.

Als Vorspeise (es gibt hier nur Tageskarte) aß mein Gegenüber einen Salat und war sehr angetan, ich hatte einen Auberginen-Ziegenkäse-Flan mit Salat, der gut war, aus dem ich aber weder Aubergine noch Ziegenkäse so richtig rausschmeckte. Eine große Freude war der Wein dazu: Côtes du Rhône Visan “Madrigal”, Domaine Coste Chaude – wunderbar elegant.

Hauptspeise gegenüber Kalbslende, ich wählte die gebackene Blutwurst mit Kartoffel-Feldsalat, schmeckte ganz hervorragend. Gespräche über Beruf und Familie, über Literatur und Konferenzbetrieb.

Abgelenkt wurde wir immer wieder interessiert vom Theaterbetrieb: Offensichtlich wurde im Haupthaus der Kammerspiele Wer immer hofft, stirbt singend gespielt, das ich vor einem Jahr gesehen hatte. Ein Erzählmittel der Inszenierung ist eine Live-Kamera, die die Schauspielenden hinter die Bühne und bis ins Blaue Haus begleitet, die Bilder werden auf die Bühne projiziert – und jetzt sah ich diese Live-Aufnahmen von der anderen Seite. Sie begannen jeweils mit dem Einschalten der Filmbeleuchtung, kurz darauf wurde es vorübergehend schauspiellaut, wir sahen die Schauspieler*innen von hinten. Dieses Schließen des Inszenierungs-Kreises fühlte sich ausgesprochen befriedigend an.

Zu mittelspäter Nacht machten wir uns (beide überraschend angetrunken von der geteilten Flasche Wein) auf den Heimweg. Es war immer noch sehr mild, Marienplatz und Fußgängerzone lebendig vor Menschen.

§

Die US-amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit1 schreibt über die Veränderung San Franciscos:
“In the Shadow of Silicon Valley”.

Mir war nicht klar, dass autonome Pkw dort bereits seit einiger Weile lustig am Straßenverkehr teilnehmen.

I’ve become somewhat used to driverless cars in the years they’ve been training on the city’s streets, first with back-up human drivers, and then without. They are here despite opposition from city officials, including the fire chief, and San Francisco recently sued the California state bureau that gave companies licence to use the streets as their laboratory. Firefighters have reported driverless cars attempting to park on firehoses; last June one such car prevented emergency vehicles from reaching victims of a shooting; the vehicles are apparently unequipped to assess these situations and respond by stopping. Direct communication isn’t an option: the only way to get a driverless car to do anything is to contact the company in charge of it.

Hervorhebung von mir, denn das ist gruslig.

Solnit geht es aber vor allem darum, wie technische Entwicklung menschliche Interaktion reduziert – und das, wo zwischenmenschlicher Austausch immer die Haupttriebkraft von Fortschritt war. (Sehen Sie, das akzeptiere ich als bewiesen, obwohl ich genau diese Reduktion ganz persönlich begrüße. Mir ist bewusst, dass ich die kleine Minderheit bin, die sich freut, wenn die Büroflure leer sind; alle anderen klagen, dann hätten sie ja auch nicht reinzukommen brauchen, wenn sonst niemand da sei.) Rebecca Solnit vergleicht das San Francisco ihrer Jugend mit dem heutigen Stand – einem Paradoxon:

The luxury shuttle buses that Facebook, Google and Apple launched for their employees around 2012, by easing the congested commute, encouraged large numbers of them to move to San Francisco, which has now been fully annexed by the Valley. The desire of tech workers to live in this dense, diverse place while their products create its opposite is an ongoing conundrum. Many tech workers think of themselves as edgy, as outsiders, as countercultural, even as they’re part of immense corporations that dominate culture, politics and the economy.

  1. Genau: Das ist die Frau, die mansplaining definierte.[]

Journal Mittwoch, 7. Februar 2024 – William Shakespeare / Werner Herzog, Der Sturm / Das Dämmern der Welt

Donnerstag, 8. Februar 2024

Gute Nacht, nur die letzte Stunde vor Wecker mit leichterem Schlaf.

Es kündigte sich wieder ein schön heller Tag an.

Vormittags in der Arbeit kämpfte ich gegen bleiernde Müdigkeit, die ich mir überhaupt nicht erklären konnte. Für meinen Mittagscappuccino ging ich also extra weit, frische, kühle Luft (Mütze brauchte ich sehr wohl) und Koffein ließen mich deutlich wacher an den Schreibtisch zurückkehren. Mittagessen später: eine dicke Scheibe Schokoroggenbrot, vorgeschnippelte Blutorange und Grapefruit.

Kurzer Nachmittag, Feierabend mit Minusstunden, denn mein Abo an den Münchner Kammerspielen schickte mich am Abend ins Theater (und ich musste ja herausfinden, dass ich keine Energie für diese Termine habe, wenn ich normal lang arbeite). Auf dem Heimweg kaufte ich im Süpermarket Verdi Obst, dann in einem arabischen Nussladen in der Landwehrstraße gesalzene Pistazien und eine Nussmischung mit Safran.

Blöderweise war aus der bleiernen Müdigkeit des Vormittags jetzt massiver Schwindel geworden, ich befürchtete bereits nach Jahren ohne eine Migräne. Daheim legte ich nur kurz ab und verräumte meine Einkäufe, dann ging ich ins Bett – mit der traurigen Option, den Theaterabend bleiben zu lassen, wenn es mir nicht besser gehen würde.

Doch als ich nach einer guten Stunde aufstand, war der Schwindel tatsächlich weg, ich fühlte mich fit. Herr Kaltmamsell hatte auf meine Bitte das Nachtmahl vorverlegt, er servierte Nudeln mit Linsen (LINSEN!) und Ofenkarotten. Dann musste ich schon los, an den Kammerspielen erwartete mich William Shakespeare / Werner Herzog, Der Sturm / Das Dämmern der Welt (ich hatte bemerkt, dass mich mittlerweile eine Aufführungsdauern von drei Stunden nicht mehr schreckt). Ich marschierte (dann doch in den so schön marschierbaren Turnschuhen und nicht in Theater-Pumps) durch angenehme Abendluft zur Maximilianstraße.

Wieder wusste ich vor dem Angucken nichts über die Inszenierung. Mein Interesse basierte vor allem darauf, dass ich Shakespeares Tempest weder je gelesen noch gesehen hatte (nicht mal Greenaways Prospero’s Books), es aber über Herrn Kaltmamsells Erzählungen und Referenzen kannte, er spricht oft von der Geschichte. Der Bezug zu Werner Herzog ergab sich aus der Inszenierung (Dank an die Dramaturgie von Claus Philipp und Tobias Schuster), im Programmheft heißt es:

Hausregisseur Jan-Christoph Gockel verschneidet Shakespeares Stück mit Werner Herzogs neuem Roman “Das Dämmern der Welt”. Darin erzählt Herzog die Geschichte des Soldaten Hiroo Onoda, der 29 Jahre lang auf einer Insel den Zweiten Weltkrieg weiterkämpft. Alle Nachrichten darüber, dass der Krieg zu Ende ist, hält er für Fälschungen.

Das Bühnenbild (Julia Kurzweg) eher karg, im Zentrum zunächst ein Schiffsmast, genutzt wurde die Bühne selbst mit ihrer Veränderbarkeit. Später tauchte auch das ganze Schiff auf, ein rostiger und offensichtlich schon lang untergegangener Kahn, und zwar buchstäblich von unten aus der Bühne geholt.

Miranda und Ferdinand aus Der Sturm wurden von Marionetten dargestellt (Michael Pietsch ist auch Puppenbauer und -spieler), Miranda von einer verstörend kaputten Marionette, Nebenfiguren lagen als Marionettenköpfe auf der Bühne herum, Darsteller*in von Caliban (Michael Pietsch) und Ariel hoben sie auf und sprachen für sie.

Gestern sah ich auch wieder eine aktuell häufig verwendete Technik: Statt eines Vorhangs wurde vor der Bühne eine durchsichtige Projektionsfläche herabgelassen, die das Bühnengeschehen verdoppelte. Darauf wurden abgefilmte Ausschnitte des Bühnengeschehens vergrößert, zum Beispiel die Marionettenfigur der Miranda, die sonst zu klein für gute Sichtbarkeit gewesen wäre. Oder es wurde Handlung gezeigt, die hinter oder unter der Bühne spielte – die Transparenz der Projektionsfläche ermöglichte gleichzeitiges Verfolgen des Bühnengeschehens.

Zentrale thematische Elemente: Krieg (u.a.: Gibt es überhaupt Frieden? Oder wird andauernder Krieg nur hin und wieder durch die Illusion von Frieden unterbrochen?), Vergebung, Bilder, Rache, Hierarchien.

Herausragender Darsteller war Bernardo Arias Porras, den ich noch nicht kannte – er spielte Werner Herzog auf verschiedenen Ebenen (Lebensgeschichte erzählend, im Dschungel handelnd, Filmweisheiten predigend), mit seiner großgewachsenen, dürren Physis extrem weit weg von der Herzogs, immer wieder mit dieser leichten selbstvergessenen Überkandideltheit, die Männerfiguren wie ihn ein bissl bemitleidenswert machen. Ich werde die nächsten München-Tatorts gucken müssen, Kammerspiel-Talente wie Bernardo Arias Porras tauchen dort recht verlässlich in größeren Nebenrollen auf.

Erst heute Morgen erfuhr ich von Herrn Kaltmamsell, dass Werner Herzog heutzutage vor allem durch seine Auftritte in US-amerikanischen Fernsehserien bekannt ist. Gestern auf der Bühne ergab sich am Anfang des Stücks eine angenehme Verwirrtheit durch den “Herzog”, von dem bei Shakespeare die Rede ist, und seinem Namen.

In der Pause spazierte ich durchs Foyer und genoss das Gebäude.

Der Vorhang der Kammerspiele, extrem selten zu sehen.

Hinter der Bartheke im Obergeschoß.

Nach der Pause fiel fiel die Inszenierung in meinen Augen ein wenig ab, Ariel-Darstellerin Katharina Bach trug in Bardamenkostüm und Stand-up-Modus Gedanken zu Krieg und Frieden vor, dann wurden um und auf dem kreiselnden Schiff Handlungs- und Gedankenstränge aufgeräumt.

Rascher Heimweg durch leichten Regen, das eigentlich interessante Publikumsgespräch mit dem Regisseur musste ich auslassen (Momente, in denen ich euch Nachtmenschen beneide).

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In Spanien gibt es eine Kampagne #TengoNombre – #ichhabeeinenNamen: Geschäftsleute wollen nicht mehr bloß “der Eck-Chinese” sein.
“‘I’m not the Chinese on the corner’: Barcelona’s shopkeepers reclaim their names”.

Journal Freitag, 29. Dezember 2023 – Berlin 3 mit Frühstück in Neukölln und Show im Friedrichstadtpalast

Samstag, 30. Dezember 2023

Wieder lang geschlafen, es fühlte sich sehr nach Urlaub an.

Den Morgencappuccino tranken wir im Café des Literaturhauses (noch teurer, holla). Im Vorbeigehen sahen wir, dass hier im Viertel Käsekuchen San Sebastián angeboten wird.

Wir hatten eine Frühstücksverabredung in Neukölln und bis dahin reichlich Zeit. Also nahmen wir eine U-Bahn bis in die Nähe und gingen den Rest zu Fuß. Das Wetter war weiterhin viel zu mild für die Jahrezeit, doch jetzt zeigte der Himmel das Grau, das ich vom Berliner Winter kenne.

Am Neuköllner Schifffahrtskanal Treffen mit Freundin, ausführliche Gespräche, dazu Cappuccino und Frühstück, Joghurt mit Obst und Granola schaffte um eins auch ich.

Aus dem grauen Himmel regnete es mittlerweile auch hin und wieder. Wir ließen uns den Stand des Fahrradstraßenausbaus in der Gegend zeigen.

Von der U-Bahn-Station Rathaus Neukölln nahmen wir U-Bahnen zurück nach Charlottenburg, verbrachten den Nachmittag bis zum abendlichen Ausgehen mit Lesen im Hotel.

Schon beim Kofferpacken in München, eigentlich vorher beim Überlegen, was ich mitnehmen würde, hatte ich festgestellt, dass ich keinerlei Abendgarderobe für Nicht-Sommer besitze. Eine Weile spielte ich mit dem Gedanken, aus dem reichen dezemberlichen Angebot an Glitzerkleidung etwas zu kaufen, ein Pailettenkleid zu Beispiel, entschied mich aber aus Nachhaltigkeitsgründen (komm, wegen dem einen Mal) dagegen. Gestern Abend sah ich also eher nach Büro aus als nach Show im Friedrichstadtpalast.

Doch als ich mich vor Ort im Publikum umsah, erinnerte ich mich daran, dass winterliche Abendgarderobe ja nicht nur aus Glitzerkleidern besteht und nahm mir vor, mir wenigstens eine Abendjacke zuzulegen (grüner Samt?), die ich dann mit einer (noch zu kaufenden) Stoffhose kombinieren könnte.

Die Show “Falling in Love” war großartig wie erhofft. Immer neue atemberaubende Kostüme (diesmal wieder von Jean Paul Gaultier entworfen), wunderschöne Menschen, die bezaubernd tanzten und sangen, auf der größten Bühne der Welt wurde alles an technischem Schnickschnack vorgeführt, inklusive Bad in Kristallen und mehrfachen Wasser-Einlagen, dazwischen drei akrobatische Nummern (wer hätte gedacht, dass man aus Trampolinen und Reckstangen so viel rausholen kann?). Thema der vagen Show-Geschichte auch diesmal Liebe, Vielfalt, Toleranz.

Auf die Reihe hatte ich mich besonders gefreut – und bekam noch viel mehr geboten als erhofft: Sie war diesmal eingebettet in eine ungewöhnliche Choreografie (das Vorbild des Anfangs mit Armen finde ich gerade nicht: ein französischer Choreograf hat sie für eine Rollstuhlfahrer*innengruppe erfunden) und einfach atemberaubend.

Weiteres Highlight zum Schluss: Statt einer Diskokugel wurde ein riesiger, unregelmäßig geschliffener Kristall über der Bühne herabgelassen und angestrahlt – ganz neue Effekte, weitere Atemberaubung.

Eigentlich hatten wir geplant, am Spreeufer ein Lokal für einen Happen Abendessen zu suchen, doch es regnete energisch. So nahmen wir gleich eine S-Bahn zurück zum Bahnhof Zoo, gingen in der Nähe in einen indischen Schnellimbiss. Zwar hatte ich immer noch keinen Hunger (da hilft vermutlich die konsequente Reiseverstopfung), wollte aber verhindern, dass er nachts auftauchen und mich vom Schlafen abhalten würde. Das Dhal mit Reis schmeckte dann auch sehr gut.

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Eben diese wundevolle Reihe des Friedrichstadtpalasts hat kürzlich ein Jahrhundertfoto mit Margot Friedländer aufgenommen, hier die Entstehung.

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/_rzBRSSvdVU?si=n-D5sH3o28xCoUAN

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“Ich verstehe total, dass es unterschiedliche Sichtweisen geben kann, möchte aber, dass meine vorherrscht.”
Quelle.

(Kommt ins Kästchen zu “Ich bin überrascht und enttäuscht”.)

Journal Donnerstag, 30. November 2023 – WoW – Word on Wirecard in den Kammerspielen oder: Muss Kunst wehtun?

Freitag, 1. Dezember 2023

Ich hatte über das Stück WoW – Word on Wirecard von Anka Herbut, das ich Mittwochabend in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele sah, vorher nur gewusst, dass es irgendwie um den Zusammenbruch des betrügerischen Unternehmens Wirecard ging und multimedial gearbeitet würde (letzteres ist allerdings schon lang Inszenierungs-Standard). So brauchte ich eine Weile, bis ich erkannte, dass die Handlungen mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen arbeitet, dass es um Wirklichkeitssimulationen und ihre Erkennbarkeit geht.

Das ist schon länger ein Topos in der Fiktion, der die Fragen nach freiem Willen und Erkenntnisphilosophie durchspielt, ob der Mensch überhaupt die Fertigkeiten hat herauszufinden, was wirklich wirklich ist, was ein Vorspiegeln, Manipulation, Simulation – und ob die Antwort überhaupt relevant ist. (Das Konzept Multiverse, unter anderem in aktuellen Superheldengeschichten Standard, hat diese Fragen aufgegeben und setzt verschiedene, gleichberechtigte parallele Wirklichkeiten voraus.)

Verschiedene Wirklichkeitsebenen sind beliebtes Szenario in der Literatur, angefangen mit God games, in denen sich irgendwann der Protagonist als Spielfigur einer höheren Macht herausstellt, bis hin zur Science Fiction, die das Thema von Anfang an gerne aus vielerlei Perspektiven und mit vielerlei Erzähltechniken durchgespielt hat. Im Film kennt man das Setting zum Beispiel aus Total Recall, Matrix, Inception.

Jetzt ist es also auch in der Gattung Drama angekommen. Die Wirklichkeitsebenen in WoW – Word on Wirecard sind unter anderem:
– Ein Forschungslabor der frühen 1970er, in dem Wirklichkeitssimulationen programmiert wurden.
– Die Verfilmung einer Geschichte mit verschiedenen Wirklichkeits- und Simulationsebenen inklusive der Dreharbeiten.
– Der Wirecard-Skandal als schief gegangene Wirklichkeitssimulation – was ich besonders genial und witzig fand, weil das die erfundenen Wirklichkeiten des Geschäftsmodells und seiner Finanzierung ebenso erklären würde wie das Verschwinden des Protagonisten.

Die Erzähl- und Inszenierungstechniken für die Vermittlung unterschiedlicher Wirklichkeitsebenen:
– Dieselben Schauspieler*innen/Rollen in verschiedenen Kostümen/Maske,
– Film – auf der Bühne waren ständig zwei Kameras in Aktion, ihre Bilder und anderes Filmmaterial übertragen auf drei riesige, zusammenhängende Bildschirme über der Bühne,
– Räume auf der und hinter der Bühne, in denen mal die eine, mal die andere Wirklichkeit gespielt wurde,
– in der Pause die Einladung ans Publikum, auf die Bühne zu kommen und ein Glas Sekt zu trinken, mit den Darsteller*innen zu sprechen – Vermischung zweier weiterer Wirklichkeitsebenen.

Pausenbühne.

Das fand ich ungemein kreativ und hervorragend gemacht.

Zwei weitere Techniken aber führten mich zu der gestern bereits angerissenen Überlegung, wie viel körperlicher Schmerz am Publikum erzählerisch gerechtfertigt ist. Auf der Website zum Stück ist angekündigt “Stroboskop-Effekte, laute Musik”, am Einlass standen Ohrstöpsel bereit, an den Türen weitere Warnschilder.

Vor der Pause konnte ich mir meist rechtzeitig die Ohren zuhalten, wenn die Lautstärke der Musik über Lärm-Level anstieg und schmerzhaft wurde. Lichteffekte gab es in gewohntem Theater-Maß.

Doch direkt nach der Pause wurde das Stück mit über 20 Minuten Dauerbeschuss durch Höllenlärm und Lichtblitze ins Publikum fortgesetzt, die ich irgendwann nur noch in Flugzeugabsturz-Schutzhaltung durchstehen konnte, Finger fest in die eingeschobenen Ohrstöpsel gepresst. Stehen Licht- und Lärmfolter nicht auf Verbotslisten? Ist das mit “Überwältigungskunst” gemeint? Soll ganz, ganz sichergestellt werden, dass das Publikum irgendwas fühlt? Denn ich bin sicher: Auch ein paar Umdrehungen weniger und ohne Schmerz hätten Lichtgeflacker und Musik ihre erzählerische Wirkung erzielt.

Muss ich als nächstes mit Stromstößen im Sitz rechnen? Selbstverständlich mit Ankündigung und Warnung, am Eingang werden Gummimatten bereitgestellt, die man zum Schutz auf die Sitze legen kann?

Zumal solche Inszenierungen auch alles andere als inklusiv sind und beträchtliche Bevölkerungsgruppen vom Theaterbesuch ausschließen. An die Schauspieler*innen möchte ich gar nicht denken, ich verstehe jetzt besser, warum deutsche Bühnendarsteller*innen international den Ruf haben, die ließen alles mit sich machen.

Der Applaus war Mittwochabend groß, ich hörte Begeisterung – beobachtete aber, dass nicht nur ich völlig entkräftet von der Licht- und Lärmfolter lediglich zu mechanischem Klatschen in der Lage war und nur noch heim wollte.

Empfohlene Besprechung und Rezensionssammlung von Martin Jost bei Nachtkritik:
“Ein irrealer Betrugsfall”.

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Nach dem späten Vorabend bekam ich weniger Schlaf als sonst auf einen Arbeitsmorgen, doch der war gut.

Emsiger und konzentrierter Vormittag im Büro, vorm Fenster Leiserieselter, der auf dem Boden allerdings eher Matsch war. Schneller Mittagscappuccion bei Nachbars, erster Einsatz der Kapuze der neuen Winterjacke, funktionierte hervorragend.

Mittagessen eingeweichtes Muesli mit Joghurt, einen Orange.

Auch der Nachmittag emsig und konzentriert, ich musste mich nicht mit meinen inneren Schatten befassen.

Beim Verlassen des Büros zu Feierabend versuchte sich die Jahreszeit anzuwanzen.

Heimweg durch Schneefall, war ganz ok. Daheim Yoga-Gymnastik, Brotzeitvorbereitung, zum Nachtmahl den Ernteanteil-Zuckerhut mit Orangensaft-Erdnussbutter-Dressing (gut!) angemacht. Dann gab’s noch reichlich Käse und Süßigkeiten.

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Ach, Shane MacGowan… Jetzt können die beiden wieder Duett singen.

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https://youtu.be/qSkN4EXhBR8?si=8olf8tm9ndKzgOwk


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