Journal Mittwoch, 29. November 2023 – Sich nicht aussuchen können, worüber man sich aufregt

Donnerstag, 30. November 2023 um 6:34

Wieder sehr gut geschlafen, hätte gern mehr sein dürfen als bis Weckerklingeln.

Das Draußen wirkte beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster trocken, der Himmel nur wenig bewölkt. Weg in die Arbeit mit kompletter hoher Körperspannung, denn die Wege waren Schnee- und Eis-glatt. Dazu höllische Stirnhöhlenschmerzen links, ich hatte die Ibu am Morgen vergessen.

Im Büro gleich die Ibu nachgeholt, Wirkung wunderbar. Auch mein Frier-Gemecker zeigte Wirkung: Gestern herrschte Zimmertemperatur.

Kurz vor Mittag “Dienstgang”: Besorgungen für Weihnachtsfeier. Die Deko wird sogar halbwegs geschmackvoll: Geschmacklos wirkt meiner Meinung nach nur in großer Menge, unter einer bestimmten Opulenzgrenze sieht es lediglich erbärmlich aus. Bei geschmackvoll kann man auf minimalistisch reduzieren.

(Nachtrag: Mittagessen der letzte Granatapfel mit Orange, ein Laugenzöpferl.)

Sehr früher Feierabend mit Unterstunden: Ich wollte abends mein Theaterabo wahrnehmen, dafür habe ich nur nach gekürzten Arbeitstagen genug Energie. Erstmal fuhr ich zu Geburtstagsgeschenkbesorgung.

Daheim Yoga-Gymnastik und Häuslichkeiten, fürs frühe Nachtmahl ging ich mit Herrn Kaltmamsell auf den Christkindlmarkt am Sendlinger Tor: BRATWURSCHT!

Erster Gang Rengschburger spezial. Die hat ja praktisch Gemüsebeilage.

Zweiter Gang eine weiße Bratwurscht – auch die endlich richtig gut, geschmacklich (Thymian, Majoran) und weil sie frisch, knusprig und durchgebraten war, das hatte ich schon sehr lang nicht mehr.

Auch die Temperatur fand ich perfekt: Kalt genug für dampfende Bratwurst, für Mütze und Handschuhe – aber auch nicht kälter. Nachtisch gebrannte Mandeln.

Daheim ruhte ich mich nur kurz aus, dann Abmarsch zur Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele, dort WoW – Word on Wirecard.

Auf dem Weg Rathaus mit diesigem Gerade-mal-nicht-mehr-Vollmond.

Über den Theaterabend morgen mehr, der interessante Inhalt und die Erzähltechnik überschattet von der über die fast drei Stunden Stück immer dominantere Frage, wie weit körperliche Folter das Publikums bei Inszenierungen gehen darf.

Völlig erledigte Heimkehr kurz vor elf.

§

Eine Freundin erzählte kürzlich von ihrem mittelkleinen Sohn, den sie von klein auf nicht so leicht verstanden habe wie seinen älteren Bruder: Er kommuniziere viel weniger, ziehe sich immer wieder in sich zurück, wirke oft gereizt und schlecht gelaunt. Sie macht ihm das keineswegs zum Vorwurf (wenigstens mir gegenüber nicht), versucht ihn zu sehen, hat dafür auch schon professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Als Beispiel für die inneren Vorgänge des Buben erzählte sie von einem Morgen vor der Schule, an dem dieser Sohn beim Frühstück besonders gereizt und unleidlich gewirkt habe. In einer ruhigen Minute habe sie versucht, mit ihm den Anlass herauszufinden. Und es erwies sich: Sie hatte versehentlich seine Lieblingstasse dem älteren Bruder vorgesetzt. Doch der Kleine hatte nicht protestiert, weil ihm klar gewesen sei, dass sein Unwille völlig übertrieben war, der Auslöser komplett lächerlich.

Und ich verstand den Buben zu hundert Prozent, mir wurde schlagartig klar: IT ME! Seit ich denken kann, störe und ärgere ich mich ständig an komplett Irrelevantem, muss mir von dieser Störung die Laune und die Situation verhageln lassen. Doch ich bitte nicht um Änderung oder Rücksicht darauf, weil ich doch selbst weiß, DASS DAS WIRKLICH IRRELEVANT UND KOMPLETT LÄCHERLICH IST! Das hat zwei existenzielle Folgen: Erstens trainierte ich mich schon früh darauf, die meisten meiner Impulse und Bedürfnisse zu ignorieren, denn es wäre viel zu aufwändig und zeitraubend, sie erstmal auf echte Relevanz zu checken, objektiv und subjektiv, dafür bin ich ein viel zu schnell getakteter Mensch. Zweitens erleichterte ich mir das Leben über die Jahre, indem ich mich immer weniger in die knifflichsten solchen Situationen brachte, nämlich die mit anderen Menschen, die mich mit diesem lächerlichen Ärger ertragen müssen. Daher auch mein Neid auf Menschen, die sich offensichtlich frei entscheiden können, was sie aufregt/ärgert und was nicht (“lohnt sich doch eh nicht”), ich hatte noch nie die Wahl.

Das erzähle ich zum einen, weil ich hier erzählen kann, was ich will, und mich das beschäfigt. Zum anderen um zu demonstrieren, in welchen inneren anstrengenden Zwickmühlen schon Neuronormale leben können – das lässt mich ahnen, wie viel schlimmer Neurodiverse kämpfen müssen, ein Beispiel bei Donnerhall(en).

die Kaltmamsell

9 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 29. November 2023 – Sich nicht aussuchen können, worüber man sich aufregt“

  1. Christine meint:

    Ich denke, dass Sie da nicht alleine sind mit dem Dauergroll. Das geht mir ähnlich und hat für mich in meinem Leben eine ganz andere Konsequenz: Es gibt Dinge, die sollen bitte so sein, wie ich das will. Selten aus Starrsinn, meistens aus Effiziensgründen. Da ich mit meinen Wünschen anderen Menschen nicht auf den Keks gehen will und das Bitten darum mir unangenehm ist und ich deshalb ständig irgendwelche Türen zu mache, die andere geöffnet lassen oder Dinge wieder an ihren Platz räume etc pp, bin ich seit gut 10 Jahren Single. Die einzige Person, die ich in meinem Leben dulden kann, ist meine Tochter: Da wird erwartet, dass ich ihr hinterher räume. Alle anderen Menschen würden sich sehr bevormundet fühlen.

  2. Madame Graphisme meint:

    Ich freue mich über das Doppel-S im Versalien-“dass”!
    Sozusagen das Gegenteil. An Kleinigkeiten Freude.
    Leider sieht man seit Wiederauftauchen des unter Typographen nicht wirklich freudig aufgenommenen Versal-ß nun noch viel mehr die falsche Verwendung der Minuskelversion in Versal-doppel-S-Situationen.

    Vielen Dank für diesen kleinen Sonnenschein an meinem Morgen!

  3. Senor Verano meint:

    @Madame Graphisme: Ja! Sehr schön auch, dass Sie ein Auge dafür haben – mir fällt lediglich die typographische „Verballhornung“ allerorten auf.

  4. Trulla meint:

    Rengschburger! Sofort überfallt mich Heißhunger, aber leider muss ich wohl auf den Sommer in München warten. Und da kenne ich auch nur “Fräulein Grüneis” am Eisbach, wo ich sie bekommen kann.

  5. Sanne meint:

    Könnten Sie das, was Sie im letzten Absatz erwähnen, bitte noch einmal erklären, wenn Sie mögen? Vielleicht eine Situation beschreiben? Ich fürchte, ich habe das nicht richtig verstanden.

    Wer bestimmt denn, was relevant ist und was nicht? Was für mich selbst relevant ist, kann für andere völlig schnuppe sein und umgekehrt. Die eigenen Bedürfnisse – und erschienen sie noch so “lächerlich” – deshalb nicht hintanzustellen, war für mich persönlich ein langer Lernprozess. Klar, im Zusammenleben mit anderen wird es immer darum gehen, Kompromisse auszuhandeln. Aber wenn ich selbst meine Bedürfnisse nicht äußere, wer soll sie denn dann bitte erraten? Dass diese Äußerung im Fall eines Erwachsenen in entsprechender Form stattfindet, setze ich mal voraus.

    Im Beispiel des Jungen wäre das ja mMn eine Steilvorlage dafür gewesen, genau das zu lernen. Andere Kinder schreien, bocken und werden aggressiv; dieser Junge äußert seinen Unwillen offenbar anders. Aber er könnte lernen zu sagen: Ich möchte bitte zum Frühstück meine Lieblingstasse benutzen. Es ist ja überhaupt kein Ding, darauf Rücksicht zu nehmen. Ich persönlich habe auch Lieblingstassen; anderen Leuten ist es völlig egal, woraus sie trinken (und ob diese Gefäße sauber sind, welche Form sie haben etc.). Aber zu lernen, das zu äußern und auch zu lernen, dass das völlig in Ordnung ist, finde ich sehr wichtig.

  6. Elisa meint:

    Ich verstehe das sehr gut. Mein jüngerer Sohn (9) kämpft diesen inneren Konflikt häufig mit sich aus. Ich habe ihm jahrelang gesagt, dass er aussprechen solle, was ihn wütend/traurig o.ä. macht, dann würde es für mich leichter, eine Lösung zu finden. Das konnte er natürlich nicht und das machte ihn noch verzweifelter. Mittlerweile versuche ich mich in die Situation und sein Denken einzufühlen und spreche dann laut aus, was er wahrscheinlich fühlt/denkt/was der Auslöser war. Ich liege fast immer richtig und sage ihm dann, wie verständlich ich das finde, dass er gerade sauer/enttäuscht/wütend o.ä. ist.
    Das kürzt unsere gemeinsame Leidenszeit (er leidet v.a. unter seinen Gedanken/der Situation/den ungewollten Gefühlen, ich, weil ich ihm nicht helfen kann, aber sehe, wie sehr er sich quält, u.a. weil er Dinge zerstört, die er mag und ihm wichtig sind) sehr ab.

  7. FrauC meint:

    Ich glaube nicht, dass Leute sich aussuchen können, worüber sie sich aufregen. Aber alle haben unterschiedliche “kritische Punkte”, die anderen komisch vorkommen oder völlig egal sind, wie im Beispiel mit der Tasse. Eine Freundin wurde z.B. furchtbar kribbelig, wenn auf dem Esstisch ein Servierlöffel, Salatbesteck o.ä. so in der Schüssel lag, dass der Griff zu ihr zeigte. Irgendwann hat sie es mir leicht verlegen erzählt, ich musste etwas grinsen, weil das für mich völlig absurd klang, aber ab dem Zeitpunkt habe ich den Löffel von ihr weg gedreht oder mich nicht gewundert, wenn sie es tat.
    Wenn etwas für mich überhaupt keinen Unterschied macht, für eine andere Person aber schon, ist es doch gar kein Problem, mich so einzurichten, dass es für die andere Person gut ist. Im Gegenteil: jedes Mal, wenn ich merke, dass ich den Löffel “richtig” ausgerichtet habe, freue ich mich, dass ich E. etwas Gutes tun konnte. Und meistens fällt es mir gar nicht mehr auf.

  8. Neeva meint:

    Tsihi. Als meine Freundin aus der Hotelbranche ihren ersten Bürojob angetreten hat, hat sie erstmal die Teeküche saubergemacht und umgeräumt. Den Job war sie nach ein paar Monaten wieder los. Soviel zum Thema irrelevant.
    Leider gibt es außer der Fraktion “Mir isses wurscht und wenn ich dir damit eine Freude machen kann, super!” einen Haufen Leute mit sehr klaren Vorstellungen wessen Wünsche und Bedürfnisse etwas zählen und wessen irrelevant sind. Und mit Absicht nichts sagen “Das muss man doch wissen!” ist auch erstaunlich weit verbreitet.

  9. Sanne meint:

    Vielen Dank für dieses Beispiel. Das fand ich sehr interessant. Ich finde, das erfordert ein großes Einfühlungsvermögen, so gut darauf einzugehen.

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