Journal Dienstag, 15. Juli 2025 – Kunst und Literatur
Mittwoch, 16. Juli 2025 um 5:37Gut geschlafen, aber viel zu früh aufgewacht – ich sah einen Müdigkeitseinbruch am Vormittag voraus (trat ein kurz nach zehn).
Diesmal marschierte ich in Jacke in die Arbeit – doch diesmal war das eigentlich zu warm, dieses seltsame schwül-kühle Wetter verunsichert mich völlig.
Büro-Start mit Schwung aus dem Postfach.
Meinen Mittagscappuccino hatte ich schon am frühen Vormittag mit einer Kollegin auf deren Anregung in der Nachbarcafeteria verschossen, also ging ich um die Zeit und in einer Gewitterpause lediglich um den Block – die schwüle Kühle war einer schwülen Wärme gewichen.
Zu Mittag gab es Nüsse und Hüttenkäse, dann ein geschätztes gutes Pfund sensationelle Kirschen: riesig, schwarz und köstlich. (Ich zahlte nach einer Weile mit Bauchweh dafür.)
Nachmittags knallten Gewitter immer wieder kübelweise Regentropfen ans Bürofenster wie Munition aus Schrotgewehren.
Für den Feierabend hatte ich wieder einen Party-Plan: Die Schwester einer Freundin in Berlin ist Künstlerin und stellt gerade in einer Münchner Galerie aus, das wollte ich endlich ansehen und nahm eine U-Bahn dorthin.
Ums Maxmonument ist gerade alles kaputt, eine Fußgänger- oder Radlführung existiert nicht.
Es freute mich tatsächlich sehr, diese Bilder auf gefundenem Papier, die ich seit vielen Jahren unter anderem von der Website der Künstlerin kenne, im Original zu sehen – und an der Materializität viel Neues zu entdecken. Die Werke der anderen Künstlerin, die ebenfalls gerade dort ausstellt, überraschten mich positiv, die werde ich mir merken.
(Die Leute in der Galerie waren ein bisschen komisch, ich poste lieber keine Details und weitere Fotos.)
S-Bahn vom Isartor zum Stachus, von dort aus ein paar Einkäufe. Daheim Yoga-Gymnastik und Häuslichkeiten. Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell die ersten Ernteanteil-Zucchini als Pasta-Gericht mit Zitronenschale und frischem Basilikum – sehr gut. Zum Nachtisch nochmal Erdbeeren – vielleicht die letzten der Saison. Und Schokolade.
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Montag hatte ich Barbara Kingsolver, Demon Copperhead ausgelesen.
Ich stürzte mich blind in die Lektüre, nachdem ich einige Monaten auf die E-Book-Datei in der Münchner Stadtbibliothek gewartet hatte. In denen hatte ich alles über das Buch vergessen, außer dass ich es lesen wollte. So dämmerte mir tatsächlich erst ganz allmählich beim Lesen, dass der Roman aber schon arg David Copperfield von Dickens glich (tatsächlich assoziierte ich erstmal Oliver Twist wegen korruptem Vormundschafts-/Jugendamt und hungrigen, ausgebeuteten Kindern) inklusive Erzählsituation. Und ich brauchte bis nach dieser Passage –
(in Dickens’ Vorlage kommt diese Weisheit von Wilkins Micawber, allerdings deutlich blumiger und witzig)
bis mir der Titel des Buchs auffiel. Dieses langsame, unverdorbene Dämmern war aber sehr schön.
Kingsolver verarbeitet fast den gesamten David Copperfield als US-Unterschichten-Drogen-Variante im sehr ländlichen Virginia: Allwissender Ich-Erzähler in Umgangssprache und aus der Rückschau, ausgebeutete Waisenkinder, zwielichtige Pflegeeltern, gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit, aber immer wieder durchscheinend der Dickens-typische Optimismus.
Sehr klug ergänzt hat sie den zeitgenössischen Hintergrund der hausgemachten Drogensucht-Epidemie durch Oxycodon, vernachlässigte strukturame Regionen, die Psychologie von Pflegekindern. Und sie erfindet eine glaubhafte Erzählmotivation: Der Protagonist Damon schreibt als junger Mann in Therapie seine Geschichte auf. Nur selten aber wird die rückblickende Erzählsitution thematisiert, eher als Ausreißer.
Wie im Vorbild startet die eigentliche Geschichte nach ein wenig Vorgeplänkel mit dem Kind Damon und in schier unerträglichem Elend (aber mit ein paar hilfreich netten Erwachsenen). Von da an geht’s bergab, jeder Lichtschein am Horizont erlischt in immer noch einem Schicksalsschlag (oder wie die New York Times es zusammenfasst: “a relentless chain of tragedies interrupted sporadically with minor victories”). Mit der Zeit zog sich das in meinen Augen ganz schön: Dickens-Schinken lesen sich ja auch nicht mal eben weg, das war mir eine eher unangenehme Nähe zum literarischen Vorbild. Irgendwann las ich die Inhaltsangabe von David Copperfield nach, um die noch bevorstehenden Unglücke absehen zu können – und verlor fast den Mut. Doch auch ohne zu spoilern: Die späten finanziellen Nöte von Betsey Trotwood bleiben uns erspart. Worauf Kingsolver ebenfalls verzichtete: Die Ebene der Groteske, die Dickens durch einen gewissen Grad der Unzuverlässigkeit der Erzähl-Instanz schafft. In der London Review of Books beobachtet John Mullan:
Kingsolver does justice to the emotional and material deprivations of childhood in Dickens’s novel, but not to the comedy that sharpens the pain in the original.
Der Dickens-nahe Umfang des Romans (plus das lang dominante Thema Drogensucht, dessen Details mich schon seit vielen Jahren in ihrer Vorhersehbarkeit ermüden – ja ich weiß, dass das ein Vollzeitjob ist) hatte halt leider den Effekt, dass ich am Ende einfach nur froh war, den Roman rumgebracht zu haben. Fazit: Brillantes Handwerk – im englischen Sprachraum ist David Copperfield so sehr Allgemeingut, dass sich Kingsolver sehr genau auf die Finger schauen lassen musste. Auch der zeitgenössische Hintergrund wirklich gut gewählt.
Empfohlene Besprechung:
Elizabeth Lowry im Guardian:
“Demon Copperhead by Barbara Kingsolver review – Dickens updated”.
The idealism and concern with social justice that are characteristic of Kingsolver’s worldview find their natural counterpart in Dickens’s impassioned social criticism. While the task of modernising his novel is complicated by the fact that mores have shifted so radically since the mid-19th century – “immorality”, AKA extramarital sex? Who cares? – the ferocious critique of institutional poverty and its damaging effects on children is as pertinent as ever.
(…)
David Copperfield wonders “whether I shall turn out to be the hero of my own life”. Demon Copperhead poses a different question: what is heroism, anyway? When you’re a child born into a life without choices, this powerful reworking suggests, being a hero sometimes consists simply of surviving against the odds.
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Jajaja, schreiben oder lesen Sie gern weiter Artikel über “Internet-Sucht” und warum der Zugriff auf Social Media den Untergang der Zivilisation bedeutet. Mein Internet ist seit Jahrzehnten anders.
Lesen Sie zum Beispiel bei Herzbruch, wie es mit ihrer Horror-Verletzung weiterging.
“14.07.2025 (post-Puschelparade)”
Ich freue mich extrem, dass aus dem Bitte-niemand-sehen, Bitte-keinen-Besuch noch vor wenigen Monaten ehrliche Begeisterung über fremde Menschen im Haus werden konnte.
„Das ist aber das Internet von 2010!“
Und auch ich lasse mir das halt nicht wegnehmen.
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Wie ich von der Künstlerin Katja Kelm lernte, was Schattenfugenrahmen sind.
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