Archiv für August 2005

Nachrichten vor 25 Jahren

Mittwoch, 31. August 2005

Auf Bayern Alpha kommt jeden Abend um 19.45 Uhr die Tagesschau von vor 25 Jahren. Über die Jahre ist die Sendung für mich fast so wichtig geworden wie die tägliche aktuelle Tagesschau. Als ich etwa zehn Jahren alt war, scheinen die Nachrichten bei mir auf genug Wissen und Interesse gestoßen zu sein, dass ich sie behielt. Es ist sehr aufregend, diese Nachrichten heute noch mal zu sehen, mit all der Kenntnis späterer Entwicklungen. Zudem werden mir die Ursprünge so mancher meiner Ansichten, meiner Bilder von der Welt und von politischen Mechanismen klar.

In Spanien nach Francos Tod das Entstehen der Demokratie noch mal tagesaktuell mitzuverfolgen. Besonders spannend sind dabei die Einschätzungen und Kommentare der ARD-Korrespondenten (ziemlich fehl).

Blutige Unruhen in Südafrika, weiße Soldaten schießen schwarze Schulkinder nieder. Der seltsame Gegensatz zwischen den adretten Schuluniformen und den bitterarmen Hütten auf staubigem, kahlen Boden im Hintergrund.

Gespannt verfolge ich seit zwei Jahren die damaligen Entwicklungen im Iran. Mein Bewusstsein für diesen Staat begann erst durch die Revolution dort. Heute bin ich ganz verblüfft, wie westlich die Menschen und Städte damals wirkten. Dann kommt in Teheran Chomeini an die Macht, durchgeknallte Studenten stürmen die amerikanische Botschaft und nehmen die Menschen darin als Geiseln, das Regime macht aus dem Anschlag Einzelner Stück für Stück Weltpolitik.
Mir wurde klar, wie sehr mein Bild des Islam durch diese Epoche im Iran geprägt ist – vermutlich geht das meiner ganzen Generation so.

Völlig lächerlich erscheint mir heute der alltägliche Hickhack mit der DDR. Auch vor 25 Jahren ist gerade Wahlkampf, und die DDR-Besuchspläne von Helmut Schmidt werden von der Opposition als billiger Wahlkampftrick bezeichnet. Dann gibt es Uneinigkeit mit den Gastgebern über die Route. Schmidt fährt doch nicht.

Aufpassen muss ich allerdings bei Vorfällen, von denen ich zum ersten Mal höre, gerade bei reinen Textmeldungen – im Nachhinein weiß ich oft nicht mehr, ob ich sie aus der alten Tagesschau habe, oder ob sie eben erst passiert sind.

Sonst noch vor 25 Jahren:

– Die Polen gründen nach langen Streiks eine unabhängige Gewerkschaft – der Name Solidarność tauchte aber bislang nicht in der Tagesschau auf. (Ah, der wunderbare Aufkleber, rote Schrift auf weißem Grund – damals entdeckte ich erstmals meine polnische Seite.)

– Der postrevolutionäre Iran versucht, sich eine Verfassung zu geben. Streitpunkt ist das Gewicht des Islams.

– Sowjetische Gerichte schicken weitere Dissidenten, die die Öffentlichkeit der olympischen Spiele in Moskau genutzt hatten, ins Gefängnis und in die Verbannung.

– In Chile gehen die Menschen gegen Pinochet auf die Straße.

– Ein schwitzender Franz Josef Strauß versucht, die Wende herbeizuwahlkämpfen.

Nabelschnurblut nach Düsseldorf

Dienstag, 30. August 2005

Das Magazin Augsburg Journal erscheint monatlich. Doch mit seinem Umfang von 120 Seiten bietet es genug Unterhaltung für ein ganzes Jahr. Repräsentativ für die Septemberausgabe sei eine Meldung von Seite 3 (“Exclusiv – An dieser Stelle lesen Sie schon heute die Schlagzeilen von morgen”):

Crash (L.A. Crash)

Montag, 29. August 2005

Warum hat mich Crash nur so traurig gemacht? Zum einen sicher, weil mir das hervorragende Drehbuch, die Regie (beides Paul Haggis) und die erstklassigen Schauspieler die Qualen der Filmfiguren sehr nahe gebracht haben.
Die Ehefrau, die hilflos den tatschenden Händen eines zornigen Polizisten ausgeliefert ist.
Der Polizist, der seine eigene hilflose Wut über das Leid seines Vaters in rassistische Aggression umwandelt.
Der Ladenbesitzer, der über seinem Misstrauen gegenüber jedem Außenstehenden zum Mörder wird.
Der Polizist, der zusehen muss, wie sich seine Mutter und sein Bruder zugrunde richten und der sich trotzdem für sie verantwortlich fühlt.
Der Handwerker, der um seiner Familie willen Demütigungen und Willkür aushält, in eine Wolke von Traurigkeit gehüllt.
Die Polizistin, die die Missachtung ihres Geliebten erträgt und sich bei jeder neuen Verletzung um Verständnis bemüht.

Hilflosigkeit, Rassismus und Aggression sind die Elemente, die die Episoden von Crash verbinden. Und so machte mich zum anderen traurig, wie müßig jede Hoffnung auf ein Verschwinden dieser gesellschaftlichen Mechanismen ist. Mir fiel später Spike Lees Do the right thing ein, der ebenfalls diese Hoffnungslosigkeit hinterlässt.

Gleichzeitig ein ganz wundervoller und intensiver Film mit perfektem Erzählrhythmus, der so viel Los-Angeles-Alltag verwendet, wie es Mainstream-Hollywood zulässt. Die Beklemmung ist wohl dosiert: Der Film zeigt Gewalt genau auf die Art, die mir Angst macht: Szenen voll Furcht und Aggression, kurz vor der Eskalation, und dann zieht einer auch noch einen Revolver – das ist der Punkt, an dem ich die Spannung nicht mehr ertrage und hinter dem Sitz des Vordermannes verschwinde. Choreographiert abgeschlagene Gliedmaßen in Sin City haben diesen Effekt eben nicht; die Gewalt dort ist rein physisch, es ist keine Spannung damit verbunden, im Grunde gar keine Emotion.

(Hinweis für Memmen wie mich: Gewalttaten sind in diesem Film nie explizit zu sehen, sondern immer nur indirekt, z. B. ein tödlicher Schuss als Mündungsfeuer in der Dunkelheit. Ihr müsst also nicht weggucken.)

Intimes zum Sonntagmorgen

Sonntag, 28. August 2005

(Für die fette Vollidiotin. Lächeln ging nicht, weil dann die Gesichtsmaske abgebröselt wäre.)

Bärlauch – die Boyband der Kräutergewächse

Samstag, 27. August 2005

Das heutige Posting ist zum Anhören. (1,45 MB, 3:10 min)

An diese digitalen Schneidewerkzeuge habe ich mich noch immer nicht gewöhnt. Als ich das Tonschneiden lernte, war es 1987, und ich arbeitete mit Bobbys und Bändern. Ich saß in einem fensterlosen Tonstudio an der Schneidemaschine, unter Kopfhörern, die Hände auf den Metallscheiben, um die das Tonband gewickelt war, das dazwischen am Tonabnehmer vorbeilief. Durch manuelles Weiterdrehen erlauschte ich Schmatzer, Schnaufer, Pausen (wir erinnern uns an “Dr. Murkes gesammeltes Schweigen”), Ploppen, Verhaspeln. Um diese Störgeräusche zu beseitigen, markierte ich mit einem Stempel auf dem Band Anfang und Ende des Geräuschs, legte dann das Band zwischen zwei winzige Messer, die in die Maschine eingelassen waren, und drückte ein Knöpfen, das die Messer bewegte. Schnipp, einmal, schnipp, zweimal. Die Bandenden legte ich in eine Schiene und klebte sie mit speziellen Bandklebefetzchen wieder zusammen. Manchmal schnitt ich große Teile aus, weil ich sie an anderer Stelle verwenden wollte, oder weil ich sie nicht brauchte. Diese langen Bandabschnitte legte ich mir um den Hals, bis ich sie einsetzte oder sicher war, dass ich sie nicht mehr brauchen würde. (Dass sich jemand verschnitten hatte, erkannte man am verzweifelten Suchen in den Bandschnipseln am Boden – “irgendwo muss das P doch noch sein!”)
Es ist das langsame manuelle Weiterdrehen des Bandes, das ich an den digitalen Schneideprogrammen vermisse, denn das ermöglichte mir superfeines Hören. Mir ist schon klar, dass ich als Ersatz die grafische Darstellung der Tonspur habe und das Schmatzen jetzt ganz genau sehe statt höre. Aber es ist einfach nicht dasselbe.

Familienalbum – 8: Kühler Sommer

Freitag, 26. August 2005

1972 Urlaub in Galicien, Nordspanien. Es gibt davon zwar auch Badefotos, insgesamt scheint es aber eher kühl gewesen zu sein. Das sieht man auch an dieser Runde, die sich bei einer Strandbar niedergelassen hat. Links meine Yaya, neben ihr mein Vater und dessen Jugendfreund Pedro. Ganz rechts Pedros Frau Mindi (die ich immer ganz besonders bezaubernd fand, weil sie leicht vorstehende Eckzähne hat).

Von Praktikanten lernen

Donnerstag, 25. August 2005

In meinem Arbeitsleben möchte ich Praktikanten und Praktikantinnen nicht missen. Dass ich von der Unterstützung der jungen Leute profitiere, zudem über Praktika schon so manche erstklassige Mitarbeiterin gewonnen habe – das ist nur oberflächlicher Nutzen. Aber was bin ich da schon Typen begegnet! Zum Beispiel

– Das reiche Töchterchen, das schon 1997 ihr eigenes Handy hatte, und von der ich die Bezeichnung „Pornosocken“ für Nylon-Füßlinge übernahm.

– Der kleine, untersetzte dunkelhaarige Bursche, der unter Schlafkrankheit litt. Der nur unter Medikamenten arbeitsfähig war, unter deren Nebenwirkungen aber konstant zitterte. Trotzdem immer fröhlich und offen. Der Gedichte schrieb, nein, eher Gedichte baute, schmiedete.

– Der Kolumbianer, der auf eine deutsche Schule gegangen war und seinen MBA von einer mexikanischen Uni hatte. Von seiner alleinstehenden Mutter so klassisch wohl erzogen, dass er sich sichtlich unbehaglich fühlte, wenn ich ihm keine Möglichkeit dazu einräumte. So lernete ich, in seiner Begleitung vor Türen unauffällig langsamer zu gehen, um ihm die Chance zu geben, mir diese Türe aufzuhalten. Der so belesen und kulturell interessiert war, dass ich mit ihm das Bildungsspiel spielen konnte. Unaufdringlich, souverän, fähig und zuverlässig, so dass ich ihm nach kurzer Zeit ein ganzes Projekt rüberschob und lediglich supervisionierte.
Der am Ende seines halben Praktikumsjahres erzählte, er habe bei uns zum ersten Mal an einem Fotokopiergerät gestanden. Wie er dann bitte durchs Studium gekommen sei, fragte ich. Woraufhin er sachlich erklärte, für ihn als „reiches Söhnchen“ (sein Ausdruck) hätten das während seines Studiums entsprechende Dienstleister erledigt.
Von ihm habe ich auch gelernt, dass man mittelamerikanische Mangos knackig isst, weil sie dann erfrischend schmecken (gerne auch mit einer Prise Salz bestreut), nicht reif, weich, klebrig und süß.
Zudem war er Träger des schwarzen Excel-Gürtels und brachte mir einige einfache aber unbezahlbare Kniffe für das Schlachtfeld der digitalen Tabellenkalkulation bei.

– Der blondgelockte Enkel eines berühmten deutschen Schauspielers, der ein psychisches und soziales Wrack war, den Kopf voller Flausen, Aufmerksamkeitsspanne unter 60 Sekunden. Der blieb nicht lange, weil ich von ihm verlangte, dass er den vorher vereinbarten Arbeitsbeginn einhielt.

– Die Abiturientin mit Wespen im Arsch, die mich sehr an mich selbst in diesem Alter erinnerte. Mit tonnenweise Energie und supermotiviert erledigte sie alle Aufträge in Windeseile. Hastunichgesehn – schon stand sie wieder an meinem Schreibtisch: „Und was kann ich jetzt tun?“ Die eingefahrene Prozesse und Handlungsweisen in Frage stellte und gleich mal mit etwas Neuem und Effektiveren als Vorschlag ankam. Neben der ich mich schlagartig uralt, ausgelaugt und träge fühlte.

– Die zierliche, langhaarige polnischstämmige Studentin mit heiserer Stimme und der Körpersprache eines Holzfällers, die dem Backoffice der Agentur zur Hand ging. Die sich als Naturgenie in Preisverhandlungen herausstellte und bald den gesamten Einkauf übernahm (ich war zugegen, wie sie bei der Bestellung des wöchentlichen Blumenstraußes am Telefon sogar unseren langjährigen Blumenlieferanten dauerhaft runterhandelte).

Ich bin schon gespannt auf die nächsten.