Mögliche Themaverfehlung
Dienstag, 13. Dezember 2005 um 8:56Sowas, jetzt ist mir doch noch was zum Thema “erotische Tischgeschichten” eingefallen, aber etwas Anderes. Hiermit nehme ich also erstmals an einem Textwettbewerb teil, wer hätte das gedacht. Mein Beitrag zu Dons DADA:
Agenturweihnacht
Agenturweihnachtsfeier, das braucht sie gerade so dringend wie einen Kropf. Vor lauter Arbeit sieht sie sich eh nicht mehr raus, dann bedeutet Dezemberende auch noch Monatsabschluss und Quartalsende – als Etatchefin muss sie also Rechnungen schreiben, Stundenzettel auswerten, Rentabilität belegen, Quartalsberichte für die Vertragskunden formulieren, so manchen Posten noch schnell nachträglich absolvieren, um nicht zu lügen. Dazu die Weihnachtsdepression, die sicher wie das Amen in der Kirche spätestens zwei Wochen vor der Wintersonnwend einsetzt. Doch es hilft alles nichts, es ist früher Nachmittag und damit Feierbeginn, sie muss mit. Rechner aus, Winterjacke überziehen, in der ausgelassenen Unruhe der Kollegen verschwinden.
In Kleinbussen zu einem Münchener Nobelitaliener. Verzeihung, hätte sie nicht so sagen sollen. „Zu DEM Münchener Nobelitaliener!“ Ah, die beiden Agenturchefs werden vom Wirt lauthals und mit Umarmung begrüßt; hierher kommen vermutlich die vierstelligen Rechnungen über „Arbeitsessen zur Strategieplanung“, von denen die Buchhalterin hinter vorgehaltener Hand spricht.
Allesamt werden sie in ein düsteres Hinterzimmer geführt, eingerichtet in einer Mischung aus bayerischem Jagdschloss und Südtiroler Skihütte. Unauffällig im Hintergrund halten, besser mal auf einen Platz am Katzentisch in der Nähe des Ausgangs hoffen, um später unbemerkt verschwinden zu können. Mist, der Chef war noch nicht im Raum. Er kommt nach, legt ihr den Arm um die Mitte: „Komm, setz dich doch zu mir.“ Anstatt am Katzentisch landet sie mitten drin, neben dem Ehrenplatz, im Zentrum eines Treibens, das in solchen Situationen gerne als „fröhlich“ bezeichnet wird.
Sie versucht, sich in das rustikale Muster der Tischdecke zu vertiefen: Grün und Rot auf Leinenweiß, ist das gestickt, gewebt oder gedruckt? Aber es wird Geselligkeit von ihr verlangt. „Lieber den Roten, gerne.“ Sie blickt endlich auf und weiß, dass dieser Nachmittag ihr endgültig das Herz brechen wird. Denn er sitzt ausgerechnet mitten in ihrem Blickfeld, am anderen Ende des Raums und ohne dass die Sicht von jemandem oder etwas verdeckt wird. Alle schießen sie ihr gleichzeitig ins Gedächtnis, die brustzerreißenden Momente, in denen sie vergessen hatte, ihre Schilde hochzunehmen, und in denen ein Anblick, ein Wort, ein Lachen von ihm einen Sturm maßloser Verliebtheit ausgelöst hatten. Wie sie auf einer Geschäftsreise bei einer gemeinsamen Zigarette im Zugrestaurant seine endlosen honigblonden Wimpern betrachtet hatte, als er unvermutet erzählte, dass seine langjährige Freundin ihn nun doch verlassen habe, sie ihrem Hirn zusah, wie es „Scheiße, oh nein“ machte, und sie erst dadurch merkte, dass da eine Barriere gefallen war, die ihr geholfen hatte, sich gegen die Anziehung zu wappnen.
Hätte sie überhaupt Appetit gehabt – jetzt wäre er weg. Zumindest sitzt er seitlich zu ihr, und sie muss sich nicht wie eine Dreizehnjährige beim Guckt-er-guckt-er-nicht-huch-er-hat-gesehen-dass-ich-gucke fühlen.
Sie lässt sich die Antipasti servieren, obwohl sie weiß, dass sie sie kaum anrühren wird. Eingelegtes Gemüse, ein bisschen Meeresfrüchte, ein bisschen buntes Irgendwas. Als der Chef neben ihr aufsteht, es kurz still wird und er einen Trinkspruch ausbringt, merkt sie, dass ihr Weinglas bereits leer ist. Sie schenkt sich nach, mit leerem Magen rutscht der Alkohol besser. Wo sie doch weiß, dass sie davon doch auch noch rührselig wird und nicht etwa vergnügt. Dann soll es halt so sein, mit Anlauf in den Moorsee sentimentaler Erinnerungen. Die Fahrt zum Seminar mit ihm am Steuer, auf der sie fast eine Stunde lang vom Rücksitz aus die sanfte Haut seines Nackens unter dem stoppelkurz rasierten Haar betrachtete: War die Haut selbst golden gebräunt oder entstand der Schimmer durch einen goldenen Hauch von Härchen? Ach, wenn er statt des Herrenhemdes nur ein T-Shirt getragen hätte: Der steife Kragen verdeckte den Anblick eines sicher hinreißenden Trapezmuskels.
„Ja hallo Beate! Ja, super, auf dein Wohl!“ Beate erinnert daran, wie der andere Chef bei einer vorhergehenden Weihnachtsfeier darauf bestanden hatte, dass jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin ein Lied singt oder ein Gedicht aufsagt. Wegen Weihnachten. „Hoffentlich kommen wir heute drum rum. Wir sind ja auch so viele geworden.“ Sie lachen zusammen, alle lachen.
Sie hat die Antipasti geschickt auf ihrem Teller herumgeschoben, und niemandem fällt auf, dass sie nur einen Bissen davon genommen hat. Die Küche ist mit den vierzig Weihnachtsfeiergästen ohnehin überfordert; als ihr Teller endlich abgeräumt wird, sind die Vorspeisen jenseits jeder Appetitlichkeit. „Pasta?“ Klar, irgendeine Pasta, nur her damit. Und noch ein Glas Wein: „Danke, ich bleibe bei dem.“
Sie sieht wieder hinüber zu ihm. Er raucht, sie betrachtet seine großen Hände mit kurzen breiten Nägeln, wie sie beim Halten der Zigarette weniger Kraft als Bedachtheit ausstrahlen. Die zufälligen Berührungen im Gespräch, zu denen sie in impulsiven Stimmungen neigt, ein Stupser in den Oberarm, ein kurzes Tappen mit der flachen Hand aufs Knie. Die ihr nur bei ihm bewusst wurden und sie sofort befangen machten. Zumal sie bemerkt hatte, dass er selbst überhaupt kein Anfasser ist. Wie sie sich immer wieder ganz fest vorgenommen hatte, konsequent die Finger von ihm zu lassen. Und wie anstrengend das war, wenn er in einer Besprechung direkt neben ihr saß. Er ist ein guter Mensch, warmherzig, humorvoll, hat schon als Teenager Snowboardkurse für Kinder gegeben, ist so gar nichts für eine Affäre. Sie wiederum hat es überhaupt nicht mit festen Beziehungen, gemeinsamer Zukunft etc., Familie gründen, Baum pflanzen, Haus bauen – seinen Lebenszielen. Außerdem ist sie seine Chefin.
Zwei Gabeln Pasta sind genug, um zumindest festzustellen, dass dieser Italiener, mag er noch so DER und Nobel- sein, Gewürze für überschätzt hält. „Ja, können Sie abräumen, vielen Dank.“ Ihr Chef macht Konversation, der Wein, die Gegend, aus der er kommt: „Wirklich schön da, habe mir gerade noch zwei Kisten des 1980ers sichern können.“ Sie macht Zuhörlaute, erst als er über Literatur spricht, nimmt sie tatsächlich am Gespräch teil. Doch auch dann gehört ein Teil ihrer Aufmerksamkeit dem Geschehen auf der anderen Seite des Raums. Sie hört ihn laut mit den Kollegen albern. Da sein Auftreten ruhig ist, kommen seine Bonmots, meist im tiefsten Bayrisch, umso überraschender. Und umso näher geht es ihr, wie er vom Lachen nach hinten gerissen den Kopf zurückwirft, die Ansätze der Schlüsselbeine werden kurz sichtbar, wie er sich Tränen aus den Augen wischt, schlagartig scheinbar ernst wird, um die nächste Pointe zu setzen.
Der Fisch ist mehr als passabel, vielleicht ist sie aber inzwischen einfach betrunken genug, dass ihr Körper seine Appetitlosigkeit vergessen hat. Die lahmen Rosmarinkartoffeln lässt sie dennoch stehen. Sie bittet ihre Tischnachbarn, sie mal schnell rauszulassen. Irgendwie wenigstens kurz weg aus Rauch und Lärm. Auf der Straße ist es dunkel, außerdem nasskalt. Bleibt das Klo, hell und kühl. „Ah, hallo Petra, ham’s uns nicht mal zu Weihnachten das Schlangestehen erlassen? Ja mei.“
Ihr Mund ist unangenehm trocken, zurück an ihrem Platz bittet sie um ein Glas Wasser. Oh je, inzwischen hat er seinen Pulli ausgezogen und sitzt im T-Shirt da, kurzärmlig. Der Anblick schnürt ihr kurz die Kehle zu. Er ist durch und durch sportlich, hat sogar einen Lauftreff gegründet. Laufen hatte sie immer todeslangweilig gefunden, doch sie wollte ihm imponieren. Also trainierte sie erst mal heimlich für sich, um dann ganz beiläufig und gut in Form beim Lauftreff aufzutauchen. Fit genug, mit ihm zumindest eine Weile Schritt zu halten und aus den Augenwinkeln die Bewegung seiner Muskeln unter der engen Laufhose zu beobachten. Gibt es überhaupt breithüftige Läufer, gute breithüftige Läufer? Als sie an die Grenzen ihrer Ausdauer kam, lenkte sie sich mit der Vorstellung ab, wie sie ihre Handfläche in sein Hohlkreuz schmiegte, erst auf der Laufjacke, dann darunter auf dem Shirt, dann auf seiner noch vom Sport schweißkühlen Haut.
Sie ist nicht die einzige, die auf den Fleischgang verzichtet. Ihr Appetit ist wieder weg, Kalb reizt sie ohnehin nicht besonders. Die vielen Gläser Wein bereiten ihr Kopfweh, benebelt wendet sie sich wieder zu ihm hinüber. Und blickt ihm mitten in die hellen Augen. Ihr wird vor Schreck übel, dann überflutet sie Trauer. Sie schafft es nicht zu lächeln, wie man es automatisch beim Blickkontakt tut. Auch sein Gesicht ist ernst, und sie ist sich sicher, dass sie Distanz, Verstimmtheit und Abwehr in seinem Blick ausmacht. Vielleicht sogar Verachtung? „Wie? Nein, kein Dessert, danke.“ Nein, auch kein Espresso. Als sie wieder hinüberschaut, hat er sich seiner Tischrunde zugewendet.
Jetzt wäre sie sehr gerne nüchtern und klar, der Alkohol nimmt ihr jeden Schutz vor dem Gefühlssturm. Sie drückt sich wieder an ihren Tischnachbarn vorbei, nimmt ihre Tasche mit. An der Garderobe wühlt sie aus den Mantelbergen ihre Jacke, schlüpft hinein, tritt vor das Lokal. Es regnet ein wenig, aber sie weiß, dass sie davon nicht schneller nüchtern wird. Weinen wäre jetzt schön. Da vorne ist schon die Straßenbahnhaltestelle.
die Kaltmamsell14 Kommentare zu „Mögliche Themaverfehlung“
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13. Dezember 2005 um 10:37
Grosses Erzähltalent mit vielen Stimmigkeiten zwischen den Zeilen. Gerne mehr davon.
13. Dezember 2005 um 10:46
Eine schöne melancholische Geschichte, die Sie uns servieren, Frau Kaltmamsell.
13. Dezember 2005 um 11:58
Danke.
13. Dezember 2005 um 12:15
Sehr schön, Frau Kaltmamsell.
13. Dezember 2005 um 15:14
Oh, Frau Kaltmamsell, von wegen Themaverfehlung. – Das ist doch der relevante Text voll Arbeitswelt, um den die Bachmannpreisjury seit Jahren bettelt. Rentabilität, Geschäftsreise, Arbeitsessen – alles da. Welthaltig und auch noch eine auktoriale Erzählstruktur. Ich sehe die Jury weinen.
13. Dezember 2005 um 17:27
genau beobachtet und erfühlt
14. Dezember 2005 um 0:18
ja. texte, die man lesen will.
14. Dezember 2005 um 7:59
Vielen Dank für das Lob!
(aschantinuss, vielleicht mögen Sie das mit den Erzählperspektiven nochmal nachschlagen? Und dann das Stichwort “erlebte Rede“? Hey, Sie haben angefangen.)
14. Dezember 2005 um 9:22
Einer meiner beiden Lieblingstexte in der Konkurrenz, die der Don da ausgerufen hat. Wenn dieser Text nicht auf dem Stockerl mit dabei ist, dann stimmt was nich.
14. Dezember 2005 um 10:40
Eine wunderbare und einfühlsame, wenn auch sehr melancholische Geschichte. Vielen Dank dafür Frau Kaltmamsell.
14. Dezember 2005 um 19:50
Gespannt bin ich ja, wie sie weitergeht, diese Liebe zu den blonden Nackenhaaren. So eine Leidenschaft kann und darf nicht folgenlos bleiben.
Falls man eine Fortsetzung bei Ihnen beantragen kann, möchte ich es hier mit tun.
15. Dezember 2005 um 14:00
Sehr schön.
19. Dezember 2005 um 10:30
Gratulation zum 2. und 3. Platz! Ich finde Ihren Text auch sehr treffend und nahegehend.
26. Mai 2013 um 21:51
Großes Kopfkino! Dankez