Minutenmenschen

Donnerstag, 30. November 2006 um 13:02

Der Mega-Nerd, klapperdürr, weißer enger Rolli, Blutflecken auf dem Rollkragen, die bereits braun sind. Aber ganz sicher Blutflecken: Seine hohlen Wangen und das Kinn sind übersät mit Rasierschnitten, die sich auch über den sichtbaren Teil des Hühnerhalses ausbreiten. Früh-ältlich, natürlich mit schütteren blonden Haarflusen und einer dickglasigen Nickelbrille. Nach einem „Hallo“ sagt er erst mal gar nichts, schiebt nur einen bunten Tintenstrahl-Ausdruck seines Lebenslaufs über den Stehtisch in meine Richtung.

Die große, sehr schlanke Frau mit russischem Namen auf dem Schild am Revers, chinesischen Gesichtszügen, von Stirn bis Kinn und von Ohr zu Ohr voller Sommersprossen, schwarzer Pagenkopf.

Der Jungmann, zu dem mir während des Gesprächs unaufhörlich das Attribut smarmy* durch den Kopf geht, dessen Freundlichkeit eine unerschütterliche Selbstüberzeugtheit enthält, die ich hauptsächlich von religiösen Fanatikern kenne. Und – bingo! – er kommt von der einen bayrischen Wirtschaftsfakultät, woher ich ihn bereits nach den ersten Worten vermute.

Der schratartig vollverhaarte Nicht-mehr-so-jung-Mann in hellgrünem Dreiteiler, der nach kurzer und konfuser Einleitung A0-große selbsterstellte Poster ausrollt. Dessen Arme zu kurz sind, um sie mir ganz vor die Nase zu halten, und der deshalb zum Ausbreiten auf den Hallenboden ausweicht.

Ein fröhlicher Inder, der seit seiner Jugend davon geträumt hat, genau hier zu sein, genau dieses Gespräch zu führen. Und der genau der ist, von dem mein Arbeitgeber träumt. Wir wollen vor lauter gegenseitiger Begeisterung schier nicht auseinander gehen.

(Zum ersten Mal als echtes Standpersonal auf einer Messe. Sieben Stunden – zwei Unterbrechungen zum Wassertrinken – nur mit erhobener Stimme geredet, alle paar Minuten mit einem anderen unbekannten Menschen. Die bestialischen Halsschmerzen am Abend kamen glücklichereweise nur von einer offensichtlich falschen Sprechtechnik, nicht von einem Infekt.)

*nein, ich weiß keine deutsche Entsprechung, die auch noch exakt nach dem klingt, was sie bezeichnet

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Minutenmenschen“

  1. Stefan meint:

    ..und ich kann mir auch noch dazu vorstellen, wie dieser “smarmy” eingerichtet ist. Leider passt das Wort “Schleimer” nur bedingt. Oder “Kriecher” oder “Mehlwurm”. Oder doch lieber “Würstchen”? Ich werde weiter drüber brüten. Danke, Kaltmamsell. Jetzt hab ich einen Hirnwurm.

  2. Buster meint:

    @Stefan: Ich halte Deine Übersetzung für zu grobschlächtig, da fehlen Zwischentöne. Merriam-Webster schlägt vor:
    1 : revealing or marked by a smug, ingratiating, or false earnestness (a tone of smarmy self-satisfaction — New Yorker)
    2 : of low sleazy taste or quality (smarmy eroticism)
    Nicht wirklich übersetzbar ohne Kontext.

  3. albertsen meint:

    Das erinnert mich an mein erstes und einziges Mal auf der Cebit. Ich war drei Tage lang Standpersonal und war Student. Ich hatte nur einen einzigen Anzug dabei. Als mich Kommilitonen am letzten Tag besuchen kamen, sagten sie nur: “Du siehst aber zerknittert aus.” Schon damals festgestellt, wie unglaublich nörgelnd Nerds seinen können. Seitdem nie wieder auf der Cebit gewesen, noch nicht einmal als Besucher.

  4. Tanja meint:

    Herr albertsen, da hat man Sie in böswilliger Absicht ins Messer laufen lassen: Pro Tag ein Anzug und für drunter pro Halbtag neue Wäsche. Ich bin bei meinem letzten Messeauftritt schon leicht genervt gewesen, weil vom Pflicht-Shirt nur eines pro Tag eingerechnet war.

    Frau Kaltmamsell, das mit der Stimme kann auch an der Messe-Belüftung liegen, leider.

    Ich mag Messen. Flusch! Und eine andere Welt inklusive ihrer merkwürdigen Bewohner ist da. Wrrrummm! Und sie ist wieder weg.

  5. albertsen meint:

    Das mit dem Messer und dem da reinlaufen ist so nicht ganz richtig. Ich hatte nur einen Anzug, ansonsten nur Jeans mit oder ohne Löcher. Ich war Student. Informatik. Das sagt doch alles, oder?

  6. creezy meint:

    Da fällt mir wieder die allererste Internet World in Berlin „damals“ ein. Diese Messe war so großartig. Keiner wußte, worum es geht, jeder zweite Standbesucher nannte das Wort „Porno“ noch vor dem Wort „Content“, unser Inder hatte die Zahnbürste da, wo sonst die Freaks heute ihre Handys und die Starkstromanlages tragen – und jede Stunde wurde ein neuer Bus mit Freigängern aus Bonnie’s Ranch (unser Ausdruck für die Klapsmühle) angekarrt…

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