Verurteilt
Donnerstag, 3. Mai 2007„Pyknisch.“ Sie hatte zwar eine Sekunde überlegt, während sie meinen unterbewäschten Spätkinderkörper betrachtete, aber das Urteil der Schulärztin fiel mit fester Stimme: „Pyknisch.“
Alle Mitschülerinnen, die vor mir an ihren Tisch getreten waren, hatten ohne jedes Zögern ein „Körperbau: athletisch“ bekommen.
Der Tisch war im Sportlehrerzimmer aufgebaut, drumrum hatte man eine provisorische Arztpraxis eingerichtet – Vorhang, Liege, Waage, Messlattenständer, Tischchen für die Schreibkraft. Meiner Erinnerung nach waren wir bei der schulärztlichen Reihenuntersuchung im Gymnasium um die 12 Jahre alt. Man hatte uns geheißen, uns bis auf die Unterwäsche auszuziehen und alphabetisch nach Nachnamen nacheinander der Schulärztin unter die Augen zu treten. Mit dem üblichen Geratsche und Gelächter hatten wir das brav getan.
Die Schülerinnen nach mir bekamen ebenfalls ein „athletisch“, bis auf die Monika, die einen guten Kopf größer war als wir, eine dicke Brille trug, ein Doppelkinn über dem mächtigen Körper hatte, die sich schwerfällig bewegte, und die immer rot anlief, wenn sie etwas sagen sollte, vermutlich weil sie wegen eines Geburtsfehlers nicht sehr deutlich sprach.*
Die war ebenfalls „Körperbau: pyknisch“. Mehr brauchte es nicht, um mir die Bedeutung des Fachwortes klar zu machen: Athletisch war ganz offensichtlich schlank und normal, pyknisch war fett und unnormal.
Damit war das Urteil meiner superschlanken Mutter bestätigt, die jede Gelegenheit nutzte mich darauf hinzuweisen, wie dringend ich abnehmen musste, wie hübsch ich sein könnte, würde ich mich nur „ein bisschen beherrschen“.
Ich hoffe, die Ergebnisse dieser Reihenuntersuchung hatten in irgendeiner Statistik irgendeinen Nutzen. Dann hätte sich wenigsten ein bisschen gelohnt, dass mich das Urteil der Schulärztin bis ins Erwachsenenalter als Makel verfolgte.
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* Hier ein weiterer Beleg, in welch netter und freundlicher Umgebung ich zur Schule ging: Diese Mitschülerin wurde keineswegs ausgegrenzt, sie war ganz selbstverständlich Teil unserer Klassengemeinschaft. Na gut, wenn im Sportunterricht Mannschaften für Völkerball zusammengestellt wurden, gehörte sie zu den letzten beiden, die gewählt wurden. Aber es war unausgesprochen ausgemacht, dass sie und die andere extrem unsportliche Mitschülerin auf beide Mannschaften verteilt wurden. Monika war in anderer Hinsicht besonders: Sie schrieb Geschichten. Es fing damit an, dass wir uns in der 6. Klasse den todeslangweiligen Handarbeitsunterricht (die Buben durften mangels Werklehrer schon nach Hause gehen) mit Geschichtenerzählen versüßten. Die von Monika waren mit Abstand die besten und fast immer Gruselgeschichten. Irgendwann schrieb sie ihre Geschichten auch auf, und wir bekamen unseren Klassleiter (Lateinlehrer) dazu, dass sie diese im Unterricht vorlesen durfte. Das wurde ein regelmäßiger Stundenausklang.