Archiv für Mai 2012

Poetry Spam zum Nachholen

Mittwoch, 30. Mai 2012

Nun endlich online: Die Show “Poetry Spam” der re:publica 2012. Wenn Sie sehen und hören möchten, wie HappySchnitzel, misscaro, ruhepuls und die Kaltmamsell ganz schlimme Dinge sagen. Es war SO ein Spaß!

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https://youtu.be/sWYTZqXDrRk

Die Diskussion zu Foodblogs kann ich Ihnen leider nicht nachliefern: Die Veranstaltungen auf dieser Bühne wurden nicht gefilmt.

Sinnen suchen antworten

Mittwoch, 30. Mai 2012

@happyschnitzel verlinkte eine Liste “30 questions that will change the way you think” – und da ich erstens seit Jahren keine Frauengazetten mehr lese und somit völlig unterfragebogt bin, zweitens eh gerade sinnsuche, kam mir die Liste recht. Auf geht’s (and pardon my Denglish).

1. How old would you be if you didn’t know how old you are?
Unreif wie eine 16-Jährige, Platz im Leben einer 58-Jährigen.
2. Which is worse, failing or never trying?
Failing.
3. When it’s all said and done, will you have said more than you’ve done?
Ganz, ganz sicher – meine ständigen temperamentvollen Behauptungen verschleiern erfolgreich meine relative Untätigkeit.
4. What is the one thing you’d most like to change about the world?
Wie realistisch muss ich bleiben? Auf die Welt kommen zu müssen ohne Mitspracherecht finde ich einen eklatanten Missstand.
5. Are you doing what you believe in, or are you settling for what you are doing?
Ich werde demnächst eine Pause vom settling machen, weiß aber nicht, was daraus wird.
6. To what degree have you actually controlled the course your life has taken?
Kaum. Ich bin fast immer Impulsen gefolgt – das ist ja wohl keine Kontrolle.
7. Are you more worried about doing things right, or doing the right things?
Ich neige zum mikrospkopischen Blick: doing things right. Den Schritt zurück, ob ich überhaupt die richtigen Dinge tue, mache ich selten.
8. If you could offer a newborn child only one piece of advice, what would it be?
Da meines Wissens die kognitiven Fähigkeiten von Neugeborenen sehr gering sind: Einfach weiteratmen.
9. Would you break the law to save a loved one?
Ja. Nein. Ja. Nein. (Griechische Tragödie.)
10. Have you ever seen insanity where you later saw creativity?
Nein. Aber umgekehrt. Nicht lustig.
11. What’s something you know you do differently than most people?
Fortbewegung, nämlich ohne Auto.
12. How come the things that make you happy don’t make everyone happy?
Andere Prioritäten, andere Wahrnehmung.
13. What one thing have you not done that you really want to do? What’s holding you back?
Moment: Ich bin gerade erst dabei herauszufinden, was dieses eine Ding ist.
14. Do you push the elevator button more than once? Do you really believe it makes the elevator faster?
Nein. Aber ich mache mich innerlich lustig über Menschen, die das tun – was den Aufzug genauso wenig beschleunigt.
15. Why are you, you?
Weil ein ganz bestimmtes Spermium auf eine ganz bestimmte Eizelle getroffen ist.
16. Have you been the kind of friend you want as a friend?
Ja, wenn es um das Lassen von Freiraum geht. Nein, wenn es um das Aufrechthalten von Kontakt geht.
17. Would you rather lose all of your old memories, or never be able to make new ones?
Meine Erinnungen zu verlieren, würde das Leben erheblich anstrengender machen als ein Fall ins Koma – also lieber Koma.
18. Is it possible to know the truth without challenging it first?
Ich halte es eher mit Wahrscheinlichkeiten. Die meisten Fakten taugen zur Bewältigung des Alltags, ohne dass ich sie persönlich überprüfen muss (ziemliche Kugelform der Erde, grundlegende Naturgesetze). Bei zwischenmenschlichen Dingen sind unüberprüfte Annahmen schon gefährlicher.
19. Has your greatest fear ever come true?
Nein.
20. At what time in your recent past have you felt most passionate and alive?
Anfang Mai.
21. If not now, then when?
Wenn’s besser passt?
22. If you haven’t achieved it yet, what do you have to lose?
Bin doch gerade erst dabei herauszufinden, was ich erreichen will.
23. Have you ever been with someone, said nothing, and walked away feeling like you just had the best conversation ever?
Nein.
24. When was the last time you marched into the dark with only the soft glow of an idea you strongly believed in?
Meine Ideen nehmen gerne sehr schnell 500 Watt an. Der Augenblick des „soft glow“ ist zu kurz für einen Marsch.
25. If you knew that everyone you know was going to die tomorrow, who would you visit today?
Niemanden. Habe ich alle im Kopf.
26. Would you be willing to reduce your life expectancy by 10 years to become extremely attractive or famous?
Hahaha – in meinem Fall müsste die Frage lauten: “Would you be willing to extend your life expectancy…“ Lautet sie aber nicht. Also: JA! Gerne! Whatever works!
27. What is the difference between being alive and truly living?
Die Eignung für besinnliche Kalendersprüche.
28. What would you do differently if you knew nobody would judge you?
Nichts: Das judging habe ich so perfekt internalisiert, dass ich niemand anderen mehr dazu brauche.
29. When was the last time you noticed the sound of your own breathing?
Beim Einschlafen vor ein paar Tagen: Irgendwas in meiner Nase pfiff.
30. Decisions are being made right now. The question is: Are you making them for yourself, or are you letting others make them for you?
Oh, eine Diskussion über die Existenz des freien Willens? Lässt sich nicht herausfinden, macht auch keinen großen Unterschied.
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Dann folgte ich dem Link zur Quelle dieser Liste und stellte fest, dass es dort 20 weitere Fragen gibt:

31. If life is so short, why do we do so many things we don’t like and like so many things we don’t do?
Weil man manche Dinge, die man gerne tut oder bekommen will, erst tun kann oder bekommt, wenn man Dinge getan hat, die man nicht gerne tut.
32. If happiness was the national currency, what kind of work would make you rich?
Lesen und Schreiben und darüber sprechen.
33. If the average human life span was 40 years, how would you live your life differently?
Dann hätte ich es bald hinter mir. Ich müsste nicht mal herausfinden, was ich eigentlich will – das wäre der Unterschied.
34. You’re having lunch with three people you respect and admire. They all start criticizing a close friend of yours, not knowing she is your friend. The criticism is distasteful and unjustified. What do you do?
Ich verabschiede mich sehr schnell, da ich mich in meinem Respekt und meiner Bewunderung für diese Menschen ganz offensichtlich gründlich getäuscht habe. Hoffentlich würde ich schaffen, genau das zum Abschied auch zu sagen.
35. Are you holding onto something you need to let go of?
Ganz sicher. Auch das finde ich hoffentlich in den nächsten Monaten heraus.
36. If you had to move to a state or country besides the one you currently live in, where would you move and why?
Großbritannien. Irgendwas dort fühlte sich schon immer wie Zuhause an.
37. Would you rather be a worried genius or a joyful simpleton?
Hier wählt doch wohl jeder den Einfaltspinsel.
38. Which is worse, when a good friend moves away, or losing touch with a good friend who lives right near you?
Wenn ein guter Freund fort zieht.
39. What are you most grateful for?
Dass es jemanden gibt, der die Erträglichkeit des Lebens immer wieder herstellt.
40. Do you remember that time 5 years ago when you were extremely upset? Does it really matter now?
Ja, tue ich. Nein, tut es nicht. (Und jetzt? Lässt sich das Aufregen einfach abstellen?)
41. What is your happiest childhood memory? What makes it so special?
Ganz allein daheim sein. Kam selten vor, ließ mich leicht und bei mir selbst fühlen.
42. Why do religions that support love cause so many wars?
Weil Religionen per Definition menschenfeindlich sind: Sie stellen einen übernatürlichen Werteschaffer über alles Menschliche – die carte blanche für jede Art von Willkür.
44. Is it possible to know, without a doubt, what is good and what is evil?
Nein. Aber es gibt deutliche Näherungen.
45. If you just won a million dollars, would you quit your job?
Bin gerade am Herausfinden, wie ein job für mich aussehen muss, damit ich diese Frage garantiert mit Nein beantworte.
46. Would you rather have less work to do, or more work you actually enjoy doing?
Wenn es ohnehin das ist, was ich gerne tun möchte, ist es nicht work und darf ruhig einen großen Teil meines Lebens einnehmen.
47. Do you feel like you’ve lived this day a hundred times before?
Nein.
48. When is it time to stop calculating risk and rewards, and just go ahead and do what you know is right?
Wenn es nicht mehr anders geht.
49. If we learn from our mistakes, why are we always so afraid to make a mistake?
Weil andere darunter leiden könnten.
50. What do you love? Have any of your recent actions openly expressed this love?
Atmen, essen, lesen, mich bewegen – doch, das habe ich ausgedrückt.

Nachtrag: Ah, eine Frage ist mir durchgerutscht!
43. In 5 years from now, will you remember what you did yesterday? What about the day before that? Or the day before that?
Nein, ziemlich sicher nicht. Bis auf das, was ich gebloggt habe.

Neue Bekanntschaft

Sonntag, 27. Mai 2012

Bekanntschaft mit einer ganz reizenden Viermonatigen gemacht.

Dazu gab es Gegrilltes (Dorade!), Sonne, Weißwein, am Horizont Pferde und schemenhaft Alpen.

Wetterlob

Samstag, 26. Mai 2012

Welch ein Traumwetter! Sonne, die man nur strahlend nennen kann, Wolken höchstens zur Deko, warm genug für draußen und leichte Kleidung, aber ohne Hitze und mit Wind, so dass es sogar in der Sonne angenehm ist. Ich fühlte mich heute auf meinem Isarlauf 20 Jahre zurückversetzt in meinen Sommer in Wales: Genau so war das Wetter 1992 in Südwales fast durchgehend zwei Monate lang.

Zudem ist jetzt die Zeit der Wiesenblumen (seien Sie mal froh, dass ich als Blümchenknipserin völlig unbrauchbar bin), besonders die Akeleien haben es mir angetan, mit ihren verwunschenen Blüten. Heute begegneten sie mir in Dunkellila, Pink und Hellrosa. Schon in ein, zwei Wochen sind sie weggemäht.

Zukunftvisionen

Donnerstag, 24. Mai 2012

Nein, meine Damen und Herren, ich weiß immer noch nicht, was aus mir werden soll.

Drei Wochen werde ich noch täglich Arbeiten gehen in dem Unternehmen, das mich seit zehn Jahren beschäftigt. Und dann nicht mehr. Die Monate danach will ich erst mal nichts Berufliches machen; für drei bis vier Monate müssten meine finanziellen Rücklagen ausreichen, ohne dass ich die Eiserne Reserve angreifen muss. Freiwillige Weiterversicherung bei meiner Krankenkasse habe ich bereits beantragt. Ich hoffe, dass diese Monate reichen, mir darüber klar werden, wie ich Leben und Lebensunterhalt künftig zusammenbekommen möchte. Die Spannbreite möglicher Ergebnisse geht von Arbeitstätigkeit, die mir das eigentliche Leben finanziert bis zu einem Leben, das deckungsgleich ist mit Lebensunterhalt verdienen.

Aber freilich hatte ich schon Zukunftsvisionen. Nur bestanden diese bislang keineswegs wie erhofft in großen und kleinen Projektideen, die ich nach Abstreifen des derzeitigen Angestelltenjochs endlich, endlich umsetzen kann, nicht aus Korbflechten, Buchschreiben, die Welt bereisen, mir einen Hund zulegen. Sondern im Blick auf Discounter und Kruschklamottenketten, von deren Angebot ich mich künftig abhängig sah. Im bewussten Meiden von Delikatessläden und den Auslagen von Goldschmieden, da ich mich endgültig und in alle Ewigkeit nicht mehr zu deren Klientel zählte. Beim Blick nach links und rechts schoben sich nur die niedrigst entlohnten Arbeitsstellen in mein Sichtfeld: Ich betrachtete Kassiererinnen, Klorollenauffüllerinnen, Catering-Mäuse daraufhin, ob ich deren Job machen könnte und wie lange ich das wohl aushalten würde. Irgendeine innere Ratte sah meine Zukunft bereits in der Gosse und keineswegs mit vom Wind der Freiheit zerzausten Haaren auf Berggipfeln. Diese Phase ging allerdings zum Glück vorbei. (Ich würde gerne ein ernstes Wörtchen mit meinem Unterbewussten reden.)

Bei den vielen kleinen Schritten der recht existenziellen Jobübergabe, die ich gerade vollziehe, wird mir natürlich klar, wie viel Fachwissen und Erfahrung ich in zehn Jahren im Unternehmen und 15 Jahren in der PR-Branche gesammelt habe. Meine Güte, ich Literaturwissenschaftlerin betanze inzwischen sogar Bilanzterminologie halbwegs parkettsicher! Und mir wird hin und wieder schwindlich im Bewusstsein, dass ich das alles wegwerfe.

Aber ich kann nicht anders.

Potenziale ausschöpfen – ach, geht mir weg. Das habe ich seit dem Abitur gemacht. Und beschwere mich darüber nicht im geringsten: Ich habe immer nach dem Spannendsten gegriffen und meine Potenziale reingeworfen. Aber irgendwo ist unterwegs etwas kaputt gegangen. Ich will nichts mehr machen, bloß weil ich es kann, und schon gar nicht, wenn das Leidenschaft und Feuer verlangt.

Ja sicher sind das Luxusprobleme, first world problems, aber sie sind da und es sind meine. Und ich bekomme sie hoffentlich bittebitte in absehbarer Zeit in den Griff, damit meine einzigen bisherigen Zukunftsvisionen nicht Wirklichkeit werden.

John Irving, In One Person

Mittwoch, 23. Mai 2012

Praktisch spoilerfrei.

Roberta war die erste Transsexuelle, mit der ich nähere Bekanntschaft machte, nämlich in der Verfilmung von Garp und wie er die Welt sah, gespielt von John Lithgow. (Ein prägender Eindruck: Wann immer ich John Lithgow danach in welcher Rolle auch immer sah, jubelte ich: „Roberta!“). In John Irvings Vorgängerroman von The World According to Garp (1978), in The Hotel New Hampshire (1981), war bereits ein bisexueller Bär aufgetaucht – na gut, eine bisexuelle Frau, Susie, im Bärenkostüm, die erst die Schwester des Erzählers, Franny, zum Singen bringt, später die Partnerin des Erzählers wird. Zur Besetzung von The Hotel New Hampshire gehört zudem der schwule, ältere Bruder des Erzählers, Frank. A Son of the Circus (1994) ist reich ausgestattet mit Frauen, die mal Männer waren, es zum Teil noch sind, sich nicht festlegen wollen.
Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie Vergewaltigung kommen in fast allen Romanen Irvings vor, ersteres ist das Hauptthema in Until I Find You von 2005. Weiterhin das Recht auf Abtreibung, um das Iriving The Cider House Rules (1985) geschrieben hat. Alles in Allem: John Irvings bisherige Romane haben sexuelle Selbstbestimmung gründlich und in vielerlei Facetten durchgespielt – und das sind nur die, die mir ohne Nachschlagen eingefallen sind (die Veröffentlichungsjahre habe ich aber nachgeschlagen).

Warum also nochmal ein Irving-Roman zu diesem Thema, genauer: In dem es explizit fast ausschließlich darum geht? Weil, so fürchte ich, Irving diesmal vor allem eine BOTSCHAFT hatte. Was meiner Erfahrung nach als Hauptmotivation fürs Schreiben einem Roman nicht gut tut.

In One Person ist die fiktive Autobiographie von Billy, geschrieben aus der Perspektive des Fast-Siebzigjährigen. Die Botschaft wird im letzten Absatz des Romans nochmal unterstrichen: “Don’t put a label on me—don’t make me a category before you get to know me!“ (Kursivsetzung im Original.)

Die Geschichte beginnt mit Billys crush auf die Bibliothekarin Miss Frost, als er 15 ist: „I’m going to beginn by telling you about Miss Frost.“ In Vor- und Rückschauen rollt dieser Ich-Erzähler die Geschichte seiner Familie in einer Kleinstadt in Vermont aus, von Anfang an sind dabei sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität Thema, in vielen, vielen Schattierungen. Der Erzähler selbst ist sowohl zu Buben, später Männern als auch zu Frauen hingezogen. Und das wird in vielen Details reflektiert und diskutiert, unter fast allen Personen des Romans – genau hier setzte meine Skepsis ein: Es stieß mir als ausgesprochen unrealistisch auf, dass eine ganz normale amerikanische Familie in den frühen 60ern so frank und frei über Sexualität spricht, und nicht einmal damit als besonders markiert wird.

Billy outet sich mit 18 als bisexuell, geht mit seinem ersten Liebhaber auf Europareise, studiert in New York (er will Schriftsteller werden), ein Jahr in Wien, lebt im New York der 70er, erlebt Anfang der 80er das anfangs so mysteriöse massenhafte und qualvolle Sterben von Schwulen, hat Partnerschaften und Freundschaften. Das alles ist detailreich, ergreifend und interessant genug, um die Leserin bei der Stange zu halten.

Doch gleichzeitig bleibt die Geschichte sehr explizit und unsubtil: Die zentralen Charakterzüge und vor allem Charakterfehler der Hauptfiguren drückt uns der Ich-Erzähler wieder und wieder rein, doch richtige Konflikte kommen praktisch nicht vor – nicht mal äußere: In Wien lebt Billy Mitte der 60er problemlos mit einer Frau unverheiratet in Untermiete, davor schon war er ja mit einem Liebhaber auf Europareise, ohne dass sich irgendwo irgendjemand daran zu stören schien. Die Geschichten, die ich über solche Situationen von nicht erfundenen Menschen aus dieser Zeit gehört habe, klingen ganz anders.

Die Erzählstimme ist schlicht und platt, Nebenhandlungen fehlen. In Erzähltechnik steckt Irving seinen Ehrgeiz offensichtlich seit einigen Romanen nicht mehr, das tat er zuletzt in Widow for One Year (1998).
Das zeigt sich auf der Metaebene auch in einem Nebenthema des Romans: Literaturrezeption taucht in In One Person immer wieder auf, es werden Shakespeare-Stücke diskutiert und einige Romanklassiker. Doch der Ansatz ist immer deutlich vormodernes 19. Jahrhundert: Über die Charaktere wird rein psychologisierend gesprochen – von wem war nochmal „Siegmund Freuds Einfluss auf Shakespeare“?1, der einzige andere Aspekt ist Freude an poetischer Sprache.

Doch die Fertigkeit, eine Geschichte möglichst gut und vielleicht sogar künstlerisch interessant zu erzählen, scheint Irving nicht mehr recht zu interessieren. Indirektes Vermitteln von Information, das durch die Art der Vermittlung weitere Information transportiert – das konnte Irving mal meisterlich. Nach Widow for One Year scheint ihm das egal geworden zu sein. Ich vermisse den früheren Irving sehr.
Kunst ist jetzt durch BOTSCHAFT ersetzt. Das Lesen, das in In One Person beschrieben wird (englische Klassiker des 19. Jahrhunderts, darunter natürlich wieder Irvings Liebling Dickens, zudem als zentraler Roman Madame Bovary), hat die Funktion seelisch zu erbauen und aufzuklären, beschrieben werden auch immer wieder kathartische Prozesse angestoßen durch Lektüre – der Verdacht liegt nahe, dass Irving darin auch den Zweck von In One Person sieht. Doch ich bin Zweckliteratur gegenüber misstrauisch: Ich verdächtige sie automatisch des Manipulationsversuchs. Der Sache (Recht auf sexuelle Selbstbestimmung fördern) hätte Irving vielleicht mit einer PR-Kampagne mehr gedient.

Noch ein paar Details, die mir auffielen:
– Im ganzen Roman wird deutsche Literatur (vor allem Goethe und Heine) korrekt zitiert – ein erstes Mal bei Irving und eine große Freude.
– Ja, der Ringsport spielt wieder eine Rolle, diesmal aber ringt der Protagonist nicht selbst.
– Bären tauchen auf – in einer charmanten Nebenvariante.
– Während es im Vorgängerroman Last Night in Twisted River zentral um Essen und Kochen ging (in Until I Find you eher um Essstörungen), kommt Essen in In One Person überhaupt nicht vor – so sehr nicht, dass es auffällt.

Das mag sich bisher so gelesen haben, als hielte ich In One Person für einen schlechten Roman – nicht doch! Das Buch ist spannend, voller Charaktere, die ich gerne kennengelernt habe. Sehen Sie mir nach, dass mir vor allem auffällt, was der Roman nicht ist und was er hätte sein können. John Irving ist unter seinen Möglichkeiten geblieben.

Nachtrag: Andere Meinungen zu diesem Roman.
The Guardian “John Irving’s memorable hymn to individuality”
The New Yorker (Achtung: Spoiler!) “Irving is intent on depicting the plague years with solemnity and feeling, and, if he doesn’t fully succeed in re-creating the way we lived then, he achieves a piercing, intermittent fidelity.”
The New York Times (Achtung: Spoiler!) “If ‘In One Person’ were more coherent, Mr. Irving would not deliver his toughest punches from atop a soapbox.”
The Daily Beast (Noch eine Rezensentin, deren Vater fast exakt so alt ist wie John Irving) “The new frankness that has seeped across society in the post-Garp years has allowed Irving to lay out his inclusive vision in In One Person more explicitly than he has in the past.”
The Oprah blog “What transforms the story from a predictable novel about private secrets into the story of a young man understanding his identity in the context of his family and past is Irving himself.”
The Globe and Mail (Achtung: unverschämte Spoiler!) “This is a novel that reaffirms the centrality of Irving as the voice of social justice and compassion in contemporary American literature.”
Xtra! “In One Person, as a story about sexual differences among people, has real potential to help effect positive change for gay and trans people, especially in the US.”

  1. Ernsthaft: Es ging in dem Aufsatz natürlich um Rezeptionsgeschichte, nicht um Zeitreisen, und wie die Shakespeares von Freud beeinflusst wurde. Kann mir jemand weiterhelfen? []

Der 19. Rosentag

Montag, 21. Mai 2012

Hier seine Version, wie das alles kam.

Hier meine Version, wie das alles kam.

Und hier ein paar Gründe, warum das schon so lange hält: “Wenig Sex, konstantes Unglück und Resignation.”


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