Bachmannpreis 2012 – der Samstag
Samstag, 7. Juli 2012 um 19:34Kindheitserinnerungen mit Tieren – das Themenspektrum der diesjährigen Bachmannpreistexte kippte 2012 schon fast lachhaft stark in diese Richtung.
Ein kindliches Ich erzählte auch in Matthias Nawrats (eigenständiger!) Geschichte „Unternehmer“. Nawrats Lesung, vorgeschlagen von Hildegard E. Keller, eröffnete den dritten und letzten Tag der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.
Diesmal war die Handlung im südlichen Schwarzwald angesiedelt. Ein junges Mädchen an der Schwelle von Kindheit zu Jugend beschreibt ihr Familienleben, in dem der Vater alte Elektro- und Elektronikgeräte auf Rohstoffe auschlachtet, dabei seine beiden Kinder als Helfer einsetzt. Die alternative Lebensweise der Familie erinnert an gesellschaftliche Aussteiger, übrig geblieben aus der Anti-Atomkraft-Bewegung der 80er, die als Selbstversorger den Kapitalismus hinter sich lassen wollen. Das Ziel, das der Vater als Traum vorgibt, ist die Auswanderung nach Neuseeland. Das Unternehmertum, das bereits der Titel der Erzählung nennt, ist ein ziemlich abseitiges: Der Vater scheint zum Beispiel kein Problem damit zu haben, dass sein Sohn bei der Jagd nach alten Maschinenteilen einen Arm verliert: „Weil ein Unternehmen seine Opfer fordert.“ Auch die Sprache orientiert sich nicht am üblichen Gebrauch, macht sich durch künstliche Substantivierung sperrig. Und die Tiere? Diesmal hatten wir Frösche in einer Nebenrolle.
Daniela Strigl nannte die Erzählung, die ihr gefallen habe, eine „Parodie des Familienidylls“, die ein Kleinunternehmen der besonderen Art zeige. In einer ganz besonderen Sprache würden Menschen gezeigt, die ihre existenziellen Niederlagen in Triumphe uminterpretierten. Sie erwähnte auch die eingewobene Pubertätsgeschichte, äußerte ihre Dankbarkeit dafür, dass die Frösche nicht gequält wurden.
Ein postapokalyptisches Szenario hatte Paul Jandl gesehen, in der die kalte Industriewelt (für ihn war das Schlüsselwort „Anlassversprödung“) kontrastiert werde mit dem Traum des Mädchens von einer weichen Welt. Er nannte den Text originell und zu Herzen gehend. Dem stimmte Burkhard Spinnen zu – er war allerdings enttäuscht, keine Fortsetzung zu bekommen dieser „behüteten bundesrepublikanischen Welt“, in der jede Bäckerei noch ein Stühlchen bereit stellt. Er habe eine Exposition bekommen mit einer schlicht aufgemachten Pubertätsgeschichte, die dann einfach aus war.
Hubert Winkels gab Spinnen inhaltlich recht, sah das aber nicht als Problem. (Wie Strigl sprach auch Winkels von corporate identity – allerdings in einem für mich nicht fassbaren und irritierenden Sinn; da draußen in echten Unternehmen versteht man auf jeden Fall etwas anderes darunter.) Winkels lobte die sprachliche Konzentration auf technische Hybride, in der auch Metallspulen Herzen seien. Doch für ihn sei der Text „verrutscht“ mit zu vielen disparaten Elementen. Hildegard E. Keller meldete sich, sie „helfe meinen beiden Kollegen gerne auf die Sprünge“. Denn für sie zeige der Text exemplarisch, was Literatur vermag. Die Sprecherfunktion des Ich führe vor, wie ein Kinderbewusstsein gestaltet sei: Das Mädchen verteidige ihre Position als Assistentin mit Stolz, glaube sich im freiwilligen Konsens mit den Vorgaben des Vaters – und bemerke nicht, dass es sich um ein erzwungenes Einverständnis handle. Die Träume von Neuseeland seien im Grunde die der Kinder; der Vater halte sie lediglich im Gang. Unklar war Keller aber der Vater: Sei er ein Kleinkrimineller? Arbeitslos? Der Autor löse diese Schlüsselfigur nicht auf. Für sie zeigte die Geschichte ein Fenster aus der beschriebenen Trostlosigkeit: die Liebe.
Schwierigkeiten mit dem Text hatte Corina Caduff: Sie habe keine Orientierung darin gehabt, so wenig, dass sie begonnen habe, die zahlreichen Fachbegriffe aus der Chemie und der Elektrotechnik zu googlen. (Auch ich hatte einen starken Hang zu „Wikipedia-Literatur“ entdeckt, wie Kathrin Passig das nennt, zitiert nach Herrndorf: „Neues, sinnlos mit Realien überfrachtetes Genre, das sich der Einfachheit der Recherche verdankt.“) Dennoch fand sie toll, wie trotz unwirklicher Atmosphäre die Erzählperspektive der Tochter gestaltet sei. Die Pubertätsszene habe sie zwar überrascht, doch sie habe vor allem die Sprache gemocht.
Meike Feßmann nannte den Text eine „moderne und glückliche Variante von Hänsel und Gretel“ und war damit die einzige Leserin, die keine Düsternis und Trostlosigkeit gesehen hatte. Für sie war er eine realistische Geschichte aus dem Schwarzwald mit ganz gelöster Stimmung. (Ich weiß ja nicht, ob sie absichtlich gerne die abwegigste Sicht auf einen Text darlegt.) Daniela Strigl wandte ein, dass sie in diesem Realismus keinen Vater unterbringen könne, der seinen Sohn einen Arm verlieren lässt. Für Strigl handelte es sich um einen Kommentar zum Kapitalismus: Die Familienmitglieder würden ja als konkurrierende Arbeitskräfte geschildert.
Eine Aussteigergemeinschaft sind die Figuren der Geschichte für Paul Jandl: „Eine Familie erschafft sich einen privatökonomischen Kreislauf.“ Das war für Burkhard Spinnen sogar die Überblendung eines bundesrepublikanischen Szenarios zu einer Favela-Familie, die mit Abfall ihren Lebensunterhalt bestreitet. Er fand den Text „wunderbar“, aber nur „als erstes Kapitel – bitte weitermachen“.
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Dann wurde es richtig lustig. Matthias Senkel, vorgeschlagen von Jandl, las die Erzählung „Aufzeichnung aus der Kuranstalt“, wieder einen eigenständigen Text. Seine Kommödie um den Literaturbetrieb erntete beim Vorlesen viel Gelächter, das allerdings im Lauf der Geschichte deutlich abnahm. Mir gefiel sehr gut, wie er immer noch eine weitere Themen- und Metaebene einflocht, mit der Ebene des God Games als abschließende Kirsche auf der Sahne.1
Winkels sprach dann auch von einer „klugen und witzigen Geschichte“. Diese Satire auf den Literaturbetrieb mache durch die permanente Neu- und Umschreibung die Realität zur Möbiusschleife. Der Text bringe so viel auf so wenig Plaltz unter – das gehe nur mit der verwendeten Protokollsprache. Genau die warf Meike Feßmann dem Text vor: Es handle sich um die „typische Klagenfurtgeschichte über das Schreiben, die irgendwann kommt“, eine auf die Dauer ermüdende Idee ohne eigene Sprache.
Viel mehr davon wünschte sich Corina Caduff. Sie sah den Stil eines Exposés für einen Roman, den sie gerne lesen würde. In der Kürze fehle der Raum für eine literarische Gestalt. „Ganz viel Substanz“ habe der Text für sie, in der Idee liege viel Potenzial (diesmal entschuldigte sie sich für den Ausdruck – möglicherweise hatte Carduff mitbekommen, dass ihre bisherigen Anmerkungen, der Text oder die Autorin hätten Potenzial, als gönnerhaft empfunden wurden). Paul Jandl wandte ein, dass das Protokoll ein erprobtes Stilmittel für Satire sein, in diesem Fall für die Satire eines „paranormalen Literaturbetriebs“. Feßmann zählte auf, wer das alles besser geschrieben hätte, und schimpfte, „man sollte sprachliche Armut nicht auch noch als subtil verherrlichen“. Jandl blieb ruhig und verwies auf den wahrscheinlichen impliziten Erzähler des Textes: den ermittelnden Inspektor.
Strigl wunderte sich, dass von allen Autoren hier mehr gefordert werde. Sie nannte die Geschichte „sehr komplex, dicht gewoben“, lobte die vielen Einfälle, darunter den eines „literarischen Hypochonders“ (hm – meinte sie vielleicht eher Simulant?). Die Erzählung sei sehr intelligent gemacht, verliere allerdings an Fahrt. Aber es sei „absolut legitim, Satire mit Mitteln konzentrierter Schlichtheit zu erzählen“. Keller zählte einige der zahlreichen Elemente des Textes auf: Historischer Roman, Kulturbetrieb, Familiengeschichte, traumatisierter Pole, James Bond – die Leserin werde immer wieder in eine neue Richtung gerissen. Sie habe damit ein sprachliches Problem.
Das alles spreche der Text doch explizit an, argumentierte Jandl, allein schon mit der Nennung des fiktiven Buchtitels Fragments of the Masterplan. Während Keller nochmal haderte, worum es nun gehe, um den Literaturbetrieb oder Investment Banking, machte der Text für Jandl „die Künstlichkeit des Literaturbetriebs sichtbar“.
Es war dann Hubert Winkels, der die Klammer lieferte: Auch die Finanzwelt verlasse sich auf Legenden und Geschichten, aus denen Prognosen erstellt würden, „alles ist ein Effekt vom Erzählen“. Spinnen versuchte sich an einer Zusammenfassung, indem er allem Gesagten zustimmte, gab dann aber seine leidenschaftliche Abneigung gegenüber Texten zu, in denen es um Schaffenskrisen von Schriftstellern gehe. Er zeichnete das Bild des Textes als das eines Jongleurs mit vielen Elementen – von hoher Kunstfertigkeit. Es folgte ein kleineres Gehackel über Intelligenz in Texten, über das Ansinnen, sich von Texten etwas anderes zu wünschen als er tut – bis Winkels und Spinnen in einem klassischen „Nein!“, „Doch!“ „Nein!“, „Doch!“ endeten (verschiedene literaturtheoretische Schulen halt, erklärte Spinnen, Düsseldorf und Münster).
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Nach der Pause sah ich, wie sich die Frühstücksbedienung meines Hotels ins Publikum setzte – das hier scheint tatsächlich auch Klagenfurter zu interessieren.
Leopold Federmair, von Strigl vorgeschlagen, stellte sich im Film als Kosmopolit vor, der seine Wurzeln deutlich in Österreich sieht, aber zu seinen Heimaten auch Argentinien und Japan zählt. In Japan lebt er seit zehn Jahren. Der Titel seiner Geschichte lautete „Aki“.
Schon wieder Jugenderinnerungen, diesmal erinnert sich eine Frau mittleren Alters nach einer Begegnung in der Gegenwart an den jungen Burschen, mit dem sie vor etwa 25 Jahren ein wenig befreundet war: Er 16 und Sohn des Wirts, bei dem die zehn Jahre Ältere als Kellnerin arbeitete. Die Geschichte bedrückte mich, ich sah die schweren Eichenmöbel und den Linoleumboden der Räume unbeschrieben vor mir, das kleine Jugendzimmer, in dem der schmerzhaft picklige Bub sich in Bob-Dylan-Platten und staubige Bücher von Opas Dachboden vergräbt. (Schade, dachte ich mir, dass offensichtlich Rollenspiele an ihm vorbeigegangen waren – in dieser Zeit konnte das die Seelenrettung so manches pickligen Bubs mit abseitigem Lesegeschmack sein.)
Eine „schöne, in Rückblenden erzählte Coming-of-age-Geschichte“ nannte es Winkels, gut gemacht. Ein junger Mensch hoffe auf Erlösung durch Musik. Die Rückblendentechnik sei wichtig, um den Abstand zu zeigen: „Irgendwann ist es vorbei.“
Meike Feßmann hielt den Text für „nicht gelungen“, weil er von einer Frau erzählt werde. Männliches Körperwissen gefiltert durch eine weibliche Erzählerin – das funktioniere nicht. Keller hatte sich gefragt, wer da eigentlich erzähle. Eine ältere Kellnerin? Das glaube sie nicht, das sei nicht die Sprache einer Kellnerin, wobei sie viele Passagen sehr schön finde. Doch es blieben viele Punkte offen.
Für Spinnen war die Zeit, aus der erzählt wird, die 80er, die Zeit der „irren Typen“, wie sie Kerouac in On the Road beschrieben habe. Dieser Typ sei allerdings „erheblich runtergedimmt, was sein Irresein anbelangt“. Er sah in ihm „viel Wollen, wenig Können“, eine ganz traurige Existenz nach der großen Zeit der irren Typen. Keller widersprach später: Die interessante Figur sei doch eigentlich die Erzählerin.
„Geschichte einer verpatzten Erlösung“ war Strigls Zusammenfassung, einer verpatzten Reinigung, Katharsis. Erzählt werde über Räume. Sie traute die Sprache durchaus einer Kellnerin zu. Strigl meinte auch, die Frauenperspektive sei ein Wagnis, sie habe sich aber nicht irritiert gefühlt. „Vergiftete Nostalgie“ entdeckte sie in dieser „ausgesprochen unappetitichen Geschichte“. Feßmann beharrte darauf, dass ein Erzähler kein intimes Körperwissen einer anderen Person besitzen könne.
Jandl nannte den Text „Geschichte eines Spannungsabfalls“, alles löse sich im Halbtraurigen auf. Allerdings habe die Erzählung in ihrer subtilen Dramatik zu wenig Dramatik.
Caduff petzte, dass Federmair die Jury in der Diskussion fotografiert habe, der erste „performative Akt eines Autors“. Sie habe, verführt vom Videoportrait des Autors, die Geschichte die ganze Zeit in Japan spielen sehen und damit die einzige interkulturelle Geschichte des Wettbewerbs. Gelächter im Publikum für die verzweifelte Herbeiziehung an den Haaren, auch wenn Winkels meinte, der Text könnte durchaus global sein.
Zum Schluss fahre die Erzählung noch die richtig großen Geschütze auf, sagte Spinnen und wies auf sogar biblische Referenzen hin. Strigl sah darin einen weiteren Beleg für die Differenz zwischen revolutionärem Ansatz und kleiner Wirklichkeit in der Geschichte.
Feßmann maulte, nach der internationalen Biografie des Autors habe sie sich etwas Spannenderes erwartet. Die anderen Jurymitglieder murrten, Strigl warnte alle künftigen Autoren, ihren biografischen Hintergrund offenzulegen: Er könne offensichtlich jederzeit gegen sie verwendet werden.
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Schon das Autorinnenporträt von Isabella Feimer (Vorschlag von Caduff) brachte das Publikum ob seiner Grenzpeinlichkeit zum Glucksen: Mit Schwarz-Weiß-Bildern spielte Feimer zu dramatischer Musik die Begriffe Liebe, Leidenschaft, Angst, Hass und Stille. Ihr Text „Abgetrennt“ war dann auch das, was ich im Teenageralter als Kurzgeschichten in Frauenzeitschriften gelesen hatte. Es störte fast nicht, dass meine (junge) Sitznachbarin nebenher telefonierte (wtf?). Eine Liebes- und Trennungsgeschichte durchsetzt von Kindheitsgeschichten (in diesem Jahrgang eben ein Muss). Ich war fast froh, dass die Bachmannpreislesungen abschließend noch etwas richtig Grottiges boten – das Durchschnittsniveau wäre ja sonst nicht auszuhalten gewesen.
Überrascht war ich allerdings, wie milde die Jury den Text zunächst anging. Winkels meinte, er hätte sogar eine sehr gute Geschichte werden können, über die Unterwerfung einer Frau unter die Wahrnehmung des Mannes und ihr spätes Sich-Wehren. Doch leider sei sie zu stark instrumentalisiert, erzähle „mit Holzhammer“. Feßmann sprach von einer Geschichte eines Abschieds, eines unnötigen Abschieds aus Angst verlassen zu werden. Caduff erklärte die deutliche Motivation des Sprechers aus einer Verletzung heraus, nannte den Topos des Verlassenwerdens. Sie wies auf die Tiere in der Geschichte hin (ebenfalls dieses Jahr ein Muss), auf Hühner und Fische. Keller brachte sogar „konzeptuelle Klarheit“ zur Sprache (ja, wenn es es sich um das Konzept Frauengazettengeschichte handelt): Das Ich hole einen Mann ins Leben zurück, das es rausgeworfen hatte. Allerdings leuchte die Kindheitsevokation nicht ein. Sie habe die Geschichte „nicht besonders berührend“ gefunden.
Selbst Strigl wurde dann schon kritischer: „Ich bevorzuge es vielleicht, nicht ganz so fest bei der Hand genommen zu werden.“ Zwar fänden wir im Zuge der Verliebtheit an einer Person alles ungeheuer interessant, auch banale Kindheitserinnerungen, doch „das überträgt sich nicht unbedingt auf den Leser“. Sie habe ein Problem mit dem vielen Gefühl, das im Vortrag auch noch betont worden sei. Außerdem, jetzt ließ sie es raus, habe sie eine „Hühnerkopfabtrennungsallergie“. Und dass die verlassene Geliebte mit dem Huhn identisch werde, sei ein „Bauplanfehler“. (Spinnen schloss sich später Strigls Allergie an, obwohl es verboten sei, literarische Topoi zu verbieten.)
Erst Jandl wurde wirklich grob und nannte den Text „klebrig“ und „Schlagerpoesie“. Winkels sah es hingegen als Kunstgriff, die Allerweltsgeschichten zur Verdeutlichung der verschobenen Perspektive im Verliebtsein zu verwenden. Caduff wiederum identifizierte die Suche nach einer Erzählstimme, erst am Ende in der Lyrik habe werde es der Hauptfigur möglich, „Ich“ zu sagen. Woraufhin Jandl begann, genau diese Textpassagen vorzulesen: „Haben Sie gelesen, um welche ‚Poesie‘ es sich handelt?“ Caduff solle doch einen Schlager daraus machen. Winkels versuchte zurückzurudern mit „radikale Unterwerfung in einer poetisch verzierrateten Welt“.
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Am späten Nachmittag Bachmannpreiswettschwimmen im Wörthersee – mit Cornelia Travnicek als definitiv am besten frisierten Teilnehmerin. Näheres und Bilder bei Uwe Wittstock. Als Zuschauer dabei war Christoph Schröder, dessen Berichterstattung für die Zeit über den Bachmannpreis Sie lesen sollten. Für FAZ.net schreibt täglich Jan Wiele, ebenfalls lesenswert.
- Wir kamen gestern in Gesprächen darauf: Erzähltechniken von Computerspielen zeigen sich immer häufiger in der Literatur; der Mitbewohner arbeitete sie zum Beispiel letzthin schlüssig und bereichernd für Wolfgang Herrndorfs Sand heraus. In der Literaturkritik bin ich allerdings noch nie über deren Untersuchung gestolpert. Gibt es die? Dann bitte ich im Tipps. Allerdings sind Literaturwissenschaft und Literaturkritik weitestmöglich entfernt von Computerspielerfahrung – anders als Literaturproduzenten. Es ist möglich, dass sie entsprechende Referenzen und Techniken nicht erkennt. [↩]
13 Kommentare zu „Bachmannpreis 2012 – der Samstag“
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7. Juli 2012 um 19:52
Besonders auf die Nerven ging Meike Fessmann mit rechthaberischen Dazwischenrufen und einer unvorteilhaften Ähnlichkeit mit unserer (dänischen) Staatsministerin.
7. Juli 2012 um 21:19
Mich freut Ihr Bericht sehr, weil ich keine Möglichkeit hatte, in Klagenfurt bei den TDDL dabei zusein. Ich finde den um- und zusammen/fassenden Text hilfreich, auch und ebenso: wo ich den Bewerb am TV mitverfolgen konnte. Merci.
Michael Nikodemus
7. Juli 2012 um 22:36
In der Literaturwissenschaft gibt es seit Jahren Arbeiten zu narrativen Mustern in Computer- und Konsolenspielen (also quasi andersrum). Siehe zum Beispiel die Seite von Julian Kücklich: http://www.playability.de/
8. Juli 2012 um 8:48
eine andere sprachgewaltige Meinung zum Festival. Schaun´s mal eini. (richtig beirisch?)
http://6kraska6.wordpress.com/2012/07/07/klagelieder-in-tranenfurt/
8. Juli 2012 um 8:50
Wir haben hier ein Großprojekt zur Literatur im digitalen Zeitalter geplant und beantragt, da geht es u.a. auch um solche Beziehungen und Einflüsse.
8. Juli 2012 um 8:56
PS: Das mit “Sand” würde mich interessieren, fange gerade erst an zu überlegen – aber sind es tatsächlich Erzählstrategien, -techniken, ist also das WIE (der discours) von Computerspielen beeinflusst, oder doch eher das WAS, die histoire?
8. Juli 2012 um 9:31
Bei “Sand”: Sicherlich beides, ‘wie’ und ‘was’. Der Text des Mitbewohners ist erhellend. Man kann das aber wahrscheinlich auch mit irgendwelchen Intertextkonstrukturen zu filmischen Mitteln (allein die Rahmen und Rahmungen und Bildausschnitte an jeder Ecke…) beschreiben.
8. Juli 2012 um 9:47
Habe den Mitbewohner bereits angestupst, percanta, ob er ausführen möchte – mir sind lediglich die disparaten Schauplätze von Adventure Games im Gedächtnis geblieben.
Schöner Hinweis auf die umgekehrte Sich, kecks!
Wunderbar, Martin: Solches Bachmannpreis-Bashing im Stil eines Bachmannpreis-Textes der 70er habe ich die letzten Jahre schmerzlich vermisst – nicht mal das Zeitungsfeuilleton mag noch so richtig heulen und zähneknirschen, wie schlecht es um den deutschsprachigen Literaturnachwuchs bestellt ist. (Oder hat sich der Blogger vielleicht einfach einen zehn Jahre alten Feuilleton-Verriss aus der FAZ ausgeliehen?)
8. Juli 2012 um 13:38
Computerspiele, Filme, Comics und Epik beeinflussen sich gegenseitig. Brettspiele sind dabei wohl am wenigstens untersucht, obwohl auch Schach ja eine Eröffnung (mit der Entwicklung der Figuren), ein Mittel- und ein Endspiel hat. Wie sinnvoll der Vergleich mit dem Aufbau eines, sagen wir, Dramas sind, weiß ich nicht; ich kenne nur die Fragestellung und habe mich noch nicht mit Antworten beschäftigt. Rollenspiele (mit Stift und Papier) sind vielleicht am unterschiedlichsten, da es mehrere Hauptpersonen und die Freiheit, von einer gedachten Handlung (und Spannungskurve) abzuweichen, dort am größten ist. Am meisten sind wohl Computerspiele untersucht.
Im Drama steigt die Handlung in Schritten an, in Computerspielen vergleichbar sind Sandboxes (Phasen, in denen der Spieler sich relativ frei bewegen kann, eher erkundet und keine konkrete Aufgabe löst) und Gateways (Aufgaben, die gelöst werden müssen, um in den nächsten Sandbox-Bereich zu gelangen).
Gut vergleichen lässt sich meiner Meinung nach auch die Raumgestaltung. Computerspiele sind manchmal in Levels unterteilt; beim Lesen von Epik hatte ich nie das Gefühl (anders als bei Filmen), das da etwas Äquivalentes existiert. Computerspiele könne auch raumorientiert sein, mit diskreten Orten in überschaubarer Anzahl, deutlich von einander getrennt. Ist bei meiner akuellen Lektüre nicht so, war bei Sand so. Das sagt erst mal noch gar nichts.
Ich habe gerade eine durchwachsene Anthologie dazu gelesen, Second Person. Role-Playing and Story in Games and Playable Media, Eds. Harrigan/Wardrip-Fruin. Als Nächstes kommt Hamlet on the Holodeck von Murray, wohl ein Standardwerk.
Bei der Lektüre von Herrndorfs Sand war ich gerade mitten drin im Programmieren von Interactive Fiction (a.k.a. Textadventures). Ich weiß nicht, wieviel Ähnlichkeit ich mir deshalb nur einbilde. Typisch für Textadventures ist die Ausgangssituation, bei der ein Spieler erst einmal herausfinden muss, wer seine Spielfigur ist, wie sie in die Ausgangslage kommt, was ihr Ziel ist. “Examine me” und “Inventory” sind oft die ersten Aktionen, die man durchführt. (Nicht mehr so häufig wie früher ist dabei der Gedächtnisverlust.) Es gibt im Spiel meist keine auktorialen Erzähler; was man über die Spielfigur erfährt, ist meist Außensicht, durch Dokumente und Interaktion mit anderen Figuren. Das wird auch gerne mal benutzt, um den Spieler im Unklaren zu lassen oder auf eine falsche Spur zu lenken.
Typisch für Textadventures sind auch die kleinen Puzzles am Anfang und das Manipulieren von Gegenständen. Wo bin ich, was gibt es da für Möbel, öffne Schublade, nimm Werkzeug. Wie kommt man in die Tür rein/aus dem Zimmer heraus. Bei Sand gab es diese Spielperspektive, die Werkzeuge vor allem am Anfang, die diskreten Orte, Sandboxes und Gateways. Vielleicht gibt es sogar Cutscenes, eingespielte Videosequenzen, häufig unelegant zur Exposition genutzt, während derer der Spieler keinerlei Kontrolle über die Figur hat, sondern passiv zuschaut – eine Entsprechung sind Szenen, in denen die Romanfigur passiv und machtlos ist. Bei Sand fällt mir auch mindestens eine Szene ein.
Ähnlichkeiten, selbst wenn sie nicht eingebildet sind, sagen natürlich noch wenig aus. Man müsste schauen, wer wen über welche andere Form beeinflusst, falls nicht ohnehin irgendwelche Konstanten zugrunde liegen.
(Frau Kaltmamsell hat mir das Zwischenspiel erlaubt. Meine Gedanken zum Thema formen sich erst langsam, deshalb alles etwas wirr.)
8. Juli 2012 um 22:38
Alle Beiträge zum Bachmannpreis und auch die (wirren?) Ausführungen des Mitbewohners: Gern gelesen!
9. Juli 2012 um 7:59
Das Thema “Kindheitserinnerung mit Tieren” finde ich insoweit faszinierend, als dass es sich ja keineswegs nur um ein rein literarisch derzeit dominierendes Thema handelt. Kürzlich ist mir das aufgefallen: Kurz hintereinander war ich bei ganz unterschiedlichen Leuten einmal beim Kaffee trinken und einmal bei einem Essen, und jedesmal wurde das Thema “ich als Kind und meine Tiere” so ausufernd ausgewalzt, dass es mir aufgefallen ist. Es scheint also in der Luft zu liegen, ohne dass ich auch nur im Geringsten sagen könnte, wieso.
9. Juli 2012 um 8:46
Ich fand den Bachmannpreis immer schrecklich verquast und weltfremd. Seit ich aber Ihre Ausführungen kenne, lese ich sehr gerne mit und überlege sogar, im nächsten Jahr selber nach Klagenfurt zu fahren. Trotzdem muss ich immer an Loriots “Krawehl, Krawehl”-Szene in “Pappa ante portas” denken. Gibt es denn auch Situationen unfreiwilliger Komik bzw. fängt der ein oder andere Zuschauer durchaus mal an der “falschen” Stelle an zu lachen??
9. Juli 2012 um 10:09
Lieber Mitbewohner, vielen Dank für die Denkanstöße! Doch, das überzeugt schon und sollte wirklich mal genauer betrachtet werden. An die Suche nach Gegenständen und den Versuchen, an bestimmte Orte zu gelangen, habe ich in bezug auf “Sand” auch gedacht, ansonsten stimmt wohl leider die allererste Vermutung ganz oben: Wie die meisten Literaturwissenschaftler kenn ich mich einfach zu wenig aus bei Computerspielen. Dank darum auch für die Begriffe.