Gunter Frank, Schlechte Medizin
Sonntag, 6. Januar 2013Statistiken sind nur so gut wie die Daten, auf denen sie basieren, und dann müssen sie noch sauber interpretiert werden. Aufmerksame Zeitungsleserinnen wissen schon lange, dass jedes Detail daran im Argen liegt, doch in wenigen Gebieten hat dieser Umstand so gravierende Auswirkungen wie in der Medizin. Gunter Frank nimmt sich in Schlechte Medizin den Alltag in deutschen Arztpraxen vor: An einem konkreten Beispiel zeigt er, wie gesunde Menschen in der Konsequenz zu Kranken erklärt werden, und wie man ihnen oft durch unnötige Therapien und Medikamente schadet. Vom Konkreten geht es schnell zu Weiterreichendem.
Frank untersucht die Ursachen und ist schnell bei Fahrlässigkeit in wissenschaftlicher Methodik. Bei dieser Gelegenheit lernen wir unter anderem den Unterschied zwischen relativem und absolutem Risiko.
An Beispielen erklärt Frank, welche die Kriterien für saubere Studien sind (bei dieser Gelegenheit erfahren wir die genaue Definition von „Evidenzbasierter Medizin“) und an welchen Stellen das Risiko von Fehlinterpretationen am höchsten ist.
Ins Zentrum stellt der Allgemeinmediziner dabei die eherne Säulen der deutschen Gesundheitspolitik: Risikofaktoren sind als truth universally acknowledged
– Hoher Cholesterinspiegel
– Hoher Blutdruck
– Rauchen
– Ungesunde Ernährung
– Bewegungsmangel
– Übergewicht
Er geht der Quelle für diese Definition nach und landet bei „Framingham: Die Mutter aller Studien“, durchgeführt in den 50ern und 60ern in einem bestimmten US-amerikanischen Ort. Nur dass die Daten dieser Studie die aufgeführten Schlüsse gar nicht zulassen. Einzige Ausnahme: Rauchen ist nach diesen und allen weiteren Studien wirklich ein Risikofaktor. Bei allen anderen gilt: Kommt ganz darauf an, nämlich auf viele weitere Umstände. Und Cholesterin ist eigentlich seit vielen Jahren und nach einigen wirklich sauberen Studien völlig aus dem Schneider.
Frank forscht sich durch weitere Ebenen der deutschen Medizinerausbildung und Gesundheitspolitik, um belastbarere Quellen für diese Standardlehre zu finden – mit ähnlichen Ergebnissen. Was ihn zur Frage führt, wie denn überhaupt etwas zur Lehrmeinung in der Medizin wird (also ein Inhalt, der im Examen abgefragt wird) und wie es um die wissenschaftlichen Standards an Universitäten bestellt ist. Auch hier kommen interessante Einzelheiten zutage.
Zuletzt befasst Frank sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der vorher untersuchten Umstände, mit Gesundheitsdiktatur und Gesundheitsmoral. Dabei führt er zahlreiche Belege dafür an (die wir Damen und Herren aus der Abteilung fat acceptance oft schon kennen), dass die herrschende Ideologie gruppendynamischen Zielen dient, keineswegs aber gesundheitlichen.
Wie sehr oft bei solchen aufdeckerischen Büchern bleibt bei mir immer ein Rest Skepsis, ob der Autor selbst den Standards genügt, deren Verfehlen er anderen vorwirft. Doch um das herauszufinden, müsste ich mich durch 14 Seiten Quellen lesen und mir die kritisierten Studien ebenfalls vornehmen. So oder so habe ich aus der Lektüre eine Menge Hintergrund des deutschen Medizinwesens gelernt.
Zudem weiß ich jetzt von der Existenz des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das auf seiner Website überprüfbar und sauber, den “Stand des medizinischen Wissens” wiedergibt. Dicke Empfehlung.