Archiv für Mai 2015

Journal Freitag/Samstag, 8./9. Mai 2015 – angegrillt

Sonntag, 10. Mai 2015

Für Freitagmorgen hatte ich mir den Wecker gestellt, war aber trotz später Heimkehr in der Nacht zuvor deutlich vorher aufgewacht. Ich hatte nämlich mit Apple zu telefonieren, Erklärung im Techniktagebuch.

Mit Bloggen, Kofferauspacken, Wäschewaschen und Kaffeetrinken war es dann aber doch schon 11 Uhr, bis ich zum dringend benötigten Isarlauf kam: Zum einen werde ich nach einer Woche ohne Sport schon sehr wepsig, zum anderen musste ich irgendwie anfangen, all die Eindrücke und inneren Bewegungen der Berlinwoche zu verarbeiten (wegen letzterem ließ ich sogar den Fotoapparat daheim).

Es war dann auch ein wunderschöner Radweg nach und Lauf von Thalkirchen bis Pullach und zurück in Maiensonne und -wärme, zwischen blühenden Kastanien und Fliederbüschen. Auf einem liegenden Baumstamm sah ich eine ganz lange Blindschleiche beim Sonnenbaden, als ich mich zur genaueren Betrachtung vorsichtig näherte, verzog sie sich allerdings Richtung Isar.

Einkaufsrunde nach Duschen, sommerliche Temperaturen.

Die erratische Twitterbenachrichtigung bei Direct Messages hätte fast zu einem Ehekrach geführt. Herr Kaltmamsell war zu meiner Überraschung abends aushäusig verabredet, und ich hatte per Twitter-DM meine Beleidigung darob geäußert (wo ich doch von der Woche so viel zu erzählen hatte!). Dass Herr Kaltmamsell sofort umplante und mich darüber per DM informierte, signalisierte Twitter aber in keiner Form – ich hatte den Eindruck, mein Protest sei ihm egal. Und war noch beleidigter. Entsprechend trat ich ihm entgegen, als er von der Arbeit kam. Es brauchte einige Anstrengung des Herrn, mich da wieder rauszuholen.

Aber dann radelten wir auf ein kurzes Abendessen in die Eclipse Grill-Bar, erzählten einander unsere Wochen.

§

Samstag hatten meine Eltern uns zum Angrillen und Fliederriechen eingeladen. Dummerweise war das Wetter regnerisch, aber dann stand halt nur der Grill draußen unterm Vordach der Terrasse, wir aßen innen. Es gab Röstbrot, Gambas, Calamari, Tomaten, Lammsteaks, Auberginen, Schweinehals vom Grill.

Ich fragte meine Mutter nochmal nach meiner polnischen Großmutter aus, der ehemaligen Zwangsarbeiterin, erwähnte zum wiederholten Mal die Kassetten mit dem Interview von vor 20 Jahren. Da ließ sie fallen, dass sie noch nicht nachgesehen habe, ob sie sich vielleicht unter den Kassetten über der alten Stereoanlage befanden. Ich sah gleich mal selbst nach, und hatte sie nach zwei Griffen in der Hand. Während ich bei allen möglichen Kontakten aus verschiedenen früheren Berufsleben nachgefragt hatte, hatte die Aufnahme das Haus nie verlassen. Jetzt erst mal digitalisieren, dann transkribieren.

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Auf dem Heimweg mit der Bahn 45 Minuten Verzögerung, für die die streikende GDL überhaupt nichts konnte: “Personen im Gleisbereich”.

Die Nachrichten von der Berufsfront werden immer erfreulicher (Details, wenn alles 100-prozentig ist).

§

Hintergrund eines der berühmtesten Filmchens der Musikgeschichte:
“Exactly 50 years ago Bob Dylan was stood in a London alleyway”.

§

Traci Mann, eine Psychologiedozentin an der University of Minnesota, erforscht seit 20 Jahren Ernährungsgewohnheiten, Selbstbeherrschung und Diäten. Roberto A. Ferdman hat sie für die Washington Post interviewt.

“Why diets don’t actually work, according to a researcher who has studied them for decades”.

It all starts with something that suddenly struck me a while back, and that’s that nobody has willpower. Everyone is blaming dieters for regaining weight they lose, and that’s just wrong – it’s not their fault they regain weight, and it’s not about willpower, or any lack thereof.

(…)

What people tend to think is that if only Joe had self-control then he could succeed on his diet forever. And that’s not accurate, as it turns out. That’s not true.

After you diet, so many biological changes happen in your body that it becomes practically impossible to keep weight off. It’s not about someone’s self-control or strength of will.

(…)

But there’s an entire industry that profits from convincing people that just the opposite is true. How do you reconcile that?

Well, the first thing is that you can’t believe anything that they say. And that’s by definition, because their job isn’t to tell you the truth – it’s to make money. And they’re allowed to lie.

These companies make money off failure, not success. They need you to fail, so you’ll pay them again. One-time customers are not the sort of thing that keep these diet companies in business.

(…)

An idea that I want to float, if I might, is that willpower is actually a very different thing when you talk about eating. Willpower can be extremely useful in certain parts of people’s lives. But when it comes to eating, it’s just not the problem. It’s not the fix.

(…)

Let’s say you’re in a meeting, and someone brings in a box of doughnuts. If your’re dieting, now you need to resist a doughnut. That is going to take many, many acts of self-control. You don’t just resist it when it comes into the room – you resist it when you look up and notice it, and that might happen 19 times, or 90 times. But if you eat it on the 20th time, it doesn’t matter how good your willpower was. If you end up eating it, you don’t get credit for having resisted it all those times. In virtually any other arena, that would be an A+, but in eating that’s an F.

Der letzte Punkt ist eine sehr nützliche Beobachtung, ich übersetze ihn mal:

Wenn es um Essen geht, ist Willenskraft etwas ganz anderes. Ein starker Wille kann in bestimmten Lebensbereichen ausgesprochen nützlich sein. Aber beim Essen ist er nicht das Problem, auch nicht die Lösung.

(…)

Nehmen wir an, Sie sind in einer Besprechung und jemand bringt Doughnuts mit. Wenn Sie gerade eine Diät machen, müssen Sie jetzt dem Doughnut widerstehen. Dazu sind viele, viele Momente der Selbstbeherrschung nötig. Sie müssen nicht nur widerstehen, wenn die Doughnuts auf den Tisch gestellt werden – Sie müssen sich jedesmal beherrschen, wenn Sie den Teller sehen und den Doughnut bemerken; das mögen 19 Mal sein oder 90. Doch wenn Sie ihn beim 20. Mal essen, zählt all ihre vorherige Beherrschung nichts mehr. Wenn Sie ihn dann doch essen, lobt sie niemand dafür, wie stark ihr Wille vorher gewesen ist. In jedem anderen Bereich hätten Sie Bestnoten für Ihre Willenskraft bekommen, doch beim Essen sind Sie damit durchgefallen.

Berlinjournal Donnerstag, 7. Mai 2015 –
re:publica 3

Freitag, 8. Mai 2015

Da ich am selben Abend abreiste, musste ich meinen Koffer mit zur re:publica nehmen und konnte nicht radeln. Ich schaffte es dennoch pünktlich zur Techniktagebuch-Session: “Techniktagebuch in Person (TTIP) – mit Aufzeichnungsservice”. Wir wollten damit Menschen mit Technikgeschichten anlocken, die auf “Aufschreiben!”-Aufforderungen nicht reagieren, und ihre Erzählungen fürs Techniktagebuch aufzeichnen – hier übrigens der Zugang für Gastbeiträge.

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Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass um diese frühe Stunde und zu dieser versteckten Stage J allenfalls ein paar Versprengte und Irrläuferinnen kommen würden, doch es wurde ein munteres Erzählen unter anderem über verflossene Rundfunktechnik, Autotricks, Onlinebanking, Plattenspieler namens Schlafzimmer, Ladegeräte.

Dazwischen bekam ich einen Anruf vom Traumarbeitgeber, der nicht nur ein Kerzchen ans Ende des Tunnels stellte, sondern das Schild “Ausgang”. Näheres erzähle ich Ihnen, wenn die noch zu überwindenden Komplikationen ausgeräumt sind. Aber schon mal vorsichtiges Yay!

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Ich sah mir noch Journelle an mit “Fremd gehen immer nur die anderen – Liebe und Beziehung in Zeiten der Digitalität”, eine launige Freude.

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Über “Der Rabbi und die koscheren Gummibärchen – Die deutsch-jüdische Blogosphäre” erzählte Juna Grossman – na, viele gibt es da ja wirklich nicht.

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Der Vortrag von @NeinQuarterly hieß “Losing hope. Finding Europe. – Utopian Negation Reconsidered” und war ein bisschen kompliziert. Aber es tauchten einige seiner witzigsten Tweets auf sowie Variationen seines Adorno-Logos.

Auf Frau Frohmanns Vortrag “Die neue Grand Tour. Kavalier_innen_reise im Netz.” war ich sehr gespannt gewesen. Die Grundidee halte ich auch weiterhin für bedenkenswert, doch es wäre nützlich, sich auf eine Epoche und Reisegruppe zu konzentrieren und sie mit einer Gruppe Netzreisender zu vergleichen. Bei 150 Jahren sehr unterschiedlicher historischer Vorgänge und der inzwischen unüberblickbaren Heterogenität der Webnutzung verliert sich sonst die Vergleichbarkeit.

Eigentlich hatte ich mir als Schlusspunkt des letzten Konferenztages Felix’ Session “Kognitive Dissonanz” gesetzt. Doch ich hätte ohnehin meinen Koffer bereits mitnehmen und noch vor Ende der Stunde verschwinden müssen, außerdem war ich von den vielen Eindrücken der Woche bis ins Mark erschöpft. Ich hielt es für vernünftig, statt dessen etwas früher zum Flughafen zu fahren.

War es sicher auch, doch dortselbst erwartete mich bei der Gepäckabgabe die Information, dass der Flug mit einer Verspätung von mindestens 45 Minuten abfliegen würde. Zu meiner Erschöpfung gesellte sich so große Wut, dass ich mich nicht einmal auf mein Buch konzentrieren konnte. Die Aussicht auf eine Heimkehr nach Mitternacht – und das, wo ich extra nicht in Felix’ Vortrag gewesen war – brachte mich zu herzhaftem Fluchen. Da konnte Tegel einen noch so lieblichen Sonnenuntergang hinters Rollfeld legen. Ich klammerte mich an eine Karte, die mir Zeichner Claus Ast vom Skizzenblog geschenkt hatte.

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(Falls Sie es nicht erkennen: Das ist ein grimmiger Nacktmull, der eine Hasenohrenmütze trägt. Ich habe selten etwas Lustigeres gesehen.)
(Gibt’s hier zu kaufen.)

Tatsächlich kam ich kurz vor Mitternacht heim. Meine Wut war bis dahin verraucht, mein Buch ausgelesen, mein Vorsatz, NIE! WIEDER! ZU REISEN! als albern erkannt.

Berlinjournal Mittwoch, 6. Mai 2015 – re:publica 2

Donnerstag, 7. Mai 2015

Nach einer wundervollen Radelfahrt in Frühlingsluft begann mein Konferenztag mit Krieg:

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“The IS in us – was wir durch terroristische Kommunikationsstrategien über uns selbst erfahren” von den beiden Militärexperten Sascha Stoltenow und Thomas Wiegold. Harter Tobak auf nüchternen Magen, und das, obwohl die beiden ausdrücklich keine Gewaltdarstellungen wiedergaben. Doch das Nebeneinanderstellen von westlicher Werbung, ob Trailer der TV-Serie Emergency Room oder Employer-Branding-Kampagne eines Automobilherstellers, mit Selbstdarstellung und Employer Branding von ISIS (kleine Einführung in den Stand und Hintergrund derzeitiger Abkürzungen von Thomas) belegte den Titel des Vortrags: Es werden dieselben, erprobten Mittel verwendet. Besonders erschreckend fand ich die Ausführungen über die Corporate Publishing-Landschaft von Islamischer Staat: Erwachsen und professionell wie von anderen professionellen Organisationen, einschließlich Artikeln über Verbraucherschutz in der Mitarbeiterzeitung und Geschäftsbericht mit schicken Grafiken. Oben auf dem Foto sieht man zum Beispiel die Visualisierung des Waffengebrauchs im zurückliegenden GeschäftsKriegsjahr nach Waffenarten und Effizienz. Bei mir als Deutscher rief diese Überschneidung von bürokratischer Professionalität und tödlicher Menschenverachtung recht konkrete Assoziationen mit der eigenen Geschichte hervor.

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Gegen meine Bestürzung half ein behördenmäßig frühes Mittagessen (MAHLZEIT!), zu dem ich mich wie am Vortag mit Andrea Diener zusammenschloss – erfreulicherweise hat sie genauso wenig ein Problem damit, noch vor zwölf Lasagne zu essen, wie ich, um diese Zeit einen großen Teller Gulaschsuppe zu verzehren. (Andrea Dieners Zusammenfassung des gestrigen re:publica-Tages finden Sie hier.)

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Auf die Foodblogger-Veranstaltung hatte ich mich gefreut, doch der Saal war bereits 10 Minuten vor Beginn so voll, dass keine Stühle mehr frei waren. Das allein hätte mich nicht gehindert, doch es handelte sich um einen der Säle, die mit Kopfhörersystem bespielt wurden: Da er vom Nebensaal durch keine Mauer getrennt war, bekamen Akteure und Zuhörerinnen Kopfhörer, über die der Input der Mikrophone zu hören war; es gab keine Lautsprecher. Und ich erwischte keinen Kopfhörer mehr. Meine Idee, direkt vor der Bühne könnte ich den O-Ton unverstärkt verstehen, erwies sich als Illusion.

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Spontan ging ich statt dessen in den Vortrag “The art of trolling”. Doch der erwies sich als Scherz: Die beiden hatten sich im Lexikon die Definition von trolling herausgesucht, die sich aufs Angeln bezog, und referierten darüber. Als Happening eine hervorragende Demonstration von Trollverhalten, aber halt ebenso wenig informativ.

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Sehr informativ wieder war Gabriella Coleman: “How anonymous (narrowly) evaded the cyberterrorism rhetorical machine.”

Ich hatte Coleman auf meiner ersten re:publica gehört, als sie ihre anthropologische Forschung dieses Gebildes dargelegt hatte, und profitiere bis heute von ihren damaligen Ausführungen. Mittlerweile hat sie darüber ein Buch veröffentlicht, gestern erzählte sie ein Kapitel, das es nicht ins Buch geschafft hat. Eigentlich, so legte sie dar, ist es nämlich höchst erstaunlich, dass Anonymous nicht im frame Terrorismus gelandet ist, in den die US-Offiziellen seit Jahren immer mehr Organisationen stopfen, bis hin zu Tierschützern. Sie zählte eine Reihe von Ereignissen, Zufällen, Faktoren und Zusammenhängen der vergangenen Jahre auf, die das bewirkt hatten. Schade, dass sie so gehetzt sprach – möglicherweise hatte sie eine falsche Information über die Redezeit bekommen.

Denn anschließend war diese Bühne eine halbe Stunde leer, bevor der Knaller des Tages passierte.

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ICH HABE EINEN ECHTEN ASTRONAUTEN GESEHEN! AUS 5 METERN ABSTAND! UND ER WAR UMWERFEND! (Den Rest müssen Sie sich weiter in Großbuchstaben vorstellen, ich verzichte nur zugunsten der Lesefreundlichkeit darauf.) Alexander Gerst, oder unter uns Internet Peoples @Astro_Alex, erzählte von seiner Mission auf der ISS (Beschluss: werde künftig nicht mehr von Projekten sprechen, sondern von Missionen. Missionsleiterin, Missionsplan etc.), detailliert, lustig, geradezu britisch bescheiden.

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Man möchte meinen, dass nun jeder Nachfolgevortrag auf der selben Bühne nur abrauchen kann. Doch Cory Doctorow hielt mein Interesse leicht: “The NSA are not the Stasi: Godwin for mass surveillance”.

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Doctorow spannte den Bogen vom Umstand, dass wir in praktisch jeder Lebenssituation in Kontakt mit Computern sind, über die Computerhaftigkeit des Computers (Turing complete Rechner können jeden Befehl ausführen, den jeder andere Computer ausführen kann), wodurch jede Beschränkung ihrer Funktionen durch Regulierung ihnen ihr Computerwesen nähme, bis hin zum Umstand, dass dies in jeder, absolut jeder Verwendung eines Computers eine Überwachungsmöglichkeit einschließt. Bei ihm klang das wesentlich schlüssiger als in meiner Zusammenfassung, bitte um Vergebung.

Abends war ich zumindest ein bisschen selbst auf der Bühnenseite: Ein Teil des Techniktagebuch-Autorenkollektivs zeigte Sachen. “Wir hatten ja nix – und das haben wir mitgebracht.” Alte Leute zeigten alte Technik von Poken über Bleistiftspitzer bis Furby und alles mögliche dazwischen. Ein Heidenspaß wurde gehabt, anschließend stellten wir noch einige Mitbringsel aus (u.a. des Schwiegervaters Betamax-Kassette).

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Spiegel online gefiel unsere Idee so sehr, dass sie das Spiel in ihrer Redaktion spielten: “Alte Gadgets: Was früher cool war”.

Danach nur noch kurzes, erschöpftes Herumstehen im Hof. Ich hatte riesigen Hunger, holte mir unterwegs noch Zeugs an einer Tankstelle und radelte zurück nach Neukölln.

(Viele der Vorträge sind bei YouTube nachzugucken, die Links reiche ich nach. Bis dahin mögen Sie vielleicht selbst suchen?)

Nachtrag: Hier einige Vorträge zum Hinterhergucken.

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https://youtu.be/MWbdOicrz5E
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https://youtu.be/7blX-1oVUCk
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https://youtu.be/l8tTRgTqLn8
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https://youtu.be/l8Q0Mme33bM
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https://youtu.be/jDJK8EGq5cU?list=PLAR_6-tD7IZXfzL5nGmpsNjd26F3KCEcY

Berlinjournal Dienstag, 5. Mai 2015 – re:publica 1

Mittwoch, 6. Mai 2015

Jetzt bin ich auch mal Rad gefahren in Berlin – ich arbeite mich unaufhaltsam zur Teilzeitberlinerin hoch. Gebt mir noch ein paar Jahre, und ich fange an auf die Touristinnen zu schimpfen wie die Einheimischen.

Meine aufmerksame Gastgeberin hatte mir ihr Zweitfahrrad zur kompletten Einsatzfähigkeit hergerichtet – MIT funktionierendem Licht! Von Neukölln zum Gleisdreieck und damit zum ersten Tag der re:publica konnte ich fast Luftlinie fahren. Der Himmel war düster, die Luft schwülwarm.

Die Begrüßung der Organisatoren im knackvollen Hauptsaal war herzlich und wieder ein Stück professioneller, alle netzpolitischen und netzgeschäftlichen Themen der Konferenz wurden klar formuliert.

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Das Gelände ist so weitläufig, dass es auch im größten Trubel Rückzugsmöglichkeiten bietet.
(Motividee von dem professionell aussehenden Fotografen neben mir – mein Blick war seinem Objektiv gefolgt.)

Die Keynote kam von Ethan Zuckerman, “The system is broken, and that’s good news“. Er schilderte die derzeitige politische Stimmung der Bürger und Bürgerinnen in westlichen Parteidemokratien (enttäuscht, misstrautisch dem System gegenüber) und wie sich nach seinen Vorstellungen das Web als Gegenmittel nutzen lässt – mit deutlich mehr Optimismus, als er mir zur Verfügung steht.

Dazwischen zwei weitere Jobabsagen, darunter nett und telefonisch die Stelle, für die Sie mir mit dem Tag-Cloud-T-Shirt geholfen haben. Wie ich nach dem sehr angenehmen Gespräch befürchtet hatte, sieht man mich dort als überdimensioniert für die Stelle (meine Wortwahl). Ich muss mir mal wieder eine Runde Traurigsein und Erholen von den jüngsten Niederlagen nehmen, aber jetzt passte es gerade nicht.

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Johnny und Tanja Häusler verkündeten in ihrem Vortrag, der als Fortsetzung ihrer Bildungstirade von vor zwei Jahren angekündigt war, die praktische Umsetzung ihres Buchs Netzgemüse: Die Veranstaltungsreihe TINCON für Jugendliche (Teenageinternetwork), hinterlegt mit Verein und Konzept. Klang sehr spannend und unterstützenswert.

Von Markus Beckedahl und Leonhard Dobusch ließ ich mir den Stand der Netzpolitik erläutern: “Die Netzgemeinde ist am Ende. Jetzt geht’s los.” Es tat ganz gut, nicht nur die haarsträubenden Missstände und Fehlentwicklungen wiederholt zu bekommen, sondern auch in die vielen Fortschritte der letzten zwölf Monate zu blicken.

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Nichts wirklich Neues gab es in der Podiumsdiskussion “Geteiltes Leid ist halbes Leid? – (Medien-)Ethik in der Digitalen Sphäre”: Wir müssen uns überlegen, auf welchen Werten wir unsere Entscheidungen über Verbreitung von Material online gründen. / Gibt es einen Unterschied zwischen dem Angriff auf Institutionen und Privatpersonen? / Es geht nicht um gesetzliche Regelungen, sondern um grundsätzliche Kultur.
Am bemerkenswertesten erschien mir, dass die Medienwissenschaftlerin Petra Grimm das Wort “Shitstorm” verwendete, als gehöre es inzwischen zu Fachterminologie mit klarer Definition.

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“Hoax-Kampagnen: Opium fürs Empörungsvolk” hieß der Vortrag von Deef Pirmasens und Christian Schiffer. Interessante Analysen und Beispiele. Allerdings gruselte mich, als ich sah, wie der Herr vor mir im Publikum eifrig mitschrieb und noch während des Vortrags weitere Hintergründe recherchierte – laut Logo des von ihm gleichzeitig bedienten Twitter-Channels arbeitet er für einen meiner früheren Web-Dienstleister, und alles wies darauf hin, dass er die Kriterien für das Funktionieren von Hoaxes als Anleitung für kommende Projekte auffasste.

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Abschluss meines Konferenztages: “Das elektronische Comic Quartett”, das Online-Comics vorstellte und vorlas, inklusive Umsetzung des gezeichneten Soundtracks. Faszinierend, wie viele Stile und Techniken da mittlerweile unterwegs sind. Herzerfrischende Wiederbegegnung mit Blog-Urgestein Lisa Neun.

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Dazwischen immer wieder Begegnungen, den Regentropfen im Schwülen ausweichen, dann wieder auf der Terasse den schrägen, aggressiven Sonnenstrahlen.

Heimradeln in später Abenddämmerung, eine schwarze Regenwolke drohend im Nacken.

Nachtrag: Hier ein paar Sessions zum Nachgucken.

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https://youtu.be/EHmAPmktKhk
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https://www.youtube.com/watch?v=jV6ZhAuKOlg

Berlinjournal Montag, 4. Mai 2015 – Berlinerkundung durch Anfängerinnenfehler

Dienstag, 5. Mai 2015

Weitere Erkundung Berlins anhand des Öffentlichen Nahverkehrs und auf Basis eines Anfängerinnenfehlers.

Vormittags packte ich Koffer und machte mich auf den Weg von Schöneberg zu meiner Gastgeberin. Beim Umsteigen an der Warschauerstraße irrte ich lange genug auf der Suche nach meiner Anschlusstram herum, dass mir bald klar war: Vierte Verabredung in Berlin, zum dritten Mal gründlich zu spät. Ich sollte zur Faustregel meiner ersten Berlinbesuche zurückkehren: veranschlagte Reisezeit mal zwei. Und einfach mal eine Stunde Fahrt zwischen zwei gar nicht so schrecklich weit voneinander entfernten Stadtteilen einkalkulieren.

Im gestrigen Fall erhöhte sich die Reisezeit schlagartig, als ich vor der Gastgeberinnenadresse eintraf und ihren Namen auf keiner der Altbauklingeln fand. Ich rief sie an und wurde daran erinnert, dass es in Berlin viele Straßen mehrfach gibt. (Und schließlich nicht nur dort, ich erinnere mich an einen dadurch stressigen Kundentermin in Duisburg.) Ich stand in der falschen. Also rollkofferte ich in schönster Frühlingssonne von Friedrichshain nach Neukölln, nach U-Bahn und Tram jetzt mit S-Bahn und Bus, vorbei an Bahndämmen mit blühenden Fliederwäldern.

Neukölln kriegte mich sofort. Schon der Weg von Bushaltestelle zu Unterkunft zeigte mir viel Grün, urige Bausubstanz, hemdsärmlig erhalten, kleingepflasterte Bürgersteige ließen meinen Rollkoffer erschallen (ich kann mir den verklärten Blick leisten, mit Rollstuhl oder Kinderwagen möchte ich da nicht unterwegs sein müssen), viele, sehr bunte Menschen. Der Eindruck verstärkte sich, als ich mit meiner Gastgeberin zwei Einkaufsrunden drehte: Die Gegend ums Rathaus brummte vor Menschen, die Bauweise und -höhe der Häuser erinnerte mich eher an Regierungsbezirksstädte denn an Metropolen. Wir kauften Spargel ein, mir wurde eine Nussrösterei an der Sonnenallee gezeigt, ich besorgte ein Mitbringsel, auf das Herr Kaltmamsell ganz sicher nicht gefasst ist, und lernte dabei ein kleines, höhlenartig überfülltes, alteingesessenes Spezialgeschäft kennen. Die Atmosphäre der Gegend ließ mich Kreuzberg vor 15 Jahren assoziieren (gab sie die Berlincheckerin).

Ausführliches Spargelkochen und -essen (Belitzer Spargel ist AUCH gut), Geplauder bis wir beide zu Terminen aufbrachen: Meine Gastgeberin in die Arbeit, ich zu einer Verabredung mit Bloggerinnen und Bloggern auf dem Restaurantschiff van Loon. Diesmal war ich so pünktlich wie alle anderen (es steht 5:3, ich hole auf) – alle sechse kamen wir gleichzeitig am U-Bahnhof Prinzenstraße an und gingen gemeinsam zum Kanal und zu einem sehr schönen Abend.

Berlinjournal Sonntag, 3. Mai 2015 – Aufgenommene Fäden

Montag, 4. Mai 2015

Frühstücksverabredung im Mauerpark – in einem wunderschönen Haus, mit dem allein ich mich schon hätte stundenlang beschäftigen können.

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Viele Jahre habe ich den Kontakt mit Vertrauten meiner Studienjahre von mir geschoben – ich war sicher gewesen, dass sie (und ich) ganz andere Menschen geworden sind und dass ich die Vorläuferversion ihrer selbst zu sehr vermissen würde. Ich hatte die Liebe nicht eingerechnet, die sich in Freundschaften wenig um Veränderungen kümmert. Und die gerade mit der Zeit und mit großem Abstand problemlos Wichtiges von Unwichtigem unterscheidet. Jetzt habe ich im April in London eine große Liebe meines Lebens wiedergefunden, gestern in Berlin. (Meine Güte: Diese Frau hat mir Welten an Musik, Kultur und zwischenmenschlichem Umgang eröffnet, ich habe schon auf der Beerdigung ihrer “kleinen Mutti” Kaffee gekocht – wie konnte ich nur zweifeln?)

§

Ich spazierte im Sonnenschein zur Museumsinsel. Beim Planen der Berlinreise hatte ich mir vage das Neue Museum vorgenommen – und wenn ich schon mal hier war… Meine Einschätzung, ich könnte nach den Eindrücken der Wiederbegegnung vom Vormittag noch aufnahmefähig sein, stellte sich als Irrtum heraus: Das war ich definitiv nicht. Dieses Museum mit seinem Ritt durch mehrere Jahrtausende und Kulturen machte mich ratlos: Was will es mir eigentlich erzählen? Laut Website:

Das Museum vereint räumlich und inhaltlich aufeinander bezogene Exponate aus drei Sammlungen: dem Ägyptischen Museum und Papyrussammlung, dem Museum für Vor- und Frühgeschichte und der Antikensammlung. Diese übergreifende Präsentation ermöglicht es den Besuchern, die Entwicklung der vor- und frühzeitlichen Kulturen vom Vorderen Orient bis zum Atlantik, von Nordafrika bis Skandinavien in einer noch nie da gewesenen Breite und Fülle nachzuvollziehen.

In einer aufnahmefähigen Stimmung hätte ich mir einen Audioguide geliehen und mich über Einzelstücke informiert, weil sie halt da sind, so aber erschien mir das Nebeneinander von Berliner Archäologie, römischer Antike und Ägyptischem quer durch die Dynastien zusammenhanglos, den “räumlichen und inhaltlichen Bezug aufeinander” sah ich nicht.

Sehr viele aufmerksame und schöne Eindrücke vom Neuen Museum finden Sie ab hier bei Gaga Nielsen. Wenn Sie vielleicht für eine tatsächliche Würdigung von Gebäude und Exponaten rüberklicken wollen?

§

Zurück in Schöneberg begenete ich auf dem Weg in meine Unterkunft einer türkischen Hochzeit: Zu Musik (Schalmeien, Trommeln) wurde gerade eine Braut aus dem Haus geführt und in das Hochzeitsauto gesetzt.

Nachmittag mit Zeitung- und Internetlesen, Filmchengucken. Abendessen im Papaya am Winterfeldtplatz, das mir der Vermieter empfohlen hatte (gut!).

§

Kann es sein, dass ich schon seit Tagen nichts mehr über unseren Lieblingsschäfer @herdyshepherd geschrieben habe? Verzeichung. (Den lass’ ich so.) Hier ein Interview im Guardian:
“Shepherd James Rebanks: ‘My ambition is to be a really good nobody’”.

§

Nur falls Sie gestern im verlinkten Interview mit Robert McLiam Willson nicht dem Link zu seinem Artikel im New Statesman gefolgt sind, meine Empfehlung: Tun Sie es.
“If you don’t speak French, how can you judge if Charlie Hebdo is racist?”

Charlie is often vulgar, puerile and slightly nauseating. But everyone endures the brunt of this approach: right, left and in-between. They are not always funny (they are French, after all). But sometimes, that is because they are doing 4-page spreads on the reality of Roma camps in France or doggedly chronicling the gross extremes of France’s lurch to the right.

They have a weekly space for animal rights stories, for Chrissakes!!! Run by a woman who calls herself Luce Lapin. With the best will in the world, even if Lucy Rabbit wanted to be a racist or a fascist, how good at it would she be with a name like that? What would all the other racists and fascists think? The truth about the Charlie people is that they’re …well…just a little bit geeky.

Berlinjournal Samstag, 2. Mai 2015 – Kreuzberger Frischluft

Sonntag, 3. Mai 2015

Ziemlich ausgeschlafen, Kaffee getrunken (ich gehöre mittlerweile zu den lächerlichen Gestalten, die mit Cafetera und eigenem, daheim gemahlenem Espressopulver reisen), auf dem Markt am Winterfeldtplatz eingekauft.

Teile der Einkäufe gefrühstückt: Steinofenbrötchen und Rosinenbrötchen von Lindner (ersteres ein wenig gestrig, zweiteres mir zu süß, außerdem überraschenderweise aus Backpulverteig), ein Pfund Erdbeeren. Dazu Délice und Frischkäse.
Telefonisch die Nachmittagsverabredung präzisiert.

Details des Nachmittagsprogramms mit Kaffee und Kuchen finden Sie bei einer der drei Beteiligten, Frau Indica.

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Wiener Straße

150502_Kreuzberg

An der Spree. Die Kastanien und der Flieder blühten, mir wurde die samstägliche Tanzgelegenheit (“Schützenfestschieber”) Zenner gezeigt.

§

Als ich spät abends heimkam, hatte ich riesigen Hunger und kochte mir ein warmes Essen. Dafür war viel Überlegung und Planung nötig gewesen, denn die Ferienapartmentküche stellte neben Kaffeepulver und Tee lediglich bereit:
Salz
Würfelzucker
Süßstoff (2 Packungen)
Brathähnchengewürz
Zimt
Ich hatte vormittags keine Lust, Öl zu kaufen, von dem ich nur ein paar Esslöffel brauchen würde, auch sonst wollte ich alle Einkäufe bei Auszug am Montag aufgebraucht haben. Das Nachtmahl wurde:

Spirellinudelnudeln, die ich kochte und abgoss (ein wenig Nudelwasser aufhob)
Datteltomaten in Stücken in den Nudeltopf, mit
Frischkäse und Nudelwasser zu Sößchen aufgekocht. Nudeln untergerührt, mit
frischem Schnittlauch vermischt, mit Salz abgeschmeckt. Mehr als passabel.
Und ich schaffte es, bereits deutlich vor Leeren der Schüssel aufzuhören, nämlich bereits am Punkt großer Sattheit.

Schon wieder sehe ich ein Kochbuchthema: Gerichte für Küchen ohne Vorräte (Salz hätte ich gekauft).

§

Alle paar Jahre frage ich mich, was eigentlich aus Robert McLiam Wilson geworden ist. Der Nordire hatte 1996 einen Bestsellerroman veröffentlicht, Eureka Street, und war damals auf Einladung des British Council ein paar Tage an der Augsburger Uni zu Gast. Als Hiwi am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft kümmerte ich mich ein bisschen um ihn, organisierte, begleitete ihn zu Terminen (und kann mich seither rühmen, dass mein Gang von ihm mit “like a police woman in a drug squad” bezeichnet wurde – ich fürchte, er konnte das beurteilen). Seit Eureka Street hat er kein Buch mehr veröffentlicht.
Seit gestern weiß ich, was er jetzt macht: Er arbeitet jetzt für Charlie Hebdo und wurde dafür interviewt.

(Zudem ein höchst interessanter Beitrag zur derzeitigen PEN-Debatte um Freiheit der Meinungsäußerung.)

§

Entertainment zum Sonntagmorgen:

Wie die Buchstaben in Seaside Rock kommen, also die Zuckerstangen, die traditionell in englischen Seebädern verkauft werden:

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/ye-xudhKfYg

§

Gestern starb die russische Tänzerin Maya Plisetskaya. Hier ihre atemberaubende Version des sterbenden Schwans (habe mir gestern Nacht auf YouTube mal Interpretationen anderer berühmter Tänzerinnen angeguckt – da wird schnell klar, warum die von Plisetskaya legendär ist).

Aktivieren Sie JavaScript um das Video zu sehen.
https://youtu.be/6_9AjAflHNA

via @kscheib


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