Journal Freitag, 5. Mai 2017 – WMDEDGT Berlinreise

Samstag, 6. Mai 2017 um 9:00

Was ist WMDEDGT?

Noch vor dem 7-Uhr-Wecker aufgewacht, mich über den neben mir schlafenden Herrn Kaltmamsell gefreut.

Die am Vorabend vorbereitete Cafetera erhitzt, Spargeltopf und Weingläser vom Vorabend gespült. Neben Milchkaffee und Wasser gebloggt. An sich hätte ich dann vor Reisestart noch gut Zeit zum Nachlesen der nächtlichen Twittertimeline gehabt, doch ich war unruhig. Also duschte ich und packte in aller Ruhe – dann doch den großen Koffer, obwohl er zu einem Drittel leer blieb. Im kleinen Koffer wäre meine Kleidung zu gequetscht gewesen, mal wieder wünschte ich mir eine Zwischengröße. (Aber kein Mensch braucht drei Koffer.) Da ich wusste, dass ich auf der Fahrt Brotzeithunger bekommen würde, aber die Preise am Flughafen überhaupt nicht einsehe, bereitete ich mir ein Schinkenbrot zum Mitnehmen.
Dann blieb mir immer noch ein wenig Zeit zum Twitterlesen, bevor ich die S-Bahn hinaus zum Flughafen nahm.

Mein Gepäck zum Airberlin-Schalter gebracht (lange Schlange, wegen flotter Abwicklung dennoch nur wenige Minuten gewartet), mit der Angestellten über unsere undeutschen Namen gescherzt, Sicherheitscheck unauffällig, zum Gate gegangen, auf dem Klo meine Wasserflasche gefüllt, Brotzeit gemacht, die Süddeutsche vom Freitag gelesen.

Boarding pünktlich, Flug ereignislos und pünktlich. Ich bedauerte lediglich die Wolkendecke, da ich nach Langem mal wieder einen Fensterplatz zugewiesen bekommen hatte (Aussuchen beim Online-Einchecken kosten heutzutage ja ebenso extra wie Gepäckaufgeben – ich fasse es immer noch nicht).

In Tegel war es düster und kühl, aber nicht kalt. Menschentrauben am Gepäckband, da hier auch Reisende aus Izmir auf ihre Koffer warteten, doch ich hatte meinen nach wenigen Minuten. BVG-Ticket gekauft, Bus und U-Bahn brachten mich in einer guten halben Stunde problemlos nach Kreuzberg. Flottes Einchecken im Hotel.

Den Haken an dieser wirklich gemütlichen Sofaecke fand ich erst abends: Kein Licht zum Lesen.

Ich packte meinen Koffer aus und setzte mich mit Laptop zum Lesen aufs Sofa. Eigentlich hatte ich jetzt am Nachmittag Hunger, doch ich wollte noch Essen gehen, und zwar frühes Abendessen, ich wusste auch schon, bei welchem Italiener ums Eck. Also hielt ich den Hunger aus, zu einer Planänderung war ich nicht in der Lage.

Um dreiviertel sechs musste es spät genug für ein Abendessen sein, ich spazierte zu besagtem Italiener.

Dazu ein Glas Trebbiano d’Abruzzo und Freude an der spanisch-italienischen Mischung der Kellner-Bedienfloskeln.

Ich las Le Guin, hörte am Nebentisch die gebildet formulierten Ausführungen einer Dame zu ihren Entdeckungen über ihre Vorleben und Wiedergeburt, was welcher Hellseher dazu gesagt habe, und dass es in ihren vorgeburtlichen Erfahrungen wahrscheinlich einen Zwilling gegeben habe. Besonders fiel mir der sachliche Tonfall auf, es hätte durchaus ein Gespräch über Mobilfunktarife sein können (das Thema der späteren Gäste an diesem Tisch). Ich geriet wieder mal ins Grübeln über die Informationsverarbeitung von Esoterik-gläubigen und religiösen Menschen: Wo ziehen sie die Grenze, ab wann sie Faktenbasis für Informationen einfordern? Wer daran glaubt, in einem früheren Leben den Holocaust durchgemacht zu haben – kommt der überhaupt auf die Idee, sich zu Aussagen über den Klimawandel erst mal die Datenlage anzusehen? (Übrigens ein Grund, warum mir bei Berufsreligiösen in der Spitzenpolitik so unwohl ist, ob Joachim Gauck oder Katrin Göring-Eckardt.)

Auf dem Heimweg holte ich mir noch ein wenig Eis zum Nachtisch. Die Preise in Kreuzberg haben ganz schön angezogen; für Abendessen und Eis zahlte ich so viel wie in Münchens Stadtmitte.

Zurück im Hotelzimmer Tagesschau, Recherche meiner samstäglichen Wege zu Verabredungen, Internet- und Romanlesen.

§

Morgens spülte es mir diesen Münchengrant von Max Scharnigg in die Timeline.
“Grant. Oder: Keine Stadt, nirgends”.

Ich lege besser mal offen, dass ich Max Scharnigg zum ersten Mal 2010 als Teilnehmer am Bachmannpreis wahrnahm, er mir mit seinem doofen (Fachausdruck) Text damals bereits das Kraut zum Teil ausschüttete, den Rest seither mit Texten in der Süddeutschen und im SZ-Magazin. An seine Ausführungen ging ich also ohne jedes Wohlwollen heran. Denn jedes Mal, wenn er in den vergangenen Jahren über München schrieb, fragte ich mich, wo um Himmels Willen er sich bloß herumtreibt und mit was für komischen Leute er sich umgibt. Auch beim oben verlinkten Text war mein erster Gedanke: Das passiert, wenn man die falschen Leute in München kennt. Nämlich keine Blumentandlerin, keinen Friedhofsführer, keine Wirtin, keine Kartoffelkombinatler, keine Tochter eines Musikers des Rundfunkorchesters, keinen Koch, keine Postangestellte, keinen skateboardenden FOS-Schüler, keine Süpermarketangestellte. Sondern:

München ist eine Theaterkulisse auf den Schultern von sechs DAX-Konzernen. Die Schleuser hierher nennen sich Headhunter. Sie haben eine Karriere- und Schlafstadt geschaffen, in die unentwegt Menschen kommen, um Geld zu verdienen und am Wochenende wandern zu gehen. Mit dem Geld kaufen sie sich erst eine Portion Stadtstolz, dann eine bayerische Tracht, dann eines der Autos von hier und dann eine Wohnung und daneben ist eigentlich keine Zeit für irgendwas anders, höchstens mit dem Hund in den Park, weil was anderes kannst du in den Münchner Parks auch nicht machen. Das sind dunkle Reinkackparks, die nicht bespielt werden, wo es kaum Sportplätze oder Fußballkäfige gibt und selbst wenn du kicken willst, musst du dich anstellen oder hoffen, dass das Gras mal gemäht ist.

Einerseits weiß ich von den beschriebenen Neu-Münchnern (persönlich habe ich ca. einen kennengelernt), für die unter anderem die “Nacht der Tracht” erfunden wurde (eine wunderbare Idee, operettisierte Bayernfasching-Energie zu kanalisieren, so sind diese Menschen aufgeräumt, ohne dass sie jemanden stören). Andererseits möchte ich Scharnigg an die Hand nehmen und ihm all die Bolzplätze und Wiesen an der Isar und im Englischen Garten zeigen, an denen ich regelmäßig vorbeilaufe und die durchaus genutzt werden. Zum Beispiel von Menschen, deren Hautfarbe und Kleidung vermuten lassen, dass sie bei Thomas de Maizière einen allergischen Leitkulturanfall auslösen würden. Zählt Max Scharnigg die am End’ nicht zu Münchnern?

Scharniggs Pointe:

München ist eigentlich keine funktionierende Stadt, sondern eher ein Übungsplatz für Hausmeister.

Wobei ich wegen oben den Verdacht habe, dass auch tatsächliche Hausmeister nicht zu seinem persönlichen Umgang gehören (die sehr wahrscheinlich nie vor dem Problem stehen, dass sie in München nach 20 Uhr für plötzlich aufkreuzenden Besuch eine gute Flasche Wein kaufen wollen, weil sie nämlich gastfreundlich sind und immer eine gute Flasche Wein im Haus haben, sollte mal unvermutet Besuch kommen).

Dabei gibt’s an München weiß Gott genug zu verbessern. Verklären braucht’s überhaupt nichts nirgends (wer nochmal tut das?). Wir haben hier bergeweise Probleme und verkacken viele davon: Kein Verkehrskonzept, zudem kein Entwicklungskonzept, das den rapiden Zuzug bewältigt und sowieso die Bewohner berücksichtigt, die nicht von einem der ansässigen DAX-Konzerne leben, sondern von der Hand in den Mund. Kein Plan, dafür Vetterngemauschel. Vom Hauptproblem Oktoberfest erst gar nicht zu reden!1

Aus Scharniggs Grant spricht genau das elitäre Münchnertum, das München da draußen so leicht angreifbar macht. Und wenn er Rom sehnsüchtig beseufzt, stelle ich ihm gerne mal ein paar Menschen vor, die dort leben und versuchen, etwas auf die Beine zu stellen. (Erinnere ihn außerdem an die völlige Abwesenheit von Leberkässemmeln dortselbst.)

Vielleicht ist Max Scharnigg wirklich aus Versehen in die falsche Stadt geboren worden, das gibt’s ja oft genug, ist mir mit Ingolstadt passiert. Und wo wohne ich deshalb nicht mehr? Eben.

Nachmittags fand ich beim Lesen im Hotel die Widerrede eines SZ-Journalisten, der Scharniggs Texte sonst mag – also nicht so vorbelastet ist wie ich.
“Verfluchtes, geliebtes München”.

Der Kern:

Ich glaube, jede Stadt ist für zwei Tage, zwei Wochen oder sogar zwei Monate cool. Und ja, ich habe ein Jahr in London gelebt, eine Woche in Oslo gefeiert, mich in Porto verliebt und in jede zweite italienische Stadt. Ich glaube nur, dass es überall nach zwei Jahren irgendwie öde wird und man motzt. Zeig mir bitte einer den Italiener, der jeden Abend auf der Piazza leckeren Wein an langen Holztischen mit Wildfremden trinkt, dabei singt, flirtet, Pasta con irgendwas fantastico isst und frühmorgens nach Hause tanzt.

§

Wie das mit der Informationsaufnahme funktioniert, wenn die Neuigkeit Glaubensgrundsätzen widerspricht – großartige grafische Darstellung:
“You’re not going to believe what I’m about to tell you”.

  1. Na ja, wenn ich schon dabei bin. []
die Kaltmamsell

10 Kommentare zu „Journal Freitag, 5. Mai 2017 – WMDEDGT Berlinreise“

  1. iv meint:

    Doch, ich habe drei Koffer. Der größte ist der am seltensten benutzte.
    Und danke für den rant über den rant!

  2. Nina meint:

    Scharniggs Text fand ich auch unerträglich. Als geborene Münchnerin, die seit 17 Jahren in Berlin lebt, aber noch viel Kontakt und Bezug zur Herkunftsstadt hat und regelmäßig lange dort ist, kann ich nur sagen: es ist nicht alles gold, was wildwüchsig glänzt. Spätestens wenn im eigenen Hinterhaus mitten in einem Kiez, der bis vor kurzem ganz normale Wohngegend war, ein nicht genehmigtes Hostel mit 100 Betten aufmacht und die ganze Nacht Party im Hinterhof ist, das Bezirksamt aber aus unerfindlichen Gründen nicht einschreitet, dann wünscht man sich wirklich sehr ein bisschen von der angeblichen münchnerischen Hausmeistermentalität. Mir geht dieses Abfeiern von angeblichem Wildwuchs und Freigeisterei so auf die Nerven, denn das bedeutet mittlerweile (aber vielleicht haben die Alten Berliner*innen das Anfang der 1990er Jahre auch schon so gesehen, als die Westdeutschen herzogen) den Ausverkauf der Stadt an diejenigen, die es sich leisten können, hier irgendwelche tollen Projekte zu machen. Siehe die stark gestiegenen Preise in Kreuzberg. Und auch in Brrlin fehlt es an einem Verkehrskonzept, einem Konzept, wie mit dem starken Zuzug in die Stadt umzugehen ist, an bezahlbarem Wohnraum etc. Noch dazu hat Berlin eine dermaßen marode Verwaltung, dass jeder Behördengang zur mehrmonatigen Angelegenheit wird. Wildwuchs und Freigeistigkeit, Sofas auf der Straße, Spätis, jede Woche eine neue Bar in der eigenen Straße Fussballkäfige usw. haben wir alles hier. Aber zu tatsächlicher Lebensqualität in der eigenen Stadt gehört echt schon noch a bisserl mehr als dermaßen platte romantisierte Zutaten wie Scharnigg sie sich da herbeisehnt.

  3. Marqueee meint:

    Zu dem Scharnigg-Stück: Nichts erfordert soviel Willens- und Charakterstärke, wie den Verlockungen des Verreissens zu widerstehen. Insbesondere, wenn man über ein reichhaltiges sprachliches Instrumentarium für eben Jenes verfügt. Ein paar schmissige Formulierungen – und so schnell fühlt man sich so überlegen…

    Erschwerend: die gegenteilige Form, das Loblied, ist so unendlich viel schwerer zu schreiben. Jedenfalls, wenn man versucht, seiner Leidenschaft und Freude mit der gleichen Eindringlichkeit Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig nicht wie ein kompletter Idiot klingen will…

  4. Preißndirndl meint:

    Gab es eigentlich mal eine Zeit, in der Menschen Zeit und Lust und Kreativität hatten, ihre Stadt mitzugestalten oder waren sie schon immer von der Dienstleistungsidee besessen, die Stadt habe gefälligst genauso zu sein, wie sie sich das theoretisch ausmalen?

  5. Micha meint:

    Ich freue mich schon sehr auf Ihre Eindrücke der re:pulica – Sie sind mir seit Jahren dafür der ideale Filter …

  6. Susann meint:

    War der grantler eigentlich schon jemals im englischen garten? Volle Spielplätze, grillende horden, drezehn ballspiele pro Wiese…ich mein ja nur…

  7. Joël meint:

    Mmmh.
    Da fragt man sich doch warum Herr Scharnigg nicht umzieht.

    Was ich gut nachempfinden kann, dass man in der falschen Stadt aufwächst. Also wie Sie.
    Das habe ich vor 4 Jahren geändert.
    Also wesentlich später als Sie.
    Was ich im zweiten Text NICHT nachvollziehen kann, dass man eine Stadt nach 2 Jahren leid ist. Ich liebe mein Luxemburg immer noch heiß und innig und dass hat auch nach 4 Jahren noch kein bisschen abgenommen.

    Natürlich gibt es diverse Dinge sie mir auf den Geist gehen. Das Verkehrskonzept z.B., das man viel zu spät in Angriff nahm und jetzt hinkt man der Entwicklung hinterher und die ganze Stadt sieht aus wie ein riesige Baustelle, die einfach nicht enden will… (Ich denke, dass ich das Thema mal im eigenen Blog behandeln werde, und nicht in Ihrem…sorry)

    Ich freue mich auf Montag :-)

  8. Birgit meint:

    Hallo Frau Kaltmamsell,

    was lesen Sie denn gerade von LeGuin? Ich lese LeGuin auch sehr gerne und auch auf englisch, ich mag ihre “knappe” Art Dinge oft nur anzudeuten und trotzdem immer – für mich zumindestens auf diese Weise viel überzeugender – für Menschlichkeit zu plädieren. Für mich haben ihre Texte oft etwas Meditatives.

  9. Wiesel meint:

    Und ich dachte, ich wäre die Einzige, die die Flughafen- / Flugzeugpreise für Essen und Trinken so unverschämt findet, dass sie stets ein Butterbrot mit sich führt und die leere Flasche auf dem Klo mit Wasser füllt. Sehr sympathisch!

  10. die Kaltmamsell meint:

    Von Le Guin lese ich gerade The Left Hand of Darkness, Birgit, mein erstes Buch von ihr.

    Wasser ist ein besonderes Reizwort, Wiesel: In Flaschen kaufe ich es ohnehin nur in äußerster Not, nämlich wenn es nirgends einen Wasserhahn gibt; und den Tipp mit der leeren Flasche für die Sicherheitsschleuse bekam ich zum Glück kurz nach dem Verbot von Flüssigkeiten im Handgepäck.

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