Journal Dienstag, 15. August 2017 – Hirschgarten in Wandershorts

Mittwoch, 16. August 2017 um 6:52

Feiertag Mariä Himmelfahrt.
Ab sofort mache ich zwar Sportpause, um für den Wanderurlaub zu regenerieren und dem gereizten Nerv Heilzeit zu gönnen. Ein wenig sanftes Krafttraining wollte ich gestern aber doch machen, deshalb spaziert ich an den Ostbahnhof zu “BodyArt (m.Schwungphase)”. Ja, so habe ich auch geschaut.

Und da man ja auf einem Wanderurlaub auf keinen Fall ein Ausstattungsstück zum ersten Mal tragen sollte, testete ich die neuen Wandershorts.

Traumhaftes Sommermorgenlicht.

Die Sportstunde stellte sich als eine Art Speed-Yoga mit Wiederholungen heraus, ohne viel Erklärungen, und war ganz schön schweißtreibend. Allerdings für meine Halswirbelsäule gar nicht gut, unter anderem weil der Kopf viel überstreckt wurde. Auf dem Heimweg zahlte ich mit atemberaubenden Armschmerzen.

Nachmittags legte ich mich zu einer langen Siesta hin – dann war der Nackennerv zum Glück wieder wie vor der Turneinheit.

Ausführliches Bügeln, allerdings nicht bis zum Boden des Wäschebergs, bis ich mich mit Herrn Kaltmamsell per S-Bahn zum Biergarten Hirschgarten aufmachte – da war ich dieses Jahr noch gar nicht gewesen.

Wieder einen Tisch direkt am Gehege gefunden, Rehaugen und -schnauzen bewundert, die sich uns bettelnd entgegenreckten. Gefüttert wurden sie aber von Gästen ein paar Meter weiter, direkt unter dem Schild, auf dem ausführlich und innig darum gebeten wird, genau das nicht zu tun.

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Christiane Frohmann hat einen Vortrag online gestellt, den sie im Mai auf den Solothurner Literaturtagen gehalten hatte:
“Wer verstehen will, muss mitspielen
Die Literatur erzeugt ganz selbstverständlich virtuelle Realitäten, doch kaum eine Branche tut sich so schwer mit „diesem Internet“. Eine Kritik der digitalen Performanz – und eine Aufforderung zum Mitspielen.”

Sehr interessant, gerade weil auch ich schon wieder beobachten muss, wie Menschen ohne eigenen Bezug zu Social Media in ihrem beruflichen Umfeld Unheil anrichten, weil sie glauben, durch das Lesen von drei Statistiken und einem Fachbuch die Social-Media-Geschicke lenken zu können.

Mithilfe von Kleists Marionettentheater-Aufsatz möchte ich Entwicklungen beschreiben, die ich in den letzten Jahren im Internet beobachtet habe. Ich greife dabei nicht auf den Teil mit den Marionetten zurück, sondern allein auf die Dornauszieher-Szene, wo es darum geht, dass jemand unbewusst sehr graziös ist, diese Grazie aber, sobald sie ihm bewusst wird, verlieren kann. Etwas Ähnliches ist auch mit vielen Flow-Menschen im Internet geschehen.

Das Netz wirkt immer da und dann graziös, wenn sich alle miteinander der Performanz überlassen, neue Formen von Erfahrung, Ästhetik und Nähe zulassen, dies kann unbewusst oder reflektiert geschehen. Das Netz erscheint plump und wird faktisch böse, wo es hermeneutisch rückgekoppelt wird – im ersten Falle unbewusst, im zweiten manipulativ.

Menschen, die sich im digitalen Flow durch günstige Umstände wie ein Fisch im Wasser bewegen können, sind dem unbewusst graziösen Dornauszieher bei Kleist vergleichbar. Dieser ist durch seine Naivität anziehend, er weiß nicht, was er tut, und er sieht dabei gut aus. Dieser Zustand ist nach innen und außen angenehm, der Dornauszieher ruht unzerrissen in sich selbst und löst bei Betrachtenden Wohlgefallen aus. Im Internet waren viele Menschen in den späten Nuller- und frühen Zehnerjahren in dieser Phase, als in den sozialen Netzwerken die Grenzen verwischten zwischen Stars und Normalsterblichen, professionell und einfach so Schreibenden, Privatmenschen und öffentlichen Personen, biologisch Älteren und Jüngeren. Menschen poetisierten damals vor aller Augen virtuell, glaubten an Post Privacy und an gerechtere Gesellschaftsstrukturen, die sich antihierarchisch herausbildeten. Ein paar Jahre lang fühlte sich das Internet an wie Woodstock oder die Love Parade

Doch klugerweise plädiert Frohmann durchaus dafür, sich offen mit dem beständigen Wandel des Web auseinander zu setzen.

Wer (…) klagt, wie es in Deutschland so mancher im 20. Jahrhundert groß gewordene Indiemusiker tut, die Jugend habe keine „richtigen“ Bands oder Überzeugungen mehr, sagt performativ in der Mehrheitswirklichkeit von heute: Ich bin ein alter Sack, denn ich habe den Anschluss verloren. Weil er aber ein prominenter alter Sack ist, der für die Coolness von früher steht, werden sich im Netz immer genügend Menschen finden, die seine Tiraden teilen und liken, immer wieder, was diese zunehmend plausibler klingen lässt.

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Dass Sexismus in der Spitzengastronomie großen Einfluss hat, ist nicht neu. Kürzlich wurde das offensichtlich, als das Magazin Rolling Pin eine Liste mit den „50 besten Köchen Deutschlands“ veröffentlichte – 48 davon weiß und männlich.

Ein Interview zum Phänomen in Edition F:
“Mary Scherpe: ‘Manche glauben wirklich, dass es so wenige Köchinnen gibt, weil die Pfannen zu schwer sind’“.

die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Journal Dienstag, 15. August 2017 – Hirschgarten in Wandershorts“

  1. Hauptschulblues meint:

    Die Isar ist schön voll. Hauptschulblues sieht sie selten, da er am anderen Fluss wohnt (der aber auch ab und an voll ist).

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