Journal Freitag, 3. September 2021 – Berlin 5: Spreefahrt und Gärtnerei-Essen im Tisk

Samstag, 4. September 2021 um 13:04

(Vorabinfo zu Samstag und Rückreise per bestreikter Bahn: Ich schreibe im Zug, wir haben es bereits nach Hannover geschafft und sitzen jetzt im Zug nach Nürnberg.)

Ausgeschlafen, draußen herrlichster Sonnenschein.

Deko-Element am Oderberger, leicht gruslig.

Herr Kaltmamsell hatte uns Tickets für eine Spreeschifffahrt gesichert, erst mal für die Standardstunde. Auf meiner Unternehmungsliste für Berlin steht auch eine ausführliche Fahrt inklusive Seitenarme, das mache ich bei einem anderen Besuch.

Auf dem Weg zur Anlegestelle zweimal Morgenkaffee mit Zeitunglesen, ich genoss die Farben des Sonnenlichts durch Blätter, auf den gepflasterten Wegen, zwischen den vielen Draußensitzenden vor den Cafés.

Esskastanie im Monbijoupark.

Spreefahrt durch Regierungs- und Nikolaiviertel, mal mit Wind von vorn (ich freue mich sehr auf den Friseurtermin in zehn Tagen), mal von hinten. Die gut hörbaren Erklärungen vom Band enthielten durchaus Neues.

Weil wir schon mal da waren und ich ihn noch nie besucht hatte, sahen wir uns den Tränenpalast an. Gut aufbereitete Informationen, die den Ort zum Anlass nehmen, die Teilung der Stadt, Mauerbau und Fall der Mauer zu erzählen. Es flasht mich immer wieder, dass der Mauerfall jetzt länger her ist, als es die Mauer überhaupt gab – da ich mit einem geteilten Deutschland groß geworden bin, hat mich das nachhaltig geprägt.

Beispiel für ein Westpaket – für mich Erinnerung an den Back-Kakao meiner Kindheit und Jugend.

Am frühen Nachmittag spazierten wir zurück Richtung Hotel. Wir kehrten ein im Mogg in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule – endlich konnte ich Herrn Kaltmamsell das dortige legendäre Pastrami-Sandwich servieren. Ich aß Shakshuka, das gut tat, aber nicht an das von Herrn Kaltmamsell heranreicht.

Unsere Bewegungsfreiheit im Hotel war eingeschränkt: Dreharbeiten. Zumindest mussten wir nicht auch noch leise sein. Wegen des anhaltenden Lokführer-Streiks recherchierten wir Bahnverbindungen, die uns am Samstag nach München bringen würden. Die am Dienstag reservierte gab bereits nicht mehr, wir reservierten eine neue über Hannover und Nürnberg. Samstag würden wir halt früh morgens am Bahnhof sein und dort aktuelle Auskunft erbitten.

Fürs Abendessen hatten wir einen Tisch im Tisk reserviert; das Konzept „Farm to table“ mit eigener Gärtnerei und die Gemüse-zentrierte Speisekarte hatten mich sofort angezogen – so sähe es vermutlich aus, wenn es ein Kartoffelkombinat-Restaurant gäbe.

Den Aperitif nahmen wir in der Bar des Hotel Oderberger: Rechts Norway Muse für mich, herbsüß, links Birne für Herrn Kaltmamsell, frisch. Besonders interessant: Meine Deko-Kirsche war stark mit Gewürznelke aromatisiert.

Wir nahmen nur für die Hauptstrecke die U-Bahn nach Neukölln, gingen die erste und letzte Viertelstunde zu Fuß zum Gucken. Neukölln gefiel mir wieder ganz besonders gut, im milden Wetter saßen auch hier die Menschen draußen, bunt und vielfältig.

Im Tisk wurden wir herzlich empfangen. Auf der Theke zur offenen Küche (wir saßen drinnen, denn sobald die Sonne verschwindet, ist es mir Prinzesschen auf der Erbse draußen zu kühl) lag dekorativ neben Kürbissen eine stattliche Zucchini. Auf dem Weg hatte ich mich mit Herrn Kaltmamsell über die Schwierigkeit unterhalten, fürs klassische spanische Pisto solche großen Exemplare zu bekommen (die geschält, entkernt und kleingewürfelt werden), da mittlerweile nur noch junge, saftige und auch roh verwertbare Exemplare angeboten werden. Darauf sprach ich unseren Gastgeber bei der Bestellung an, der zustimmte, dass man die heutzutage wahrscheinlich eigens bestellen müsse, und dann einfach meinte: „Ich gebe Ihnen die mit, erinnern Sie mich doch, bevor Sie gehen.“ Auf mein überraschtes: „Echt?!“ brachte er gleich eine grüne und eine gelbe, große Zucchini, warnte lediglich, die gelbe sei schon älter, da müsse man wahrscheinlich mehr wegschneiden. Berlin farm to Munich table.

Erst wurde selbst gebackenes Knäckebrot mit Hummus zu Dippen auf den Tisch gestellt. Und dann aßen wir Gemüse. Vorspeisen:

Für mich gab es rote Bete mit Spinat, Kapuzinerkresse, Mirabellen, Tagetesblättern – ganz wunderbar.

Herr Kaltmamsell hatte Brokkoli mit knusprigen Mangoldblättern und Majonese.

Als Hauptgericht aßen wir beide Steckrübe mit Trompetenpilzen, Ei und Hollerbeeren – köstlich: Die Steckrübenscheibe war gegart und dann noch bis zur Karamelisierung gebraten.

Im Glas einen rheinhessischen Huff Doll Grauburgunder. Die kleine Weinkarte hatte auch orange wine angeboten, da ich diese konkreten aber nicht kannte und die Mostnote vieler Naturweine nicht mag, scheute ich davor zurück. An anderen Tische sah ich zweimal das berühmteste Gericht des Tisk gebracht: Broiler, ein ganzes Brathuhn mit Füßen, das man sich am Tisch selbst teilt.

Nachtisch war ein Tiramisu-Eis mit Pistazie, ebenfalls ausgezeichnet.

Abschließend bekam Herr Kaltmamsell Espresso, ich bat um einen Schnaps und folgte der Empfehlung Williamsbirne. Ich hatte mich noch nie zuvor aus einem Restaurant mit zwei Zucchini unterm Arm verabschiedet, aber irgendwann muss man halt damit anfangen.

Rückweg mit Neukölln-Ansichten:

Strudlhofstiege auf Berlinerisch?

An der Karl-Marx-Straße.

Ungewöhnliches Mitbringsel vom Fine Dining: Zwei je 40 Zentimeter große Zucchini aus der Restaurant-Gärtnerei. Hier am Hermannplatz.

Zurück in Prenzlauer Berg guckten wir wieder Wahlwerbung: In Berlin wird am 26. September auch das Abgeordnetenhaus gewählt, ich lerne aus den Plakaten viel.

§

Gute Gedanken von Jagoda Marinić in der Süddeutschen dazu, wie verzwickt das Thema Migration und Diversität inzwischen im politischen Diskurs Deutschlands ist (€):
“Vielfalt im Wahlkampf:
Wir sind hier nicht gemeint”.

Fast sehne ich mich zurück nach einem Sturkonservativen wie Edmund Stoiber, der zwar nur Klischees von integrationsunwilligen Ausländern in die Welt setzte, aber ihm konnte man noch widersprechen. Im Triell fand Migration als Thema überhaupt nicht statt. Nach Jahrzehnten der Wahlkämpfe, in denen Einwanderung meist nur missbraucht wurde, um Rechtskonservative zu mobilisieren, fehlt der Politik eine Strategie dafür, wie man mit Diversität auch Wahlen gewinnen könnte.

(…)

Ich gebe zu, dass dieses Mal nicht allein die Mehrheitsgesellschaft verantwortlich für diesen Missstand ist, sondern auch ein Teil der Minderheiten. Zu viele verstehen ihre Rolle als Empörungs-Twitterer, die Fehler anprangern, ohne zu sagen, was sie verbessern wollen.

(…)

Die einen wollen den altmodischen Integrationsdiskurs zurück, andere wirtschaftsaffin über Diversität reden, wieder andere den postkolonialen Diskurs einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen, um nur einige der Akteure zu beschreiben. Für Politiker ist diese Zersplitterung bequem: Man muss keine Minderheiten als Ganzes in demokratische Prozesse einbeziehen, sondern ein Foto oder Event pro Gruppe reicht, gerne mit einer profilierten Persönlichkeit, fertig!

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Journal Freitag, 3. September 2021 – Berlin 5: Spreefahrt und Gärtnerei-Essen im Tisk“

  1. Claudia Jolig meint:

    Vielen Dank für die schönen Berichte und Fotos!! aus Berlin. Ich bin schon viel zu lange nicht mehr dort gewesen.

  2. hafensonne meint:

    Übergroße Zucchini sind überhaupt kein Problem! Entweder hat man Menschen mit Garten im Bekanntenkreis, oder man baut die Viecher einfach selber an. So schnell kann man gar nicht gucken, dass die Übergröße haben. Schmecken halt nicht doll nach was.

  3. die Kaltmamsell meint:

    Sind Sie sicher, dass das gerade ein nützlicher Tipp ist, hafensonne?

  4. hafensonne meint:

    Ach. Das sollte doch kein hilfreicher Tip sein, sondern einmal aus der Erfahrung geplaudert. Zum einen häufen sich in meinem Umfeld allspätsommerlich die fast verzweifelten Riesenzucchiniabnehmwünsche, andererseits habe ich einige Jahre selbst Zucchini angebaut und dabei gelernt, wie schnell die sehr groß werden. Und nein, besonders lecker sind die in der Größe *für mich* nicht.

  5. Nina meint:

    Danke, dass Sie uns diese Woche mit auf ihre Tour durch Berlin genommen haben. Das war sehr interessant und hat mir einige Anregungen für die eigene Stadt gegeben. Für den nächsten Besuch kann ich Ihnen wärmstens ein Shakshuka oder Sabich im Kitten Deli in der Friedlstr. oder im Mugrabi in der Görlitzer Str. ans Herz legen. Beide bieten aufs Wunderbarste levantische Küche an. Gutes Ankommen zuhause Ihnen!

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