Journal Mittwoch, 4. Januar 2023 – Nora an den Münchner Kammerspielen

Donnerstag, 5. Januar 2023 um 9:06

Am zweiten Arbeitstag des Jahres war ich nicht mehr völlig allein auf dem Büroflur, es wurden gute neue Jahre gewünscht.

Die Schlagzahl war allerdings bereits wieder so hoch, dass ich zügig wegarbeitete, um nicht durch Querschießendes in Hektik zu geraten. Zumal ich gestern besonders früh gehen wollte (also so richtig mit Minusstunden), um abends das Wahrnehmen meines Theaterabotermins wahrscheinlicher zu machen.

Der Tag startete mit Sonne und wärmte mein Büro, bewölkte aber mittags immer mehr.

Mittagessen Mango mit Joghurt, Pumpernickel mit Butter.

Danach legte ich einen Zahn zu bei der Arbeit, um auch wirklich schon um halb vier zu gehen. Das klappte dann wegen eines Querschusses nur um eine Viertelstunde nicht.

Heimweg im Hellen mit einem Einkaufsabstecher für Drogeriewaren und Lebensmittel. Zu Hause las ich alte Zeitungen auf, zog mich dann um (“Hop into something comfy”) für das diesjährige 30-Tage-Yogaprogramm von Adriene, “Center”. Aus Erfahrung mit den anderen Programmen checkte ich erst mal den Anfang – und übersprang die ersten fünf Minuten Sitzen und besinnliches Geplapper. Danach bekam ich eine halbe Stunde Dehnen und Halten mit immer noch genug Yoga-Besinnlichkeit.

Frühes Abendessen, Herr Kaltmamsell servierte spanische Tortilla und hatte dafür auf meinen Wunsch erstmals mit gekochten Kartoffeln gearbeitet, wie es viele zeitgenössische spanische Rezepte tun. Schmeckte gut und nach Tortilla. Davor hatten wir uns eine Dose callos a la madrileña geteilt, danach gab es nur ein wenig Süßigkeiten.

In Milde und Wind marschierte ich zu den Kammerspielen, auf dem Spielplan stand Nora. Als Herr Kaltmamsell das erfahren hatte, bewarf er mich umgehend mit dem angestaubten Witz
“Mögen Sie Ibsen?”
“Keine Ahnung, ich habe noch nie geibst.”
(Im Englischen funktioniert er mit Kipling.)

Für diese Inszenierung werden als Autor*innen allerdings angegeben: Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch, Ivna Žic. Der Website entnehme ich auch, dass die Theaterwelt mittlerweile nicht mehr dekonstruiert, sondern interveniert; mal sehen, wann auch dieser Begriff bis in die Speisekartenwelt verwässert (“an drei Interventionen vom Rosenkohl”).

Der Zuschauerraum war so voll, wie ich ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte, fast jeder Sessel besetzt.

Ich sah gut zwei Stunden spannendes Theater. Vor dem Ibsen-Teil setzten sich die Darsteller*innen am Bühnenrand an einen Tisch, erklärten als Darstellende der Rollen dem Publikum, wessen und welche Geschichte das Stück eigentlich erzählt, hinter ihnen projiziert das Bild eines Puppenhauses, das langsam verschneit, der Tonfall war kommödiantisch. In diesem Prolog wurden die Inhalte thematisiert, die heutigen Betrachter*innen sofort auffallen – und gleich mal abgefeiert, unter anderem mit einem fulminanten und brutalst überzogenen Ausbruch der Nora-Darstellerin inklusive “FUCK PATRIARCHY!”

Dann erst begann Ibsens Nora, doch auch darin Selbstgeschriebenes wie eine Szene, in der die Kinder auf die Ereignisse zurückblicken, Lieder, die Hauptdarstellerin Katharina Bach singt (die auch das großartig und in verschiedenen Musikstilen konnte, Highlight “S.O.S” von ABBA als düsteres Industrial-Stück, wie sie an diesem Abend ohnehin atemberaubend schauspielte und körperliche Artistik bewies). Außerdem eine Szene, die mir sehr nach Improvisation aussah: Ich mache meinen Verdacht daran fest, dass die eine oder andere Minute lang weder Licht noch Ton oder Filmprojektion eingesetzt wurden – wo ich doch seit Jahren einen tiefen horror vacui in Theaterinszenierungen diagnostiziere.

Diese Anreicherungen von Dramen bin ich vor allem bei Klassikern gewohnt und sie funktionieren oft sehr gut, auch hier. Überrascht bin ich, dass die Anreicherinnen hier als Co-Autorinnen auftauchen, im Grunde sind das doch fast immer die Dramaturgin oder der Dramaturg einer Inszenierung.

Eine sehr dominante Rolle spielte das Bühnenbild: Eine schräge Ebene in Form eines auf den Kopf gestellten Hauses, die Oberfläche mit griffigen Matten bedeckt. Darauf turnten und liefen die Darstellenden raumgreifend (oder eben nicht wie der tastend unsichere Krogstad, gespielt von Thomas Schmauser) – mir kam es vor, als hätte Bühnenbildnerin Viva Schudt ein Stück im Stück geschrieben (und mag das eigentlich nicht).

Alle Darstellenden beeindruckten mich sehr, Svetlana Belesova als Frau Linde merke ich mir besonders.

Viel Schlussapplaus. Den ich auch für mich beanspruche, weil ich es bereits in meine ersten beiden Abo-Abende der Spielzeit 2022/23 geschafft habe. (Immer noch kein Fitness-Tracker für Kultur auf dem Markt? Für bewegungsfreudige Leute mich mich, die keinen inneren Schweinehund für Sport kennen, aber für Theater- und Ausstellungsbesuche? Obwohl sie – parallel zum inneren Sport-Schweinehund – doch wissen, dass sie sich danach immer besser fühlen?)

Heimweg durch weiter milden Sturm, aufgekratzt vom Abend schlief ich nur schwer ein.

die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 4. Januar 2023 – Nora an den Münchner Kammerspielen“

  1. N. Aunyn meint:

    Yoga-Besinnlichkeit – allerschönst. Werde ich in meinen Wortschatz übernehmen.

  2. Neeva meint:

    Ich übernehme dafür die Idee des Kultur-Schweinehunds.

  3. Poupou meint:

    Interventionen vom Rosenkohl! Sehr großartig!

  4. Jürgen meint:

    Oh, ich wusste nicht, dass der Witz schon älter ist. Ich versuche ab und an damit in der Riesling-Variante zu glänzen.

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