Journal Samstag, 17. Juni 2023 – Kreatives Ungeschick und Fang Fang, Michael Kahn-Ackermann (Übers.), Weiches Begräbnis

Sonntag, 18. Juni 2023 um 9:01

Unruhige Nacht beim Elterns, obwohl ich wirklich nicht viel Alkohol getrunken hatte, zu früh aufgewacht.

Elterngarten mit sommerlicher Rosenpracht.

Mit Herrn Kaltmamsell spazierte ich im Sonnenschein über ein paar Umwege zum Nordbahnhof.

Zum Beispiel am ehemaligen Schubsa-Gelände vorbei: Von der einstmals ausgedehnten Spinnereimaschinenfabrik ist nur dieser wahrscheinlich denkmalgeschützte Turm übrig.

Heimfahrt durch die sonnenbeschienene und vor Grün strotzende Holledau. Ich las auf meinem Smartphone Fang Fang, Michael Kahn-Ackermann (Übers.), Weiches Begräbnis aus.

Auf dem Weg vom Münchner Hauptbahnhof nach Hause besorgte ich Frühstückssemmeln und ein paar Backzutaten, denn angekommen buk ich gleich mal eine Aprikosentarte mit Mandelcreme.

Wurde: geflammte Aprikosentarte.

Soll keiner behaupten, ich sei in meinem Ungeschick langweilig: Nachdem ich vergangene Woche die Butterdose beim Zurückstellen in den Kühlschrank fallen ließ (in viele Stücke zerbrochen, ein Splitter geriet in meine linke Fußsohle), schaffte ich gestern, den Ofen statt auf Ober- und Unterhitze auf Umluft mit Grill zu schalten (und weiß jetzt, dass das die Funktion gleich daneben ist).

Zum Frühstück um halb drei gab’s Ruccola-Semmel: Walnusssemmel mit Butter und einer dicken Schicht frischem Ruccola aus Ernteanteil, hervorragend.

Dann legte ich mich in mein abgedunkeltes Schlafzimmer, um per Siesta ein wenig Nacht nachzuholen. Ich schlief tatsächlich tief – und wachte reichlich benommen auf. Was mir gestern ganz recht war: Leider geht es mir derzeit schlecht, in mir ist es dunkeldüster, gestern besonders schlimm, ich bin völlig hilflos, was ich dagegen tun soll; die Benommenheit nahm ein wenig die verzweifelten Spitzen.

Lektüre der Wochenend-Süddeutschen auf dem Balkon: Eine leichte Brise verhinderte Hitze, und jetzt um die Mitsommerzeit steht die Sonne ohnehin so steil, dass ihre Strahlen nur den Rand des Balkons erreichen.

Eine Runde Yoga-Gymnastik. Zum ersten Abendessen auf dem Balkon gab es Salade niçoise und österreichischen Rosé Feinstrick.

Ich erwischte die Abendsonne an einem der wenigen Tage, an denen sie es vor dem Untergehen bis übers Nachbargebäude schafft.

Nachtisch in drei Gängen: Erdbeeren, Aprikosentarte (ok, Störfaktor war weniger das Angekokelte, sondern die Säure der Aprikosen), Schokolade.

(Sehen Sie: All diese Schönheit, all die Genüsse, all der Wohlstand, die liebevolle Umgebung und all diese Privilegien haben nunmal keinerlei Heilkraft gegen die bösartig bissige innere Düsternis. Im Gegenteil: Sie drehen die Verzweiflung noch ein paar Grade hoch, da ich ja offensichtlich überhaupt kein Recht darauf und überhaupt keinen Grund dazu habe.)

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Ich habe einen Roman zu empfehlen, und zwar Fang Fang, Michael Kahn-Ackermann (Übers.), Weiches Begräbnis. Der Titel bezeichnet eine Erdbestattung ohne Sarg – aber nicht aus religiösen Gründen, sondern aus Hast: Wenn Verstorbene wegen schlimmer Umstände ohne Riten eilig im Boden verscharrt werden müssen.

Weiches Begräbnis, veröffentlicht 2016, spielt in China, und die schlimmen Umstände sind die Landreform unter Mao, während der in den 1950ern und 60ern Land von Grundbesitzern beschlagnahmt und an Bauern umverteilt wurde – oft brutal und gewaltsam, die Forschung geht von bis zu fünf Millionen Toten aus. Die eigentliche Handlung des Romans ist das Erinnern an schlimme, traumatisierende Vergangenheit, als Individuum und als Gemeinschaft, in der die einen den anderen so etwas angetan haben. Beides, sowohl den historische Hintergrund als auch die Verarbeitung, behandelt Fang Fang, chinesische Drehbuch- und Romanautorin aus Wuhan, ohne einfache Anworten, sondern mit vielen Schattierungen und in erster Linie in der Benennung offener Fragen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht zunächst eine alte Frau, Ding Zitao. Wir verfolgen ihren Alltag und erfahren in Bruchstücken, dass sie als junge Frau halbtot aus einem Fluss gerettet wurde, ihr Gedächtnis verloren hatte, dass sie heiratete, einen Sohn hat – und dass ihr liebevoller Ehemann sehr schnell aufhörte, nach ihrer Vergangenheit zu fragen, weil das heftige körperliche Reaktionen auslöste. Die ruhige Zufriedenheit ihres Lebens endet jäh, als ihr erwachsener Sohn Qinglin, ein erfolgreicher und wohlhabender Manager, ihr ein eigenes Haus kauft und sie dieses bezieht: Ding Zitao spricht wirr und von unbekannten Orten und Personen, dann fällt sie in eine katatonische Starre.

Die Hintergründe dafür werden jetzt in zwei Handlungssträngen erzählt: Zum einen gibt es kurze Kapitel, in denen sich anscheinend die alte Frau an ihr Trauma erinnert, in schemenhaften Bruchstücken rückwärts chronologisch ab ihrem Fast-Ertrinken, nach dem ihr jetziges Leben begann. Zum anderen verfolgen wir Qinglin, der durch den Zufall eines Freundes, der als Professor mit einer Gruppe Studierender alte Gutshöfe erforscht, in überraschendem Zusammenhang auf die Ortsbezeichnungen stößt, von denen seine Mutter plötzlich gesprochen hat. Mal zögerlich, mal impulsiv aktivistisch geht er einem möglichen Zusammenhang nach.

Von Anfang an faszinierte mich dabei die für mich exotische Note einer Kultur, von der ich so gut wie nichts weiß: Die Dialoge verlaufen ganz anders als bei uns, setzen andere gesellschaftliche Konventionen und Hierarchien voraus. Übersetzer Michael Kahn-Ackermann setzt immer wieder Fußnoten zu historischen und aktuellen Hintergründen, die für eine chinesische Leserin vertraut sind. Und mir gefiel die Offenheit vieler Erzählfäden und Hintergründe: Dinge klären sich eben gerade nicht auf (in der Handlung, als Leserin kenne ich die Zusammenhänge), weil Schlüsselpersonen sterben – oder Betroffene sich entscheiden, nicht weiterzuforschen. Denn so wie Ding Zitao damals nur in relativer Ruhe weiterleben konnte, weil sie ihre entsetzlichen Erlebnisse vergaß oder sich nicht mehr mit ihnen befasste (ein Muster, das man auch bei den Überlebenden der Shoah kennt), akzeptiert die Romanhandlung das Nicht-Wissen-Wollen auch in der nächsten Generation zur Bewältigung der Gegenwart – durchaus mit der Warnung aus dem Mund des Professors, dass die Verschleppung von Trauma durch die Generationen unabsehbare Folgen hat.

Weitere Bereicherung durch die Lektüre: Fang Fang ermöglicht Einblick in Kunst, Literatur und Handwerk des klassischen China. Im Standard bespricht Michael Wurmitzer den Roman:
“‘Weiches Begräbnis’: Die brutale chinesische Bodenreform als Tabuthema”.

(Sonstige deutschsprachige Besprechungen und Beschreibungen von Weiches Begräbnis kommen leider kaum über die chinesische Rezeption hinaus: Der Roman wurde in China bald verboten.)

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Sie kennen die YouTube-Serie “Open Door: Inside Celebritiy Homes” des Magazins Architectural Digest? (Bislang fragte ich mich noch bei jeder Folge: Und wo sind eure Bücher? Und euer Zeugs? Aber egal.)

Nur konsequent, dass es auch eine Folge “Barbie’s Dreamhouse” gibt.

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https://youtu.be/uKgaVlMN7IY

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Die Otamatone ließ mich gestern nicht los, hier eine Folge Spain’s Got Talent damit.

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https://youtu.be/_I7nCZVky40

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Journal Samstag, 17. Juni 2023 – Kreatives Ungeschick und Fang Fang, Michael Kahn-Ackermann (Übers.), Weiches Begräbnis

  1. Beate meint:

    Das Open-Door-Dreamhouse-Video ist toll! Vielen Dank dafür!

    Ich hoffe, dass die Düsternis bald weicht …

  2. Sabine meint:

    Die Düsternis ist ein Mistkerl. Ich sende die besten Wünsche, dass sie sich bald lichtet.

  3. Croco meint:

    Quiero uno!
    Und das Buch über China hört sich ja sehr interessant an. Nach vielen Jahren der Pearl S. Buck-Abstinenz würde es gerade passen.

    Das mit der Düsternis tut mir so leid. Diesen ungebetenen dunklen Gast will keiner haben.

  4. PaulineM meint:

    Jeder Mensch hat ein Recht auf innere Düsternis. Wenn Sie sich dieses Recht absprechen, kommen noch Schuldgefühle dazu. Mein eigenes Lebensmotto ist “Ein jegliches hat seine Zeit.” Ich bin zuversichtlich, dass solche düsteren Phasen auch wieder durch andere abgelöst werden, was mir Trost gibt. Ich wünsche Ihnen gute Besserung und hellere Tage!

  5. Micha meint:

    Gaaaanz am Anfang vor vielenvielen Jahren als ich Ihr Blog entdeckte und nahezu sämtliche Blogs ohne Konterfei rollten, stellte ich Sie mir so ein bißchen Vivien Westwood-mäßig vor… aber siehe da: der eigentliche Punk ist ja Ihr Mann ;))

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