Journal Freitag, 28. Juli 2023 – Homeoffice-Gedanken und Josef Bierbichler, Mittelreich

Samstag, 29. Juli 2023 um 8:36

Etwas unruhiger Schlaf, die Mini-Erkältung bewirkte Schluckreiz (?) und manchmal Hustenreiz (plus leichte Gereiztheit wegen Kränklichkeitsgefühl).

Nach dem Aufstehen setzte ich als Erstes Sauerteig für ein Weizenmischbrot an, das ich abends kneten und über Nacht im Kühlschrank reifen lassen wollte für Backen am Samstagmorgen. Die 27 Grad fürs Reifen versuchte ich durch eine heiße Wärmflasche im vorher leicht angeheizten und dann ausgeschalteten Backofen herzustellen. In den über 300 Kommentaren unterm Rezept wird von sehr durchmischten Ergebnissen berichtet, ich hoffe mein vierfaches Auffrischen des Anstellguts über die vorhergehenden Tage hatte ihm genug Triebkraft verschafft.

Marsch in die Arbeit in milder Luft, aber es brauchte weiterhin Jacke. Beim Kauf meines Laugenzöpferls für die Brotzeit geriet ich in eine lange Warteschlange: Anscheinend feierten besonders viele Schulkinder den letzten Tag vor den großen Ferien mit Bäckerei-Gebäck.

Leere Büros, am Freitag arbeiten die Menschen besonders gern von Zuhause aus. Also Menschen außer mir, für mich ist es eine Strafe, von daheim aus zu arbeiten: Ich habe dort keinen Arbeitsplatz. Dass “die Jungen” Homeoffice als selbstverständlich und positiv ansehen, erkläre ich mir nämlich auch damit, dass sie daheim aus Schulzeit oder Studium noch einen Arbeitsplatz haben, mit Schreibtisch, mindestens einem Bildschirm, Tastatur, halbwegs Büroarbeits-tauglichem Stuhl. Meine Büroarbeit wiederum findet seit 25 Jahren in einem meist optimal ausgestatteten Angestellten-Büro statt, den Arbeitsplatz daheim schaffte ich vor 25 Jahren ab, als ich meine Dissertation hinschmiss. In meinem Fall ist alles an Homeoffice im Vergleich zum (nur 35 Fußminuten entfernten) Büroarbeitsplatz schlechter und wird nicht aufgewogen durch guten, selbstgemachten Cappuccino und die Möglichkeit, zwischendurch Wäsche aufhängen oder Brotteig kneten zu können. Dass jeweils zwei Drittel des restlichen Teams von daheim aus arbeiten, verbessert meine Bürosituation zusätzlich, denn ich bleibe weitgehend ungestört.

Mittags raus auf einen Speciality Coffee Cappuccino.

Jetzt war es deutlich milder geworden.

Mittagessen später am Schreibtisch: Laugenzöpferl, wunderbare Reineclauden (na gut, waren wahrscheinlich ihr Geld wert) und ein paar Kirschen, Kefir.

Nach pünktlichem Feierabend in einsetzendem Regen über Süßigkeiten-Einkäufe und Bargeld-Abhebung nach Hause.

Dort eine Runde Yoga-Gymnastik mit Mady, Maniküre – dann war Wochenende, auf das ich mit Herrn Kaltmamsell anstieß:

Martinis mit Cocoa Gin und Kakaobohnen-Splittern, sehr gut.

Als freitägliches Abendessen hatte ich mir Lasagne gewünscht, Herr Kaltmamsell stellte es mit einer Mischung aus Soja-Bröckerln und Grünkern her.

Dazu ein italienischer Rosé aus Apulien, der uns nur mittel schmeckte (unerwartet unblumig), aber sehr gut zur Lasagne passte. Nachtisch Süßigkeiten.

Ab Heimkehr bearbeitete ich immer wieder den Brotteig (Kneten, alle halbe Stunde strech & fold), er bewegte sich nicht wirklich vielversprechend.

Im Bett begann ich die Lektüre eines neuen Romans (vorbestellt über die Münchner Stadtbibliothek, einen Tag vor Beenden des vorherigen Romans war die Verfügbarkeits-Nachricht eingetroffen – perfektes Timing): Delia Owens, Where the Crawdads Sing, was gefühlt in den vergangenen Monaten von meinem gesamten Internet gelesen wurde.

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Josef Bierbichler, Mittelreich stand seit seinem Erscheinen auf meiner Wunschliste – hat dann doch über zehn Jahre gedauert, bis es dran war.

Ich musste bei der Lektüre immer wieder an das Buch Akenfield: Portrait of an English Village von Ronald Blythe denken (hier habe ich es im Blog beschrieben), denn Bierbichlers Roman hatte auf mich eine ähnliche Wirkung: Durch die Erzählung der Familiengeschichte eines Land- und Gastwirts im fiktiven Ort Seedorf am Starnberger See vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis etwa in die 1980er erlebte ich grundsätzliche gesellschaftliche, technische, politische Veränderungen. Die Dynamik zwischen Familienmitgliedern war am Ende nicht mehr dieselbe wie vor 100 Jahren, ebenso wenig das Verhältnis zwischen Chefs und Angestellten, die Kirche spielte eine andere Rolle. Das transportiert Bierbichler in einer lakonisch kraftvollen und rhythmischen Sprache, die ich als authentisch empfand, weil sie sich mit meinen Erfahrungen ländlicher Gebiete in Oberbayern vor allem in der Vergangenheit deckte. In diese oberbayerisch gefärbte Mündlichkeit baut Bierbichler auch mal selbst erfundene Wörter, um etwas besonders treffend auszudrücken.

Mir gefielen die immer wieder durchscheinenden menschlichen Beobachtungen, sei es der Einfluss der Sommerfrischler*innen auf die Dorfjugend schon in den 1920ern, zur Entwicklung von Dorfgemeinschaften, zur Desillusion einer Elterngeneration, deren Kinder eigene Lebenswege gehen wollen, sei es die Stellung der Vertriebenen in der portraitierten Gesellschaft oder die Verdrängung schlimmer Erlebnisse, die Überleben erst ermöglicht. Erzähltechnisch bedient sich Bierbichler bei vielen Gattungen, seine im Ganzen lineare Geschichte setzt sich aus verschiedenen Flecken zusammen, mal blicken wir in die Gefühlswelt eines Internatsschülers, mal sehen wir in einem Sparkassenbüro der 1970er eine Szene wie im Bauerntheater. Sein Material hat Bierbichler aber immer im Griff, es ergibt ein stimmiges Gesamtbild.

Interessant finde ich, dass ich erst jetzt auch an Oskar Maria Grafs autobiografischen Roman Das Leben meiner Mutter denke, obwohl der mit seinen fast deckungsgleichen Schauplätzen und nur wenige Jahrzehnte früher angesiedelt als Vergleich näher läge.

Hier eine Besprechung des Romans von Herbert Fuchs aus dem Jahr 2012, die mir sehr gut gefällt:
“Unheile Welt”.

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Freitag, 28. Juli 2023 – Homeoffice-Gedanken und Josef Bierbichler, Mittelreich

  1. Frau Bruellen meint:

    Freut mich, dass dir der bierbichler auch so gut gefallen hat. Ich habe die Empfehlung von einer Blogleserin bekommen, die Buchhändler ist und mich beim verlassen des Bierbichlerschen Gasthofs angesprochen hat. Das war so viel Zufall, dass ich das Buch allein deshalb mochte.
    Bin gespannt, was du zu den crawdads sagst, habe das 2019 im Urlaub gelesen und sehr starke Meinung dazu . Auf jeden fall ist es ein sehr weiter Schritt vom Starnberger See in die Sümpfe der südstaaten

  2. Miriam meint:

    Ich hoffe, es hat geklappt mit dem Weizenmischbrot. Ich habe das Brot schon öfter gebacken und da ich es meist nicht schaffe, genug vorab aufzufrischen, nehme ich etwas mehr Sauerteig (4-5 g) und füge in den Hauptteig 0,8g Hefe dazu. Das Falten dauert meistens mindestens 1 Stunde länger als im Rezept angegeben. Danke für die vielen interessanten Beiträge!

  3. adelhaid meint:

    ich bin sehr gespannt, wie dir die crawdads gefallen….

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