Journal Freitag, 18. August 2023 – Gedanken zu mehreren Büchern

Samstag, 19. August 2023 um 7:23

Mir waren am Vorabend früh die Augen zugefallen, aufgewacht nach einer mittelruhigen Nacht eine halbe Stunde vor Weckerklingeln.

Ich marschierte früh in die Arbeit, Himmel eher bewölkt. Doch über den Vormittag setzte sich der Sonnenschein durch.

Nach Langem mal wieder einen Flüssig-Lippenstift aufgetragen, der nicht “superstay” war: Verdutzung beim deutlichen Abdruck auf dem Rand der Teetasse.

Mittagscappuccino an neuem Ort: Ich hatte das Café Colombo angesteuert, doch schon von Weitem an der fehlenden Außenbestuhlung gesehen, dass es geschlossen war. Doch es gibt ja in drei Ecken dieses großen Wohngebäudes mit Innenhof Cafés, ich kehrte in das ein, das ich noch nicht kannte: Die Leckerei.

Überdurchschittlich guter Cappuccino.

Mittagessen später am Schreibtisch: Tomate und Pfirsich, Pumpernickel mit Butter, Banane. Draußen entstand ein heißer Sommertag, doch durch die kühlen Nächte blieb weiterhin der Aufenthalt im Schatten gut erträglich.

Pünktlicher Feierabend, über Einkäufe inklusive Supermarktblumen nach Hause. Dort wieder meine Runde Yoga-Gymnastik – ich merkte (auf Yoga: “nahm wahr”), dass unter der selbst auferlegten Täglichkeit die Freude daran leidet: Manchmal bin ich einfach nur froh, dass es rum ist. Nach diesen 30 Tagen kehre ich sicher wieder zurück zum vorherigen Modus: Immer wenn ich mag, also vier bis fünf Mal die Woche.

Aber jetzt war erstmal Wochenende. Herr Kaltmamsell hatte zum Aufbrauchen des Erdbeer-Gins nochmal Erdbeeren besorgt.

Aufenthalt auf dem Küchenbalkon nur fürs Foto, erst zwei Stunden später hatte es draußen genug für offene Fenster abgekühlt. Große Eiskugeln aus den Formen, die mir mein Bruder mal geschenkt hat – und die ich genau für diese Gläser sehr schätze.

Zum Nachtmahl hatte Herr Kaltmamsell ein Rezept aufgegriffen, das ich ihm wie so manche andere aus Interesse zugeworfen hatte: Frische Makrele in Saor, also auf venezianische Art. (Wir hatten uns gegen das übliche Freitagsfleisch entschieden, weil es am Samstag bei meinen Eltern große Mengen gegrilltes Fleisch geben würde.)

Das Süßsaure, die Rosinen und die Pinienkerne passten wunderbar zur Makrele. Dazu gelbe Tomaten aus Ernteanteil mit Olivenöl und Wurzelbrot vom Zöttl. Im Glas der Rest Elbling Karl Sonntag von der Mosel, den Herr Kaltmamsell fürs Rezept verwendet hatte und an dessen Geschmack ich mich von meiner Mosel-Wanderung erinnerte. (Passte aber gar nicht zum Gericht.)

Als Nachtisch gab’s die restlichen Erdbeeren, Schokoladeneis, Eierlikör. Und noch Schokolade.

Früh ins Bett, um Josephine Tey, The Daughter Of Time weiterzulesen. Ich bin begeistert und kann als Freundin guter Erzählstruktur nachvollziehen, dass laut Wikipedia die englische Autorenvereinigung Crime Writers’ Association das Buch zum besten Kriminalroman aller Zeiten gewählt hat.

Glück oder geschicktes Filtern? In den vergangenen Jahren meines Online-Lebens habe ich praktisch nie Aufrege-Wellen auf instagram/Twitter/Mastodon mitgekommen – immer nur Posts und einander bestätigende Diskussionen, die sich über diese Aufrege-Wellen aufregten. (Die nerven schon genug.)

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Der Lokalteil der gestrigen Süddeutschen enthielt eine schöne Reportage über den Nudelschleuderer in “Max’s Beef Noodles” bei uns ums Eck.
“Kneten, falten, ziehen”.

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Zwar schon vor über einer Woche ausgelesen, hier nachgeholt die Besprechung von Julie Orringer, The Flight Portfolio (der dominante Titel Transatlantic auf dem Cover meiner Ausgabe bezieht sich auf die Netflix-Verfilmung).

Der Roman spielt 1940 in Marseille, im Mittelpunkt die historisch belegte Figur Varian Fry: Der US-Amerikaner war damals mit 3.000 Dollar und einer Liste von Künstlern und Schriftstellern dorthin geschickt worden, darunter Max Ernst, Marcel Duchamp, Marc Chagall, um ihnen zur Flucht vor den Nazis zu verhelfen. Schauplatz und historischer Hintergrund zogen mich an, ich kenne viele Flucht-Geschichten dieser Zeit aus der Literatur.

Und ich las den recht dicken Roman durchaus gerne, wollte immer wissen, wie es weiterging. Aber. “Überorchestriert” ist ein Begriff, den ich von einer Jury beim Bachmannpreislesen gelernt habe und hier anwende: In diesem Fall mal zu viele Streicher, nämlich für die zentrale Liebesgeschichte – ich glaube nicht so ganz, dass ein Anfang-30er bei der Wiederaufnahme seiner Beziehung zur College-Liebe über Monate dermaßen emotional außer Kontrolle gerät. Und mal zu viel Blech, nämlich bei der Dramatisierung der Flüchtlingsgeschichten: Sie sind meiner Ansicht nach selbst bei lakonischem Erzählen dramatisch genug (wie unter anderem Friedrich Torberg bewiesen hat). Immer wieder war ich erinnert ans Gucken der 20-Uhr-Tagesschau, wenn Constantin Schreiber die Nachrichten spricht und jede Meldung durch Theater!Betonung! dramatisiert. Überorchestriert meiner Meinung nach auch der Gesamtklang: Die beiden Themen Rassismus und Ausgrenzung Homosexueller in den USA sprengen die ohnehin große Fülle des Romans.

Gleichzeitig störten mich immer wieder unnötige Füllsätze, die den Verdacht erweckten, Orringer sei nach Zeile bezahlt worden. Zum Beispiel wiederholt so oder ähnlich:

Here was the moment they had known would come, the one that had nonetheless seemed infinitely postponable.

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Am Donnerstag ausgelesen: Die aktuelle Ausgabe Granta 164, Last Notes. Einige Texte darin berichten aus dem Kriegsgeschehen in der Ukraine – ich ließ mich auf die Lektüre ein, auch auf die von der Front und aus Krankenstationen mit Kriegsopfern (die ich in Zeitungen meide, weil sie mich überlasten – anders als rein faktenorientierte Berichte). Und ließ ich zu, dass mich nochmal der Schock packte, dass diese Szenarien eines traditionellen Kriegsgeschehens, die ich (bei uns!) als historisch und überwunden annahm, eine zeitgenössiche Neuauflage erfahren, inklusive zeitgenössischen Details, dass man Kriegsversehrte in medizinischer Behandlung vor Fotoapparaten und Filmkameras schützen muss.

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Freitag, 18. August 2023 – Gedanken zu mehreren Büchern“

  1. Ilka meint:

    Darf ich fragen, wir ihre Büroumwelt das “Verschwinden auf einen Cappuccino” aufnimmt? Ich bin “früher” als ich noch ins Büro fuhr, gern mittags in hohem Tempo eine große Runde um den Block gelaufen statt mit den Kolleg*innen ins Bistro zu gehen. Das war nicht gern gesehen wegen “Team und so”.
    Schönes Wochenende
    Ilka

  2. Rebekka meint:

    Ich bin zwar nicht die Kaltmamsell, gehe aber gern mittags 40min allein im Grünen spazieren… Und gelte mindestens damit als ein bisschen seltsam, glaube ich. Aber: “Die Pause gehört den Pausierenden!” Ich würde versuchen, das durchzuziehen, wenn es Ihnen gut tut.

  3. Herr Kaltmamsell meint:

    Füllsätze: Sind die Leute, um die es geht, am Ende überanalytische Jargonsprechende? Dann wäre der Satz ja noch in Ordnung. Wenn es Menschen sind, die nicht so denken, dann wäre etwas schlichter besser:

    “They thought they had more time.”
    “They had almost thought they had more time.”
    “They had almost believed they had more time.”
    “They had almost convinced themselves they had more time.”

    Basiert natürlich auf dem genialen Lied “Some other time” von Comden/Green und Leonard Bernstein, das ja noch behutsamer ist.

  4. Sonni meint:

    Ich bin versucht, mir Ihre Cappuccino-Tipps für meinen nächsten München-Aufenthalt zu bookmarken. ;-)
    Daher sind natürlich Ihre Kriterien für (besonders bzw. überdurchschnittlich) guten Cappuccino von hohem Interesse.
    Würden Sie diese noch verraten?

    (Ja, die Kriterien interessieren mich auch einfach so, ich weiß ja auch gar nicht, ob es zu einem Best-of-Kaltmamsell-Cappuccinotasting je kommen wird, wäre schon sehr weird)

  5. die Kaltmamsell meint:

    Ich gehe davon aus, Ilka, dass die Kolleg*innen mein Verschwinden gar nicht bemerken: Sonst verbringe ich seit Jahren meine Mittagspausen mit Zeitungslektüre allein an meinem Schreibtisch. (Und ich stemple selbstverständlich aus, falls Sie das meinen.)

    Mein Hauptkriterium, Sonni, ist der Cappuccino-Geschmack: Ich mag ihn am liebsten so italienisch wie möglich, also intensiv und mit wenig Säure. (Zweites Kriterium ist Geschwindigkeit, ich will wirklich einfach nur schnell einen Cappuccino trinken, deshalb bevorzuge ich Selbstabholung und Sofortbezahlung an einer Theke.)

  6. Croco meint:

    Ich merkte (auf Yoga: “nahm wahr”)….. Ja, sprachlich ist es, achtsam und in sich rein gespürt, eine andere Welt.

    Constantin Schreiber strengt mich in seiner Sprechweise an.
    Laut Wikipedia hat er eine sehr interessante Vita, und ist, sagen wir es mal so, nicht unumstritten.

  7. Ilka meint:

    @Rebekka und @Kaltmamsell, danke für die Erklärungen. Bei mir ging es echt um dieses “wir gehen alle zusammen”. Also auch dieses “ein bisschen seltsam”. Das Problem stellt sich seit Abteilungswechsel allerdings nicht mehr.

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