Journal Samstag, 9. August 2025 – Jenny Erpenbeck, Heimsuchung

Sonntag, 10. August 2025 um 7:41

BEVOR MIR NOCH MEHR ALS DIE BISHERIGEN FÜNF ERST-KOMMENTATOR*INNEN DEN TIPP GEBEN, DASS MAN KI-ERGEBNISSE BEI GOOGLE MIT “-AI” AUSSCHALTEN KANN: DAS HATTE ICH BEREITS VOR WOCHEN HIER IM BLOG EMPFOHLEN. VERSUCHEN SIE BITTE HINZUNEHMEN, DASS ICH EINFACH DAS PHÄNOMEN KI-BLINDNESS BESCHRIEB. SIE SCHAFFEN DAS.
(*macht Fettung rückgängig*)

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Jenny Erpenbeck, Heimsuchung von 2008.

Ein Stück Land im Osten Deutschlands und sein Schicksal im 20. Jahrhundert, inklusive Vorgeschichte, inklusive beteiligten Menschen, inklusive seiner Bearbeitung und Bebauung, vor allem mit einem markanten Haus – so die geniale Grundidee für diesen Roman. Und dann der geniale Titel, der die großen Themen vorgibt: Heimsuchung sowohl aus Gesuchten-, als auch aus Heimsuchenden-Perspektive, dazu das grundmenschliche Suchen eines Heims.

Erzählt wird chronologisch in Kapiteln um je eine Protagonistin, einen Protagonisten. Die historischen Ereignisse im Osten Deutschlands des 20. Jahrhunderts stehen mal angedeutet im Hintergrund, mal weit vorne. Wir erfahren die Geschichte der einstigen Besitzerin dieses Grundstücks am See, dann die des Architekten, der es mit einem sehr besonderen Haus bebaut, ganz nach den kreativen Wünschen seiner deutlich jüngeren Frau. Diese Frau steht im Mittelpunkt eines Kapitels, das die Einladungen und Feste dieses Paars in den 1930ern schildert, ich war sofort drin. Auch das Haus samt seinem sich wandelnden Garten und Ufer wird im Fortlauf der Erzählung immer deutlicher und lebendiger.

Immer wieder war ich sehr angerührt, am meisten von dem Kapitel “Die Besucherin”, das die Gedanken einer alten Frau wiedergibt, Flüchtling, die sich unter anderem ums Fremdsein drehen.

Nur eine Figur kehrt als Kapitelzentrum immer wieder: Der Gärtner, der dadurch immer mehr eine mythologische Figur wird. Als ich mich schon fragte, ob er wohl nie alterte, brach er sich ein Bein und wurde fast schlagartig ein alter Mann.

Die Sprache ist vordergründig einfach. Viele Kapitel enthalten Wortschleifen, sich wiederholende Formulierungen – doch die haben in jedem Kapitel eine andere Funktion: mal imitieren sie Rituale und Gewohnheiten, mal spiegeln sie realistsch Gedankenschleifen, mal lesen sie sich formelhaft und Litanei-artig wie alte Epen.

Immer wieder wechseln die Kapitel fein ihre Erzählmittel, immer aber in Begleitung einer starken impliziten Erzählstimme bei personaler Perspektive. Nur den Gärtner lernen wir nie von innen kennen, konsequenterweise verschwindet er auch irgendwann einfach.

Ich fände interessant, den Interpretationsansatz durchzuspielen, ob wir Deutschen nicht vielleicht gesamt seit der zivilisatorischen Komplettkatastrophe des Dritten Reichs auf der Suche nach einem Heim sind – geografisch (Reisenation Nr. 1), in unserer Zusammensetzung mit vielen Migrant*innen aus unterschiedlichsten Beweggründen, in unserer Selbstdefinition. (Gut möglich, dass das Ergbenis ist: Nee, funktioniert nicht.)

Heimsuchung ist seit 2024 Pflichtlektüre in der gymnasialen Oberstufe (in allen Bundesländern, die am länderübergreifenden Abitur teilnehmen). Ich halte den Roman für ausgesprochen geeignet dafür – doch da in Deutschland unverhandelbar gesetzt ist, dass man jedes literarische Werk hasst, das man in der Schule lesen musste, bedaure ich das auch.

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Neun Stunden guter Nachtschlaf, ein wertvolles Geschenk. Draußen der angekündigte Sommermorgen, noch recht frisch. Die nassen Wochen davor waren so kalt, dass ich mich jetzt energisch ermahnen musste, die aufziehende Hitze mit Rollladen und geschlossenen Fenstern auszusperren, noch löste sie in erster Line wohliges Schnurren aus.

Balkonkaffee! Mit wiedererwachender Hakenlilie und Miniermotten-zerfressenen Kastanien.

Als ich nach Bloggen mit Milchkaffee, Wasserfiltertausch, Kanne Schwarztee, Aufhängen frisch gewaschene Bettwäsche, Morgentoilette spezial fertig war für meine Schwimmrunde im Dantebad, entschied ich mich für Öffis statt Rad: Mittlerweile fürchte ich mich richtig vor den losplärrenden Martinshörnern im Stadtverkehr (zur Sicherheit: Das Problem bin ich, irgendeine Verdrahtung ist in meinem Gehör verrutscht, so heftig reagiert sonst fast niemand darauf; ich kenne nur eine Person, die Ähnliches beschreibt – und das interessanterweise auf Wechseljahre zurückführt), die mich bis ins Mark erschrecken, vom Rad fegen, ruckartig Ohren zuhalten und aufschreien lassen.

Ausgang U-Bahnhof Westfriedhof.

Sehr angenehmes Schwimmen, alle vertrugen sich auf der Bahn, ich fühlte mich stark und zog 3.300 Meter schmerzfrei durch.

Nach Abbrausen, Bikiniwechsel, neu Sonnencremen legte ich mich auf die jetzt wieder saftig grüne Liegewiese. Allerdings ohne Musik auf den Ohren: Meine Kopfhörer zeigten wieder den Trick Spontanentladung-nach-Aufladen-über Nacht. Machte nichts. Zum einen wollte ich eh nicht zu lange in der Sonne bleiben, zum anderen lauschte ich dösend in leisem Wind den Gesprächen um mich herum. Und erfuhr: dass weiter in Torremolinos Urlaub gemacht wird / dass unter manchen jungen Frauen die Tiefe der Bräune noch als Qualitätskriterium eines Urlaubs gilt wie in den 1980ern / dass hispano-hablante Müncher*innen vom Dantebad “en pleno invierno”, also mitten im Winter schwärmen.

Heimfahrt über Semmelkauf, das Thermometer der Marien-Apotheke am Sendlinger Torplatz zeigte im Schatten deutlich über 30 Grad an.

Kurz vor drei gab es als Frühstück eine Dinkelseele mit Butter und Tomate, eine Körnersemmel mit Butter und Hagebuttenmark, Schrumpelpfirsiche (Trocknen statt Nachreifen, es bleibt Glücksspiel).

Herr Kaltmamsell kam seiner erbetenen Pflicht nach, mich an zwei Dinge zu erinnern: Tischreservierung in der Wiener Meierei Ende August (check), ETA für Wanderurlaub in England. Mein erster ETA-Versuch (Electronic Travel Authorisation, nicht etwa Euskadi Ta Askatasuna) war am Scan meines Ausweises gescheitert, diesmal nahm ich wie angewiesen (LESEN!) meinen Reisepass. Fisselig war hier das Einlesen des Chips im Reisepass, nach sechs Versuchen schaffte ich gemeinsam mit Herrn Kaltmamsell auch das. Antrag durchgestanden (Bayern-ID härtet ab), die ETA bekam ich innerhalb von Sekunden per Mail. Und brauche jetzt nichts weiter als meinen Reisepass, alles andere ist laut dieser Mail hinterlegt. In der auch stand “To help us improve the ETA application process, tell us what you thought at: $URL”
“Bloody idiots! You Brexit morons!”, wäre ehrlich, aber unhöflich gewesen und hätte vermutlich nicht als konstruktives Feedback gegolten.

Nachmittag in der angenehm kühlen Wohnung (ab jetzt ist das Hitze-Aussperren wieder organisch – allerdings klemmt seit gestern der Rolladen von Herrn Kaltmamsells Zimmer nach Westen; ich befürchte ein schlimmes Hitze-Einfallstor) mit Zeitunglesen. Besonder gut gefielen mir das Buch zwei über eine Reisegruppe, die in Berlin ihre Bundestagsabgeordnete besucht (“‘Huhu, wie is et?'” – €) und auf der Medienseite das Interview mit ARD-Vorsitzendem Florian Hager über ein Thema, das auch mich seit einigen Jahren umtreibt: Wie die Öffentlich-rechtlichen Medien ihrem Auftrag in einer sich existenziell verändernden Medienwelt nachkommen können (auf der re:publica schon lange eine Dauerbrenner) – “‘Was wir sehen, ist das Ende der Massenmedien'” (€).

Als Zwischenspiel vor dem nächsten 30-Tage-Programm Yoga begann ich wieder eine Pilates-Woche – die gestrige Folge leider beeinträchtigt durch Kreislauf-Turbulenzen inklusive Schweißausbruch.

Besoners köstliches Nachtmahl: Herr Kaltmamsell seriverte die Ernteanteil-Zucchini auf Ricotta mit Haselnüssen. Dazu tranken wir Gin Tonics. Nachtisch Schokolade.

Im Bett die nächste Lektüre: T. Kingfisher, Nettle and Bone – was komplett Anderes, eine nicht-realistische Geschichte in einer magischen Welt.

die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Journal Samstag, 9. August 2025 – Jenny Erpenbeck, Heimsuchung

  1. Chris Kurbjuhn meint:

    Ich möchte voller Stolz meine Außenseiter-Position kundtun: Ich erinnere und schätze beinahe jedes Werk, dass ich für den Deutsch-Unterricht gelesen habe, die Manns, Georg Trakl, Brecht, Walter Jens, Frisch, Dürrenmatt, Benn, sogar Goethe und Schiller … fand ich fast alles spannend, anregend und prägend. Zugegeben, auf ein paar stinklangweilige Novellen und Geschichten aus der “Silberfracht” hätte ich verzichten können, ebenso wie auf die Rosegger-Geschichten, die mein erster Deutschlehrer uns in der letzten Stunde vor den Ferien vorzulesen pflegte, aber das meiste hab ich gern und begierig gelesen. Ist allerdings eine Weile her …

  2. die Kaltmamsell meint:

    Es erleichtert mich sehr, Chris Kurbjuhn, dass ich nicht die einzige bin, die von Schullektüre inspiriert wurde, bis heute (bei mir war der Ausreißer Die Verschwörung des Fiesco zu Genua – schnaaaaaarch!).

  3. Chris Kurbjuhn meint:

    “Die Verschwörung des Fiesco”? Hamwa nich jehabt!

  4. Stefanie meint:

    Ich möchte eine Erfahrung bzgl. ETA weitergeben: Wie hatten uns für unseren Schottlandurlaub auch darauf verlassen, keinen gesonderten Nachweis mitführen zu müssen, aber die Airline (Eurowings) verlangte ihn beim Boarding und hätte uns angeblich nicht mitgenommen (E-Mail-Archivierung auf dem Handy reichte nicht so weit zurück), wenn wir nicht hektisch vor Ort ein weiteres Mal den Antrag gestellt und den neuen Nachweis per Mail umgehend erhalten hätten. Dass das völlig überflüssig war, zeigt schon die Anreise unserer Tochter drei Tage später, die bei derselben Airline keinen Beleg vorzeigen musste… Angesichts dieser Volatilität sollte man die Bestätigungsmail also sicherheitshalber doch bei sich haben.
    Wir sind – aus Gründen – geflogen. Bei der Anreise per Fähre oder Bahn mag es natürlich sowieso ganz anders sein.
    Ich wünsche einen sehr schönen Englandurlaub!

  5. Feather McGraw meint:

    Ach ich muss auch sagen richtig gehasst habe ich in der Schule an Lektüre gar nichts, einige mochte ich sogar recht gerne – ich erinnere mich daran, 1984 von Orwell direkt am ersten Wochenende komplett durchgelesen zu haben nur um dann rauszufinden, dass wir das Buch ein Kapitel pro Woche durchnehmen würden.

    Wir lesen ja leider so unterschiedlich (Ich bin zB inzwischen schon beim vierten Band der Buchreihe die mit “A long way to a small angry planet” begann), sonst würde ich für Englandreisen ja die “Rivers of London” Buchreihe empfehlen, welche in einer übernatürlichen Unter- bzw Nebenwelt Londons (bzw inzwischen auch etwas weiter über Großbritannien verteilt, letzter Band spielte zB in Aberdeen) weil da so viel vom echten, zeitgenössischen Großbritannien vorkommt, dass ich mich dem Land immer gleich ein bisschen weniger entfernt fühle.

  6. Susann meint:

    Ging mir auch so, besonders “Tod in Venedig” sorgte dafür, dass ich auch privat in diese Richtung weiterlas. Effie Briest ditto. Nur den Schimmelreiter mochte ich gar nicht.

  7. Croco meint:

    Faust II fand ich recht mühsam und unnötig zu lesen. All die anderen Lektüren in der Schule, die Moderne war mit Brecht abgehakt, fand ich interessant. Baden-Württemberg hatte seinen Schwerpunkt damals im Klassikbereich. Da war man als Schüler Kummer gewohnt. Ein Jahr Mittel- und Althochdeutsch, die Nibelungensaga im Original, ließ einen schon Freude haben an halbwegs zeitgenössischem Deutsch.
    Ach ja, die Buddenbrooks fand ich schrecklich langweilig und habe es nie zu Ende gelesen.

  8. Karin meint:

    Effi Briest fand ich schrecklich. Hätte das Buch nach dem vorletzten Kapitel aufgehört, wäre ich wahrscheinlich noch versöhnt gewesen. Aber das letzte Kapitel war grauenvoll. Und davor war es immer wieder sehr, sehr langweilig. Nun gut, das war sicher auch gewollt, weil Effi die Affäre ja aus purer Langeweile beginnt. Das konnte Fontane wirklich überzeugend nahelegen. Aber ich hasse es nun mal, mich beim Lesen zu langweilen.

  9. Frau Irgendwas ist immer meint:

    Schullektüre – ja, Faust II war mühsam und die Boddenbrooks habe ich für den Freund gelesen und seinen Aufsatz dazu geschrieben … und an `Die Aula` von H. Kant erinnere ich mich bis heute gerne, was sicher mit dem verbundenen `Leseauftrag` zusammenhängt. Notieren Sie alle Literatur die Ihnen beim Lesen begegnet! Und schon war ich (Mitte der 80ziger Jahre) bei `Vom Winde verweht`… und mein Opa durfte, aus erster Hand, einen Haufen Fragen zur Arbeiter-und-Bauern-Fakultät beantworten.

  10. Hauptschulblues meint:

    “doch da in Deutschland unverhandelbar gesetzt ist, dass man jedes literarische Werk hasst, das man in der Schule lesen musste”
    Für mich nicht. Ich liebe viele Werke, die in D (Handke), E (C.P. Snow) und F (L´Ecume des Jours z. B.) gelesen werden mussten, heute noch.

  11. Frau Werwolf meint:

    Ich habe auch die meisten Schullektüren geliebt. Vor allem Antigone und Iphigenie auf Tauris. Stiller dagegen hab ich tatsächlich gehasst.

  12. Susann meint:

    Ich habe sehr mit Effi mitgelitten. Diese dumme Mutter, die ihr den abgelegten Verehrer aus reinem Ehrgeiz nahelegt, dieses einsame, überforderte halbe Kind, das sich vor dem Chinesen fürchtet, dieser Blödmann von Innstetten der, als die Romanze eh schon Geschichte ist, nicht das Hirn hat, die Sache ad acta zu legen. Was für eine Deppenparade, es bricht einem das Herz.

Beifall spenden: (Unterlassen Sie bitte Gesundheitstipps. Ich werde sonst sehr böse.)

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