Geschichte tragen

Donnerstag, 27. Januar 2005 um 12:02

Die Gedanken von Herrn Shhhh.

Die Gedanken von Anke Gröner.

Ich finde die Quelle nicht mehr – war es Eli Wiesel, der darauf hinwies, dass jemand, der am deutschen Wohlstand teilhat, auch die Folgen der deutschen Vergangenheit mittragen muss?

Es gehört zur Integration von Einwanderern (und Einwandererkindern wie mir), sie in dieses Tragen einzubeziehen. Es wäre rassistisch, die Verantwortung für das Gedenken an die Verbrechen der NS-Zeit von Blutlinien abhängig zu machen. Gibt es eigentlich in den deutschen KZ-Gedenkstätten Führer und Führerinnen, die erkennbar nicht-deutscher Abstammung sind?

Mich machte der Umstand, dass die Shoa geschehen konnte, sehr früh fassungslos. Nie hatte ich das Bedürfnis, jemandem Schuld zuzuweisen. Oder sie auf mich zu nehmen. Mein Interesse war immer getrieben von Anteilnahme am unermesslichen Leid und von der verzweifelten Frage, wie es dazu kommen konnte. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen der Zeit, Psychologie, Masse, Schlüsselfiguren…

Eine Antwort habe ich bis heute nicht gefunden, doch die Suche hat mein Menschen- und Weltbild tief geprägt. So hoch ich Bildung und Wissen schon immer hielt – bereits als Jugendliche wagte ich es nicht, eine Verbindung zu Charakterbildung zu ziehen, weil mir so sehr bewusst war, dass die Erfinder und Betreiber der Tötungsmaschinerie und ihrer Ideologie nur allzu oft hoch gebildet waren. Dazu kam die Beschäftigung mit Folter und Folterern, vor allem in Lateinamerika. Und doch wehre ich mich dagegen zu glauben, dass in jedem Menschen ein Sadist, ein Folterer, ein Mörder steckt. Ich glaube aber genauso wenig, dass Erkenntnis bereits zu Verhaltensänderung führt, dass rationale Argumente wirken.
Wie gesagt, ich bin von einer Antwort weit entfernt.

Die Anteilnahme ist geblieben, für jedes einzelne schreckliche Erlebnis, das die Judenverfolgung verursachte. Es sind Geschichte wie diese heute in der SZ, die mir immer das Herz zusammenziehen. Ich hoffe, dass das Mifühlen und die Fassungslosigkeit nie aufhören.

Und immer wieder spüre ich das deutsche Tabu Judentum. Zum Beispiel dieses Telefonat mit einem IT-Fachjournalisten namens Grünbaum. Im Lauf unserer Plauderei sprach er mich auf meinen Namen an: „Klingt spanisch.“ Ja, erklärte ich ihm, mein Vater kommt aus Madrid. „Und Ihrer klingt jüdisch,“ sagte ich. Nicht.
Ich konnte nicht. Ging einfach nicht. Obwohl ich weiß, dass genau dieses bleierne Tabu heute den Juden in Deutschland das Leben schwer macht.

die Kaltmamsell

8 Kommentare zu „Geschichte tragen“

  1. kid37 meint:

    Man sollte meinen (= Ich meine), Sie hätte da irgendeinen Vorteil und könnten unbelasteteter an diese Themen herangehen. Mir fällt immer öfter auf (nämlich, wenn ich mal einen Juden im Alltag kennenlerne, selten genug), daß wir im Schulunterricht zwar x-Mal das Dritte Reich durchgekaut haben, aber bis auf ein paar langvergessene Exkurse über Glauben und Rituale im Religionsunterricht nichts über das jüdische Leben erfahren haben (sofern es denn überhaupt “anders” ist…). Verkopftes Wissen; meist nicht mal das.

    Möglicherweise weiß ich über die Innuit mehr.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Da hatte ich das Glück, kid, dass mir mit 12 Jahren Die Tante Jolesch von Friedrich Torberg in die Hände gefallen ist. Die Faszination für das europäische Judentum Anfang des 20. Jahrhunderts (und kurz darauf der Yentl-Schmalz, ich gestehe) machte mich sehr wissbegierig.
    Die Zeitung Aufbau enthielt immer wieder Geschichten darüber, wie wenig hilfreich es für die wenigen in Deutschland lebenden Juden ist, dass Nichtjuden in ihnen hauptsächlich ein Memento der Millionen ermordeten Juden sehen. Ein amerikanischer Jude, der einige Jahre in Berlin lebte, beschrieb das schuldbewusste Erschrecken im Gesicht seiner deutschen Gegenüber, jedesmal wenn er jemandem sagte, dass er Jude ist. Das muss anstrengend sein.

  3. der Haltungsturner meint:

    Ja und es ist sogar noch absurder: Da bin ich Theologe und habe mich intensiv mit jüdischer Theologie und Philosophie beschäftigt – und doch kommt mein “Wissen” über jüdischen Alltag (auch religiösen Alltag) aus den amerikanischen Krimis von Kemelman und Kellerman.
    Andererseits: Auch wenn die meisten von uns wohl mehr Moslems kennen als Juden – weiß ich deshalb etwas über ihren Alltag?

  4. uceda meint:

    OK. Anderes Thema: Mein heutiger Abendtermin ist geplatzt. Gibt es jemand, der mit mir Essen gehen will und NICHT über das Thema Judentum reden will?

  5. lalala meint:

    Natürlich kann man “das” nicht sagen. Da spricht die eigene Erfahrung und die Prägung durch die Massenmedien gegen.

    Wer als 13ähriger mal von Idioten durch den Londoner Hydepark gejagt wurde, weil denen auffiel, daß man Deutscher war, dem prägt sich ein, daß man als “das Böse” den Mund zu halten hat. So geht das auch mit jedem historischen Bericht über das Dritte Reich: Neben dem Grauen bleibt auch hängen, daß man als Deutscher per Definition schuldig ist.

    Tatsache ist, daß man als Deutscher in der Welt wirklich nicht sonderlich gelitten ist. Was man als Deutscher in gewissen Situationen anmerkt wird zehnfach kritischer bewertet. Also lernt man besser den Mund halten.

    Noch zwei Anmerkungen:

    Bezüglich des schuldbewußten Erschreckens: Eigentlich ist es eher unüblich mit der eigenen Religion im täglichen Umgang ins Haus zu fallen. Daher vermute ich mal, daß diese Ereignisse eher selten auftreten.

    Bezüglich des Wissens um jüdisches Leben: Ist Schuldbewußtsein die richtige Motivation sich entsprechendes Wissen anzueignen? Ist das nicht nur ein weiteres Zeichen, daß von Normalität keine Rede sein kann? Wäre stattdessen schlichte Neugier oder Bildungshunger als Motivation nicht eher normal?

  6. uceda meint:

    Wenn ich sage, dass “jüdisches leben” zu 99% auch nicht anders ist als alles andere Leben und das 1% auch nicht wirklich der grosse Bringer ist, glaubt mir das dann jemand?

  7. die Kaltmamsell meint:

    lalala, keiner der Obigen interessiert sich aus Schuldbewusstsein.
    uceda, nix da: Wir Nichtjuden sind die Mehreren und bestimmen, wie unsere deutschen Juden zu sein haben.

  8. uceda meint:

    Fast hätte ich geschrieben: “Du bist so deutsch, wie ich arisch bin”… ;-)

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