Boy, boy, crazy boy…

Mittwoch, 19. Oktober 2005 um 14:08

Das habe ich nun davon, dass ich Samstagnacht auf Arte in die Dokumentation stolperte, wie Leonard Bernstein seine West Side Story einspielte: Ich hab sie seither als Musik im Kopf. Zum Beispiel „I feel pretty“ in genau dem langsamen Schunkeltempo, das Bernstein betonte (damit beginnt der zweite Akt, und die Regisseure, so erklärte er, hätten immer Angst, die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu verlieren, wenn sie es nicht superschmissig und viel zu schnell angingen).

Die Aufnahme ist von 1984, oh mein Gott bin ich alt. Das war doch erst eben, dass ich mir mit Freundinnen das Maul darüber verriss, wie man nur die West Side Story mit Opernsängern aufnehmen kann. Wir waren natürlich alle vom Film-Soundtrack geprägt. Den hatten meine Eltern in ihrem schmalen Plattenschrank, und ich liebte die Musik.
Ich weiß noch, dass meine Mutter mir die Handlung der West Side Story erzählte. Damals gab’s ja noch keine Möglichkeit, Fernsehen aufzuzeichnen, und so hat sie mir so manchen berühmten Film selbst erzählt, manchmal auch das Fernsehprogramm des vorhergehenden Spätabends (ich musste um acht ins Bett). Versteckte Kamera (zunächst aus Amerika importiert) oder Klimbim hatte ich nie selbst gesehen, kannte aber den Inhalt.

„I want to be in America“ – oh doch, der Dokumentation sind die 80er sehr anzusehen: Die Schulterpolster, in Stiefel gesteckte Overallbeine, die Frisuren! Sehr schön, wie Kiri Te Kanawa sich einfach nicht einkriegt, dass sie echt ehrlich mit Bernstein höchstpersönlich die West Side Story aufnimmt. Die völlig wahnwitzigen Rhythmen („Cool“), gegenläufige Instrumentallinien („A Boy like that“) – beim Zusehen bekam ich richtig Lust, mal die Partitur mitzulesen.

„Something’s coming“ – Josef Caracas* macht eine sehr schlechte Figur. Alle anderen Musiker sprechen begeistern über die Feinheiten der Musik und welche persönliche Verbindung sie dazu haben. Carreras jammert nur über die Schwierigkeiten und seine Angst, die Aufnahme zu versauen. Wie ein Chorbub muss er sich von Bernstein anpflaumen lassen, bitteschön nicht ständig in die Noten sondern zu ihm vor zu schauen.

„A Boy Like That“ – Tatiana Troyanos’ Stimme und Singweise hätte auch in eine Bühnenproduktion gepasst, handfest und erdig.

Ich lass mir die Musik noch in paar Tage durchs Hirn spuken. Mal sehen, ob dann der Soundtrack immer noch die einzige Version ist, die sich für mich richtig anhört.

*Eine Freundin von mir arbeitete einige Jahre als Musikalienhändlerin und hatte regelmäßig von wundersamen Namens- und Titelverdrehungen zu berichten („Ich suche Mozarts ‚Atatürk’.“) Gegenstück: Placebo Domingo.

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Boy, boy, crazy boy…

  1. nevesita meint:

    Ich weiß, dass das Thema eigentlich “West Side Story” ist, aber es hat mich entzückt, dass Ihre Mutter Ihnen Filme und Fernsehsendungen nacherzählte. Da meine Mutter von der Schädlichkeit des Mediums Fernsehen auf meine kindliche Persönlichkeitsentwicklung überzeugt war, kannte ich ebenfalls viele Filme oder Sendungen nur aus Erzählungen. Meine beste Freundin hat mir geduldig stundenlang Szene für Szene Filme erzählt und wenn ich heute einen Sissy-Film schaue, habe ich bei manchen Sequenzen immer noch ihre Stimme im Ohr.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Sie haben’s genau getroffen: Dass ich viele Filme aus Nacherzählungen meiner Mutter kenne, ich mir erst beim Nachdenken über West Side Story klar geworden. Und da fiel mir auf, wie seltsam das eigentlich ist.

  3. glam meint:

    monstera caballé hört man auch immer wieder gern.

  4. Stephan meint:

    Filmnacherzählungen sind überhaupt nicht seltsam. Was war ich entäuscht, als ich den James-Bond-“Beißer” zum ersten Mal auf der Leinwand gesehen habe – Mutterns Version war einfach 1000mal gruseliger.

    Ohne Mutti ist man aber nicht dazu verdammt, jeden FIlm selbst zu gucken, schließlich gibt’s die CDs des Total-Recall-Festivals.

  5. croco meint:

    Bis in die Neuziger hatten wir keinen Fernseher. Meine Gründe waren hochmoralisch, ich wollte mir nicht die Zeit vertun mit geliehenem Leben, so sagte ich es damals. Später merkte ich, dass ich doch so viele Bilder im Kopf hatte von den Erzählungen der Kollegen , aus Radiosendungen selbst erfunden. Als ich die Leipziger Demonstratonen und den Mauerfall später in laufenden Bildern sah, war ich enttäuscht. Bei mir war alles viel spektakulärer abgelaufen.

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