Religion
Sonntag, 30. April 2006Herr a.more hat mich (mal wieder) mit einem Hinweis bereichert, nämlich den auf ein Interview mit Salman Rushdie in der Weltwoche. Aber dazu später, denn zunächst hat mich diese Lektüre daran erinnert, dass ich noch etwas über das jüngste Granta schreiben wollte. Es heißt „God’s Own Country“ und hat Religion zum Thema. Die Geschichten, Artikel, Fotostrecken befassen sich mit unterschiedlichen Auswirkungen von Religion und Religiosität, die meisten davon zutiefst erschreckend. Am deutlichsten hängen geblieben sind mir:
– Die Geschichte der schottischen Autorin Jackie Kay, die in Afrika zum ersten Mal ihrem leiblichen nigerianischen Vater begegnet. Er nutzt diese auch für ihn erste Begegnung dazu, sie stundenlang mit Gesängen und Gebeten zum wiedergeborenen Christentum zu missionieren.
– Die Übersetzerin von Orhan Pamuks Büchern ins Englische, Maureen Freely, beschreibt, wie aus einem Schriftsteller historischer Romane eine politische Kontroverse wurde. (Ah, richtig, ich wollte mir ja The White Castle bestellen.)
– Der holländische Lehrer Kees Beckmanns erzählt Episoden aus dem Alltag einer Integrationsschule für Einwandererkinder in Amsterdam. Darunter: Zwölfjährige hören von ihm zum ersten Mal, dass die Weltentstehung, wie sie der Koran beschreibt, metaphorisch gemeint sein könnte, und versuchen mit allen Mitteln, ihren Lehrer von diesem Irrtum abzubringen.
Dazwischen gestreut sind kurze und sehr persönliche Berichte religiöser Erfahrungen, meist sehr positiv. Sie bilden ein eigentümliches Gegengewicht zu all dem Schaden durch Religion, den die anderen Texte beschreiben. Spiritualität kann gut für den Einzelnen sein, wird als Religion aber tendenziell zerstörerisch?
Zwar verstehe ich, welche menschlichen Bedürfnisse zur Entstehung von Religionen geführt haben. Doch die Auswirkungen von Religion, die ich gerade in den letzten Jahren beobachte, lassen mich diese Facette des Menschseins fürchten: Ich halte Religionen definitiv für gefährlich, alle.
Was mich wieder zu dem Weltwoche-Interview mit Salman Rushdie führt.
Montalbán meint, die Ungläubigen werden von den Gläubigen beleidigt, nicht umgekehrt.
Dem stimme ich zu. Ich fühle mich ununterbrochen beleidigt. Aber mir fällt es nicht ein, deshalb eine Moschee anzuzünden. Das ist der Unterschied. Was mich an den Reaktionen auf die «Satanischen Verse» und auf die dänischen Karikaturen so stört, ist, dass sich jene, die Gewalt ausüben, als Opfer bezeichnen. Sie behaupten, man hätte sie verletzt. Aber in Wahrheit sind sie es, die verletzen.
Herr Rushdie ist ein sehr kluger Mann. Und ich bedaure, dass so viele Menschen über ihn sprechen, die nichts von ihm gelesen haben. Die deshalb unter anderem nicht wissen, dass seine Romane hinreißende Kommödien sind, der eine mehr, der andere weniger (leider werden sie in den letzten Jahren schlechter). Rushdie sagt selbst: „Ich bin von Natur ein satirischer Autor.“ Und so hat er auch selbst Haroun and the Sea of Stories (dicke Empfehlung!) als Hörbuch eingesprochen, schreiend komisch. Oder trat zur Zeit der Fatwa in Have I got news for you auf, schlagfertig und selbstironisch.
Der Humor, der vor allem aus Rushdies Artikeln und Fachaufsätzen spricht, erinnert mich immer ein bisschen an den von Umberto Eco. Im Alter schauen sich die beiden Herren auch immer ähnlicher, finde ich.
Mit Rushdies Haltung zum Leben und zu Religion kann ich mich völlig identifizieren.
Sind Sie dankbar dafür, auf der Welt zu sein?
Ich bin weder dankbar noch undankbar. Ich bin einfach da.(…)
(Sie schrieben) 1985 in einem Zeitungsartikel, dass Sie als Schüler während einer Lateinstunde von einem Moment auf den anderen Ihren Glauben verloren.
Ja, aber das war eher ein Witz.Was geschah in dieser Stunde?
Ich ging in Rugby in England zur Schule und sah eines Tages während der Lateinstunde aus dem Fenster auf die Kirche von Rugby. Das ist so ein neugotischer Bau, heute fände ich den ganz bemerkenswert, aber mit meinen 15-jährigen Augen fand ich ihn grauenvoll. Plötzlich dachte ich: Welcher Gott will in so einem Gebäude wohnen? Sei nicht blöd, da wohnt niemand! In diesem Moment erkannte ich……dass alle Religionen Unsinn sind.
Richtig! Es war ein Zufall. Wäre da die Kathedrale von Chartres gestanden, wäre es vielleicht anders gekommen.Leiden Sie manchmal darunter, an keinen Gott glauben zu können?
Nein, überhaupt nicht.(…)
Ihr so hartnäckig behaupteter Atheismus ist vielleicht auch eine Art Religion. Ich kann nicht glauben, dass Sie so leicht ohne die Vorstellung von etwas Höherem auskommen können.
Da kann ich Ihnen nicht helfen. Sie müssen es glauben. Fast alle meine Freunde sind Atheisten. Ich fühle mich nicht als Ausnahme. Es ist ein grosser Fehler zu meinen, man brauche, um ein moralisches Wesen zu sein, einen obersten Schiedsrichter, der einem sagt, was gut und was böse ist. Wenn Sie die Geschichte betrachten, werden Sie sehen, dass es die Idee, was gut und was falsch ist, immer schon vor den jeweiligen Religionen gab. Die Religionen wurden erst im Nachhinein von den Menschen erfunden, um diese Idee auszudrücken.