Vaters Tochter
Donnerstag, 21. September 2006An den gut bezahlten Ferienjob 1994 in der Fabrik bin ich ausschließlich deshalb gekommen, weil mein dort angestellter Vater Einfluss nahm. Meine Bewerbung kam nämlich zunächst mit einer Absage zurück. Daraufhin ging mein Vater, der damals bereits seit über 20 Jahren in der Fabrik arbeitete (!), persönlich (!) mit meiner Bewerbung in die Personalabteilung (!) und wies darauf hin, dass diese Bewerberin trotz ihres Namens nicht etwa eine beliebige dahergelaufene Ausländerin sei, sondern seine (!) Tochter (!). Da bekam ich den Job.
Und wem das nicht reicht: Dass ich heute in einem Unternehmen Geld verdiene, das aus der Firma hervorgegangen ist, die meinen Vater 1960 als Gastarbeiter nach Deutschland holte, DAS KANN JA WOHL KEIN ZUFALL SEIN!
Es ist natürlich viel Koketterie dabei, wenn ich bei jeder passenden Gelegenheit (Definition derselben höchst subjektiv) fallen lasse, dass ich Gastarbeiterkind bin / aus einer Arbeiterfamilie stamme. Zum einen macht mich das größer, da ich implizit betone, überdurchschnittlich weit aufgestiegen zu sein, es besonders schwierig gehabt zu haben, viel geleistet zu haben – was meinen Eltern gegenüber gemein ist, da sie mich immer sehr gefördert haben.
Zum anderen setze ich den Verweis auf meine bescheidene Herkunft als Beweis meiner Autarkie ein: Indirekt betone ich damit, dass ich ohne Hilfe von Blutsverwandten Erfolg habe.
Auch das ist wieder irreführend: Mein Vater ist Handwerker, nämlich Elektriker. Und ich bin sicher, dass jedes Handwerkerkind mir zustimmen wird, dass Handwerkertum untrennbar mit networking verbunden ist; mein Vater hatte immer überall Kontakte. Das Licht an meinem Fahrrad ließ sich nicht mehr reparieren? „Da gehst’ zum Franz im Fahrradladen in der Münchner Straße und sagst ihm einen schönen Gruß von mir, dann macht er’s dir billiger.” Beule im Auto? „Du, ich ruf den Herbert an, weißt schon, den ausm Autohaus Kramer. Der kommt dann am Sonntag zu dir und macht dir des für an Fuchz’ger.” Es braucht dann doch einen neuen Fernseher? „Gehst zum Erich seim G’schäft draußen in Haunhofen, da, wo ich immer mein Material kaufe, sagst ihm an schönen Gruß von mir, dann macht der dir einen guten Preis.”
Das Sesamöffnedich für alle Vergünstigungen: „Sagst ihm an schönen Gruß von mir.”
Und wissen Sie was: Ich hab das nie gemacht. Zum einen aus diesem kranken Stolz heraus, mit dem ich auf die Welt gekommen bin, zum anderen, weil ich selbst keine Gegenvergünstigung bieten kann. Du machst mir die Beule am Kotflügel weg, dafür – äääääääh – übersetze ich dir einen Songtext aus dem Englischen? Nein, geht nicht. Und die möglichen Leistungen meines Elektrikervaters wollte ich nicht als Währung einsetzen, waren ja nicht meine eigenen.
Es ist für mich selbstverständlich, dass ich so weit als möglich nur ernte, was ich selbst gesät habe, und dass ich Vergünstigungen aufgrund meines familiären Hintergrunds oder meiner beruflichen Position ablehne. Mikromeritokratie. Restaurantessen mit Geschäftspartnern oder Kunden, Einladungen zu Geschäftsveranstaltungen oder Lieferantenpartys sind da Lohn genug für meinen Job-Erfolg.
Ich weiß, dass ich bei Weitem nicht die Einzige mit dieser Einstellung bin. Der Haken: Menschen, für die es ebenso selbstverständlich ist, jeden Vorteil zu nutzen, den ihnen Familie und Beziehungen bieten („ich bin doch nicht blöd!“), können sich das einfach nicht vorstellen. Und deswegen glauben sie es nicht nur nicht, sondern unterstellen bis zum aktiven Gegenbeweis erst mal allen, die es zu etwas bringen, dass sie dorthin gehoben wurden. Anders kann ich mir viele niederträchtige Reaktionen auf echte Erfolge nicht erklären.