Archiv für Juni 2010

In der Reihe: Joggingstrecken aus aller Welt

Montag, 28. Juni 2010

Heute: Lendkanal Klagenfurt

Der Klagenfurter ist so freundlich, Gewässer zum Dranentlanglaufen zur Verfügung zu stellen: den vier Kilometer langen Lendkanal zum Wörthersee.

Ein Trampelpfad genau meiner Kragenweite:

Auch der Klagenfurter malt gerne auf seine Brücken:

Am Ende des Kanals liegt die Halbinsel Maria Loretto. Hier das Restaurant ganz an der Spitze der Halbinsel:

Von dem aus man unter anderem auf diese Idylle blickt:

Weil mir einmal Lendkanal hin und zurück nicht reichte, bog ich noch in einen Weg am See:

Hier das Menü der Fortbewegungsarten zu Fuß. Ich entschied mich für Spazierenlaufen.

Der Rückweg wieder den Lendkanal entlang.

Bachmannpreislesen, was man nicht im Fernsehen sieht

Sonntag, 27. Juni 2010

Das Sonnenlicht auf das Strandbad Maria Loretto wird abendlich golden und bescheint eine Gruppe von etwa 15 Menschen jüngeren bis mittleren Alters, die plaudernd auf dem Rasen am Wörthersee sitzen oder liegen. Manche haben Weingläser in der Hand, zwei Klapprechner sind angeschaltet, einige lesen in getackerten A4-Heftchen mit blauem Deckblatt. Eine Lesende lacht schallend auf; auf fragende Blicke hin erklärt sie: „Also, dass ein junges Mädchen nach der dritten Vergewaltigung ‚missmutig dreinschauen‘ soll, ist schon…“ Sie lacht noch einige Male bei der Lektüre dieses Josef-Kleindienst-Textes.1 Am Rand der Gruppe bereden drei Sonnenbebrillte die ihrer Ansicht nach fragwürdigen Jury-Reaktionen auf Daniel Mezgers Monolog und ob wohl seine Vortragsweise dazu geführt hat. Eine Nebensitzende unterbricht sie: „Pst, der steht da hinten.“ Richtig, am anderen Rand der Gruppe spricht er gerade mit einer der Laptoptipperinnen. Wie sich später herausstellt, hat der Bachmannpreiskandidat dem Aggregat hinter der Automatischen Literaturkritik, Kathrin Passig, dargelegt, an welchen Stellen sein Text Pluspunkte für die von ihr bediente automatische Bachmannpreismaschine hat, die noch nicht eingerechnet sind.

Wie könnte ich diesen Literaturwettbewerb bitteschön nicht großartig finden? Andere nehmen sich für Open-Air-Musikfestivals Urlaub, wieder andere fliegen für ein Auswärtsspiel ihrer liebsten Fußballmannschaft nach Madrid – es wurde wirklich Zeit, dass ich Leserin ein paar meiner Urlaubstage dafür verwendete, das wichtigste Live-Vorlesen und darüber Reden im deutschen Sprachraum vor Ort zu erleben.

Zelt im Garten vor dem ORF-Theater. Der Bildschirm, auf dem die Lesungen übertragen werden, hängt links in der Ecke.

Hier zur Sicherheit nochmal die Antwort auf die Frage „ Wie kommt man da rein?“, die ich letztes Jahr vorsichtig der Frau sopran stellte: Hinfahren, reingehen. Der Wettbewerb ist öffentlich, so richtig und völlig unkompliziert. Die Eröffnungsveranstaltung im ORF-Theater am Abend vor dem ersten Lesetag? Einfach hingehen, zuhören, mit den anderen essen und trinken. Die Lese- und Diskussionsrunden? Einfach ins Studio, das ORF-Theater, gehen. Wer von Anfang an auf einem richtigen Stuhl sitzen will, muss früh dran sein, doch zwischen den Kandidaten gehen immer ein paar Stuhlsitzer raus, deren Plätze man einnehmen kann. Manche schauen lieber vom Garten aus zu, um das Geschehen live diskutieren zu können, andere bevorzugen das Pressecafé, zumal dort Rechner und Internetanschluss zur Verfügung stehen.

Auch wenn nicht tausende, wie ich erwartet hatte, sondern nur wenige hundert Leute zum Bachmannpreis nach Klagenfurt kommen, sind sie im Stadtbild sichtbar – vor allem wegen der Leihräder, auf denen sich die Literaturtouristen durch den Ort bewegen. Auch ich sicherte mir als erstes ein Rad, praktischerweise stellte das sehr angehme City Hotel am Domplatz, in dem ich untergekommen war, selbst eines. Wirklich gebraucht habe ich es aber im Grunde nur für die Fahrten den Lendkanal entlang raus zum oben erwähnten Strandbad: Die Stadt selbst ist so überschaubar, dass alle interessanten Lokale und Cafés sowie der Veranstaltungsort ORF-Theater per Spaziergang erreichbar sind.

Besucherparkplatz vor ORF-Theater. Rechts der Pavillon, in dem die Interviews vor nach und zwischen den Lesungen geführt wurden.

Weitere Beobachtungen: Das Studiopublikum ist eher älter und verfolgt die Show in legerer Kleidung. Einige Damen trugen sichtbar Bikini unter ihrem Sommertopp, um möglichst wenig Zeit zwischen Lesungen und dem Sprung in den Wörthersee zu vergeuden. Die Bachmannpreisfamilie enthält viel Verlags- und Medienvolk (neben uns wenigen Vertretern der Leser). Als ich mich auf der Eröffnungsveranstaltung umsah unter den Buffetanstehern und Bierglashaltern, fragte ich mich, welche Veranstaltung das wohl alternativ sein könnte. Meine Banknachbarin schlug vor: Eine Sommerparty von Kreativvolk aus Werbung und PR. Ja, das konnte hinkommen: Viel Schwarz, einige betont nachlässig gekleidet, zahlreiche schwarzrandige Brillen, Eleganz unter den älteren Offiziellen, überdurchschnittlich viele Raucher.

Es soll Parallelen zwischen European Song Contest und dem Bachmannpreis geben; mir gefiele ein Vergleich mit den Filmfestspielen in Cannes besser. Mal sehen:
– Die erwartbare Häme der Medienberichterstattung.
– Jeder Anwesende diskutiert praktisch immer über das Thema der Veranstaltung, also Literatur.
– Jeder Beobachter hat eine Meinung zu den Kandidaten, den Texten, der Vortragsweise und den Juroren.
– Es sind Berühmtheiten da, die alle kennen.
– Es sind Berühmtheiten da, die vielleicht nur für wenige berühmt sind.
– Wasser und Schwimmen spielen eine Rolle.
– Es geht um Verkaufen, und man hört viel Branchengerede.
– Es gibt neben dem Wettbewerbslesen viele Lesungen außer Konkurrenz.

Ach Schmarrn, in Wirklichkeit könnte das Ganze nicht weiter vom Weltrummel um Cannes entfernt sein (wo ich zudem sicher nicht die persönliche Bekanntschaft mit den ganz außerordentlich kennenlernenswerten Leuten gemacht hätte, auf die ich in Klagenfurt traf). Es gibt keine Barrieren, alle Beteiligten begegnen einander ständig. Ich saß bei einer Abendlesung Schulter an Schulter mit der Klagenfurt-Veranstalterin, im Ort begegnete ich ständig Kandidaten oder Jurymitgliedern (radelnd, ratschend, mit Eis in der Hand flanierend), wenn ich nicht gleich mit ihnen an den Essenstisch im Biergarten geriet. Nach Abschluss der ersten Leserunde stand ich vom Zigarettenrauch und Hintergrundgeplauder dreier Juroren eingehüllt vor dem ORF-Theater, während ich auf meinem umständlichen Arbeits-Blackberry minutenlang eine Anfrage meines Chefs in zwei Zeilen beantwortete, im Strandbad begegneten einander Juroren, Kandidaten, Bachmannpreisträger früherer Jahre knapp bekleidet.

Und es dreht sich alles um Literatur, ums Schreiben, und natürlich um dessen Bewertung. Nirgendwo wird Literatur so ernst genommen. Kommen Sie doch nächsten Jahr mit und sehen Sie nach.

Wawerzinek hat also den Bachmannpreis bekommen. Nu, er war nicht der schlechteste, ebenso wenig die zweitplatzierte junge Elmiger. Dass allerdings Zander bepreist wurde, wundert mich sehr. Ihren Text habe ich nur selbst gelesen, nicht gehört, fand ihn aber sprachlich sehr unbeholfen, bei aller guten Grundidee. Für Aleks Scholz freue ich mich. Auch seinen Text las ich selbst, fand ihn sauber und originell.

Nachtrag: Noch ein paar gesammelte Bachmannechos von Klagenfurtbesuchern
Martin Fritz für fm4 (ich werde mich nächstes Jahr eingehender mit ihm über die Kleidung der Kandidaten austauschen wollen)
C. Schmidt für die Süddeutsche (Wer ist C. Schmidt? Sind wir am Ende aneinander vorbeigeschwommen?)
Richard Kämmerling für die FAZ
Sopranisse, die ja wegen ihres Buches Wie man den Bachmannpreis gewinnt eine Sonderrolle hatte
Judith von Sternburg für die Stuttgarter Zeitung
Elmar Krekeler für die Welt
Tex Rubinowitz in der Standard

  1. Es kursiert der Scherz, Jurorin Fleischanderl habe Kleindienst ins Rennen geschickt, da sie ihm noch 20 Euro schuldete. []

Bachmannpreislesen, Tag 3

Samstag, 26. Juni 2010

Noch scheue ich mich, über das Drumherum des Bachmannpreislesens zu sprechen (Reizüberflutung, nehme ich an) und bleibe bei den Teilen, die man auch im Fernsehen mitbekommt. Den Rahmen hebe ich mir für einen Abschlusstext auf. Bis dahin empfehle ich die Beobachtungen von Martin Fritz, unter anderem, weil ich drin vorkomme.

Noch ein Hinweis: Die Zeit hat als Klagenfurterklärung Katrin Passigs Text online gestellt, der das Vorwort zu Angela Leinens Wie man den Bachmannpreis gewinnt ist. Aus dem Frau Passig übrigens in der Eröffnungsveranstaltungsrede zitiert wurde.

Ich setzte mich wieder ins Studio, die Bühnenatmosphäre formt meine Rezeption der Texte sehr mit. Wieder hörte ich nur zu. Heute war tatsächlich ein durch und durch ungenügender Text dabei – so sehr, dass sich Publikum (ich eingeschlossen) und Jury einig waren. Die anderen drei interessierten mich, wenn auch nicht so sehr, dass ich mehr davon haben möchte. Im Einzelnen:

Peter Wawerzinek, „Ich finde dich/Rabenliebe“ (vorgeschlagen von Meike Feßmann)
Im Vorstellungsfilm ging es um Vergangenheit und Erinnerung, gedreht in einem verfallenden Kinderheim. Und auf der Bühne begann Herr Wawerzinek in freier Rede mit einer Widmung der Lesung, und zwar einer Dame, die die „gute Seele des Alfred-Döblin-Heims“ gewesen sei und jetzt im Krankenhaus liege. Wenn sein Text irgendwo anders gespielt hätte als in einem DDR-Kinderheim, hätte Wawerzinek den Verblüffer des Tages erreicht.
Sein Erinnerungen sind kunstfertig formuliert, bedienen sich verschiedener Sprachebenen bis hin in den Duktus Grimm‘scher Märchen. Das Fragmentarische des Rückblicks erinnerte mich an das Beckett-Stück Das letzte Band, das ich kürzlich in den Kammerspielen gesehen hatte. Eingemischt sind Zeitungsmeldungen über misshandelte Kinder und ein Radio-Eriwan-Witz. Die Geschichte rollt den Mechanismus der Verarbeitung unangenehmer Erinnerungen auf, „Erinnerung gegen jede Vernunft“. Das gefiel mir sehr gut und nahm mich mit, ich begann mich für den Roman zu interessieren, aus dem dieses Stück Text stammt. Doch dann endete er mit einem Lexikon- oder Schulbuchtext über die Entstehung von Lauten beim menschlichen Sprechen und hörte damit gar nicht mehr auf. Wenn sowas öfter im Roman vorkommt, will ich ihn doch nicht lesen.
Die Jury war sich nicht einig, ob sie die Vielfalt der erzählerischen Mittel gut oder schlecht fand. Fleischanderl diagnostizierte wieder Kitsch (mich würde interessieren, ob es überhaupt eine vergleichende Gefühlsschilderung gibt, die vor ihr Gnade findet), stieß sich auch daran, dass ihre literarische Welt von Schilderungen von Kindsmisshandlung überflutet wird. Feßmann hielt dagegen, dass, was Fleischanderl als Kitsch bezeichnet, Leitmotive seien (Schnee, Nebel, Krähen) – Fleischanderl dankte für die Lehrstunde. Nachdem Keller darauf hinwies, dass die Bilder in erster Linie Kinderwelten evozieren, meldete sich der Autor zu Wort und betonte, das Schreiben dieses Buches sei nicht einfach gewesen, er habe Jahrzehnte gebraucht, um seine Erlebnisse schriftstellerisch aufarbeiten zu können. Ich sehe mich in meiner Grundhaltung bestätigt, dass mich der Autor bei der Rezeption und Wertung eines Textes ausgesprochen wenig interessiert.
Das Publikum war ganz auf der Seite Wawerzineks und wurde bei fast jeder Kritik an seinem Text protestierend unruhig.

Iris Schmidt, „Schnee“ (vorgeschlagen von Hildegard Elisabeth Keller)
Von Frau Schmidt gab es keinen Vorstellungsfilm, sie las gleich los und ich hatte den Eindruck, vielleicht irgendetwas Wichtiges am Anfang nicht mitbekommen zu haben. Denn diese banale Holzschnittschilderung einer Autofahrt und Übernachtung in einer Pension konnte ja wohl nicht alles sein. Doch ich hatte nichts verpasst, und es kam noch schlimmer: Die Banalität nahm eine überraschende Wendung in eine Horrorgeschichte – mit Erinnerungen an unzählige klassische Gruselgeschichten, die wir uns im Handarbeitsunterricht erzählt hatten (tut mir leid, die klassische Lagerfeuersituation habe ich dafür nie erlebt). Aufsatzauftrag „Erlebniserzählung mit dramatischer Wende“ brav ausgeführt, eine schlichte Schreibübung.
Die Jury vernichtete das Werk mit ihrer schärfsten Waffe: Schweigen. Spinnen bat eingangs: „Ich hoffe, dass die Besprechung des Textes kurz und sachlich verläuft.“ Jandl versuchte zwar noch eine Kafka-Situation zu entdecken, Vorschlägerin Keller hatte ein augenzwinkerndes Entlangschreiben an Klischees gelesen, doch Winkels sprach von einem „Stephen King für Arme“. Insgesamt bekam der Text höchstens zehn Minuten Aufmerksamkeit der Juroren. Niederschmetternd.
In der anschließenden Pause beobachtete die Frau hinter mir in der Kloschlange (wir sind schließlich alle Juroren) treffend: Das war Verrat. Da bekommt eine Autorin durch die Einladung nach Klagenfurt das Gefühl, sie werde willkommen geheißen und gehöre dazu, und dann signalisiert man ihr in wenigen Sätzen, dass sie hier nichts verloren hat.

Christian Fries, „Hutmacher, privat“ (vorgeschlagen von Paul Jandl)
Herr Fries las nicht am Tisch, sondern auf Hocker und an Notenständer. Erst mal versorgte er das Publikum mit Fußnoten zum Text, erklärte dessen Aufbau und lieferte die Wikipedia-Information zum im Text auftauchenden Wilhelm Reich, weil man den ja heute nicht mehr kenne, „aber es ist kein gelehrter Text, keine Angst“. Damit hatte er bei mir schon mal verschissen: Ein Autor soll in den Text schreiben, was er sagen will, auf welche Weise auch immer. Die Rezeption und Interpretation soll er bitte uns Lesern überlassen.
Fries schauspielte seinen Text eine halbe Stunde lang „nach allen Regeln der Kunst“, wie es der Rezensent vom Hinterkloifflinger Lokalblatt ausdrücken würde: Er sprach leise und laut bis zum Brüllen, er setzte seine vielen, vielen Pointen mit Gefühl für Timing. Das war schon eine sehenswerte Show, wie sie sich ganz ausgezeichnet für eine Fernsehsendung eignet. Und den launigen Text aus dem Schauspielschülermilieu mit einem Protagonisten, dessen Eltern sich gerade haben scheiden lassen, kann ich mir als vergnügliche Lektüre in einer Gazette vorstellen (ich mochte auch Kleine Haie sehr). Nur war es in meinem Ohren ein billiges Lachen, das durchs Publikum ging, die belachten Figuren der Geschichte waren mir egal.
So warf ihm die Jury auch billige Mittel und Witze vor, Winkels vermisste einen Bezugspunkt all der Kalauer und Pointen, des Slapsticks. Feßmann meinte sogar, beim Selbstlesen habe sie hinter dem Text eine Ebene gesehen, die im Vortrag völlig verschwunden sei. Was Winkler „misslungenen Versuch, uns Humor einzubläuen“ nannte, bezeichnete Fleischanderl als „Wuchtldruckerei“. Laut Keller bot der Ich-Erzähler den Blick auf „viele aktuelle Elemente der Gesellschaft“ – vermutlich musste ich deshalb sofort an Lifestyle-Magazine denken.
Spinnen äußerte die Hoffnung, dass diese Highlights in Romanform in einen ruhigeren Erzählfluss eingebettet sein würden. Diese wurde ihm aber umgehend vom Autor selbst genommen: Nein, eigentlich sei der ganze Roman so.

Verena Rossbacher, „schlachten. Ein Alphabet der Indizien.“ (vorgeschlagen von Burkhard Spinnen)
Ich hatte den Anblick von Frau Rossbacher in den letzten Tagen immer genossen: Die Dame kleidete sich auffallend und bunt, in schlanke, exotische Gewänder, über dem Rücken ihr langer Zopf – eine mit Selbstbewusstsein auffallende Erscheinung.
Über ihren Vorstellungsfilm hatte ich schon viel gehört, meist von Kopfschütteln begleitet. Selbst fand ich das Geblödel, in dem sie selbst gar nicht auftauchte, erfrischend.
Ganz in Schlicht und Schwarz, das Haar zu einem kindskopfgroßen Knoten im Nacken gebunden, saß Verena Rossbacher dann am Tisch und las – wie ich es noch nie in einer Lesung gehört hatte. Fast ohne Wortgrenzen säuselte und raunte sie mit einem Lächeln im Gesicht und mit Ganzkörpereinsatz – eine beschwörende Priesterin.
Der Text klang magisch. Assoziationsketten aus dem Moment und seinem Handeln wie in Ulysses. Andere Ketten und Bilder, die sich aus dem Blick aus dem Zugfenster ergaben. Sie führten scheinbar in beliebige Befindlichkeiten, ergaben dann aber doch in vielen Mosaiksteinen die Erinnerung an ein Gemälde, in das tief eingetaucht wurde, dann schlugen die Fragmente eine Brücke zur griechischen Mythologie und alles wieder zurück. Irgendwann schälte sich heraus, dass diese Welle an Assoziationen nur eine ganz besonders unangenehme und schuldbeladene Erinnerung überdecken sollten, und so entstand zusätzlich eine gewisse Spannung. Eine überbordende, barocke Fülle an Eindrücken und Erinnerungketten entfaltete sich in Rossbachers Beschwörung, und mir machte erstaunlicherweise gar nichts aus, dass ich keine Geschichte erzählt bekam. Mir gefiel das hemmungslose Weiterdenken von Bildern (ich werde wohl nie wieder den roten Faden verwenden können), das dennoch eine Struktur hatte, und sei es nur die äußerliche des Alphabets, dessen Einzelbuchstaben immer wieder Absätze bildeten.
Andererseits: Diese Textsorte ohne Grammatik ist beim Selbstlesen ein Gewaltakt; ich hätte ihn, wie ich beim anschließenden Blick in den Ausdruck feststellte, nicht länger als drei Seiten lang durchgehalten. Würde mir aber jederzeit und mit Vergnügen mehr davon vorraunen und -säuseln lassen.
Das Publikum applaudierte lange. Fleischanderl bezeichnete den Text als „eine auf Hochtouren laufende Sprachmaschine“, die aber nicht greife, praktisch im Leerlauf sei. Sie warf Spinnen vor, an seiner Wahl sei wie auch in den vergangenen Jahren zu sehen, dass Deutsche kein Gespür für österreichische Tonfälle hätten und sich deshalb von Texten wie dem Rossbachers blenden ließen. Feßmann verurteilte den „grauenhaft manierierten Text“, der brülle „ich bin Kunst“. Zu meinem Erstaunen war wohl doch mehr Handlung darin gesteckt, als ich mitbekommen hatte; Feßmann hatte sie zumindest gefunden. Sulzer hatte sich nach dem ersten gescheiterten Leseversuch doch noch aufgerafft und ein Kaleidoskop gesehen, das ständig gedreht wird – sah diesen Effekt aber durch Rossbachers Vortrag zerstört. Jandl fand alles zu viel, es habe ihm „bald gelangt“. Aus Spinnens Sicht war der Text ein „Versuch, Denken abzubilden“, und das gehe nicht mit Realismus. Keller stellte den Vortrag selbst in den Vordergrund, der der Verkündigungsszene ein zusätzliches Element zur Seite gestellt habe: Den Heiligen Geist.

Bachmannpreislesen, Tag 2

Freitag, 25. Juni 2010

Leider musste ich heute wegen Migräne aussetzen. Aber wenn man schon in Klagenfurt ist, kann man ja auch mal einen Tag im Hotelbett verbringen. Nein, auch Fernsehen schaffte ich nicht, dazu hätte ich die Augen aufbehalten müssen. Morgen wieder.
Jetzt bin ich zumindest so weit wiederhergestellt, dass ich die Texte im Internet nachlesen kann.

Bachmannpreislesen, Tag 1

Donnerstag, 24. Juni 2010

Richtig schlecht fand ich keinen der fünf Texte von heute. Ich konnte lediglich mit einem überhaupt nichts anfangen (allerdings fallen mir zwei Leser ein, denen er gefallen könnte) und musste mich über sprachliche Ungelenkheiten eines anderen aufregen.

Aus der Jury spricht mir am ehesten Burkhard Spinnen aus dem Herzen. Immer interessant ist, was Literaturwissenschaftlerin Hildegard Elisabeth Keller zu sagen hat – und was sie gerne viel öfter tun könnte. Meike Feßmann, von der es in der Vorstellung hieß, sie schreibe hauptsächlich für die Süddeutsche Zeitung, deren Namen ich darin aber in 22 Jahren Abo nie wahrgenommen habe, ist am weitesten von meiner Wahrnehmung der Texte entfernt, will heißen: Sagt für meine Ohren nur Blödsinn.

Meinen ersten Tag endlich vor Ort beim Bachmannpreislesen verbrachte ich im Veranstaltungsstudio selbst (für die letzten drei der fünf Texte von heute erjagte ich sogar einen Stuhl). Ich kann mir gut vorstellen, dass es im Garten vor dem ORF-Gebäude und im Pressecafé lustiger zugeht und vermisste es durchaus, mich über Texte und Diskussionen sofort austauschen zu können, aber noch übt das In-Echt-Dabeisein den größeren Reiz aus.

Die Texte wurden direkt vor dem Vorlesen als Ausdrucke verteilt. Ich las dennoch nicht mit, sondern hörte nur den Autorinnen und Autoren zu (was meine Wahrnehmung sicher beeinflusst hat). Die Texte sind jeweils in meinen Überschriften verlinkt.

Sabrina Janesch, „Katzenberge“ (vorgeschlagen von Alain Claude Sulzer)
Das filmische Kurzportrait hatte sich um Janeschs deutsch-polnischen Familienhintergrund gedreht. Die Geschichte erzählt entlang einem „Großvater sagte“, beschreibt aber streckenweise auch einen Janeczko. Beim Zuhören brauchte ich eine Weile um zu begreifen, dass die beiden Männer identisch waren.
Mir gefiel die Geschichte sehr gut, den zugehörigen Roman will ich lesen. Ich fand zwar, dass der Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede manchmal holperte, sah aber genau darin die Erzählerstimme, die die Jury gerne deutlicher gehabt hätte. Dass die Jury unoriginelle Metaphorik und Erzähltechnik zum Evozieren der Schrecken bemäkelte, zielte meiner Meinung nach völlig am Umstand vorbei, dass das die Techniken und Erzählmuster des Großvaters sind.
Mehr Enkelin als Filter und Kanal der Großvatergeschichte hätte ich mir aber auch gewünscht.

Volker H. Altwasserx, „Letzte Fischer“ (vorgeschlagen von Meike Feßmann)
Fand ich reizvoll in genau dieser Lesereihenfolge: Nach einer historischen Situation ein brandaktuelles Setting. Doch dann kam gleich eine erzählerische Unbeholfenheit, die sich durch die ganze Geschichte zog: Beschreibungen der Figuren durch telling statt showing: „Der junge, ehrgeizige Mann…“ Das will ich vorgeführt bekommen, nicht behauptet. Die folgenden detaillierten und ziemlich langweiligen Fischbeschreibungen erinnerten mich an Moby Dick weit bevor der Name Ishmael gefallen war. Kein gutes Zeichen (mich hat der Roman bei beiden Leseversuchen in den Schlaf gelangweilt). Außerdem leidet Altwasser an schwerer Synonymitis: „Das aufgeregte Gesicht seines jungen Verwandten“ für Enkel, und um nicht immer den Namen eines der Protagonisten Rösch zu verwenden, geht es von „Verarbeiter“ über „Seefledermausspezialist“ bis zu „der Kurznasenseefledermausspezialist“. Und die zeitgenössische und eigenartige Kostruktion „von xy her“ ist nun auch im Roman angekommen: „Vom Verstand her…“
Diese sprachliche Unzulänglichkeit machte die gesamte Geschichte für mich uninteressant. Hat aber Potenzial zum Flughafen-Bestseller.
Die Jury sprach davon nichts an, vielleicht handelt es sich um meinen persönlichen Knacks.

Christopher Kloeble, „Ein versteckter Mensch“ (vorgeschlagen von Alain Claude Sulzer)
Ich mochte von Anfang an die elegante indirekte Informationsvermittlung, mit der die Geschichte ihr Setting aufbaute. Weil dieses sich als ausgesprochen abgefahren herausstellte, hatte ich allerdings eine Zeit lang Probleme herauszufinden, ob nun Fred oder Albert der ältere war – was zur Geschichte wiederum passte, die sich angenehm langsam entfaltete. Ich konnte beide Figuren gut nachvollziehen, fand die sprachlichen Mittel zurückhaltend und angebracht. Auch hieraus soll ja ein Roman werden – will ich lesen.
Dass ausgerechnet Feßmann, die den sprachlich herausgeforderten Altwasser als Kandidaten vorgeschlagen hatte, Kloeble vorwarf, er habe sich „verkrampft“ ausgedrückt, fand ich frech. Zudem konnte ich (zumindest beim Zuhören) keine Verkrampftheit entdecken.
Erstaunt war ich über die wiederkehrende Diskussion der Jury über die Wirklichkeitsübereinstimmung sachlicher Inhalte (hier: Kann ein geistig Kind gebliebener Mann Lexikoneinträge lesen?). Im Präzisen kann man von einem Autor schon Sorgfalt erwarten, doch für die großen Bögen muss er auf die suspension of disbelief bauen können, die man zum Lesen von Fiktion einfach braucht.

Daniel Mezger, „Bleib am Leben“ (vorgeschlagen von Burkhard Spinnen)
Der Texteinstieg ließ mich „Oh nein, Kunst“ denken, doch das war nach spätestens einer Seite dieser soliloquy vorbei. Am Ende standen mir Tränen in den Augen. Ich fand die Textsorte (Spinnen beschrieb soliloquy korrekt als „Position am Rande der Bühne“, „aus der Situation herausgetreten“) ideal, impressionistisch die Tragik und Pein dieser Beziehungssituation darzustellen. Dass für Feßmann schwere Depressionen gleichzusetzen sind mit Erpressung der Umwelt, hat mich scharf Luft einziehen lassen. Keller merkte an, dass die Wirkung des Textes beim Hören eine sehr andere als beim Selbstlesen sei – kann ich mir vorstellen. Fleischanderl vermisste Originalität in den Bildern, Beschreibungen, Vergleichen – nun gut, ein ordentlicher conceit hätte den Text vielleicht verbessert. Vielleicht aber falsche Aufmerkamkeit erregt. Als Feßmann zum wiederholten Male kritisierte: „Wenn jemand gehen möchte, wird er nicht flehen!“ wurde zum einzigen Mal heute das Publikum hörbar protestierend unruhig.

Dorothee Elmiger, Einladung an die Waghalsigen (vorgeschlagen von Paul Jandl)
Das war der eine Text, der völlige Ratlosigkeit bei mir hervorgerufen hat. Allerdings dachte ich sofort an Frau Modeste: Das könnte ihr gefallen. Und dem Mitbewohner. Nicht, dass ich ihn schlecht fand – ich wusste nur nicht, wohin mit all den explodierenden Fragmenten. Sulzer sprach mir aus der Seele, als er den drei Jurykollegen, die sich bis dahin begeistert über die Geschichte geäußert hatten, herzlich dankte: „Ich bin froh, das mir der Text erklärt wurde.“ Wenn er das bedeutet, was Fleßmann sagte („Apokalypse als Spielfeld“), was Winkels lobte (Kontextualisierung der Inhalte der aufgelisteten Bücher), was Fleischanderl gefiel (Zeitdiagnose in apokalyptischer Situation, junges Mädchen auf der Suche) – dann ist er vermutlich ziemlich gut. Hilfreich war für mich auch Spinnens Beobachtung, dass der Text Techniken der Computerspielprogrammierung aufweist. Er interessiert mich trotzdem nicht.

Und jetzt schaue ich, was der Rest meiner Internetwelt über die heutige Leserei geschrieben hat.

Frische Lieblingstweets

Mittwoch, 23. Juni 2010

Bevor sich zu viele ansammeln, zeige ich mal wieder meine Lieblingetweets der letzten Zeit vor. Ich entschuldige mich vorsorglich für die Pietätlosigkeit, die hinter meiner Begeisterung für Öl-im-Golf-Witzen steckt. Enjoy.

Schwimmen im Genpool*

Montag, 21. Juni 2010

* Dieser wunderbar treffende Ausdruck stammt von Frau croco. Nur war mein Becken gestern erheblich kleiner als das von ihr beschriebene.