Journal Freitag, 17. Februar 2012 – Zuschauen beim Sterben

Samstag, 18. Februar 2012 um 9:23

via Mädchenmannschaft

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Neuanfang ermöglicht. Jetzt muss mir nur noch einfallen, worin der besteht. Doch eigentlich müsste ich mir doch lediglich ins Gedächtnis rufen, was ich in den letzten Jahren an „eigentlich will ich“ und „ich könnte doch mal“ so gedacht habe. Eine ältere Idee schiebt sich derzeit nach vorne – von der ich sehr wahrscheinlich nicht leben kann. Aber warum für die Zeit der Umsetzung nicht meine Ersparnisse nutzen? Und dann weitersehen?

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Am Donnerstag hatte Hermes ein Weinpaket für uns beim Nachbarn abgeliefert, das sich als an jemandenen adressiert herausstellte, der nicht mal in unserem Haus lebt. Mitbewohner erklärte sich bereit, das zu regeln. Der Weinversender bot ihm den Inhalt bei Anruf zu einem Sonderpreis an – Mitbewohner schlug sofort zu. Seine Erklärung: „Ich will auch mal meinen EIGENEN Wein haben!“ (Ja, in diesem Haushalt bin seit Jahren ich diejenige, die für Weinbestände sorgt. Möglicherweise war ich darin ein wenig zu dominant.)

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Menschen beim Sterben zuschauen. Weil die das so wollen.

Seit Langem lese ich allrighttit – nach durchstandener Brustkrebs-Therapie (die sie mit ihrem Blog begleitete, aus dem ein durchaus lesenswertes Buch wurde) wurde bei Lisa letztes Jahr erneut Krebs diagnostiziert, diesmal unheilbar.
Seit nicht ganz so Langem lese ich Arbeit & Struktur von Wolfgang Herrndorf. Ihm richteten Freunde vor fast zwei Jahren diese Website ein, nachdem sein Gehirntumor diagnostiziert worden war, unheilbar.

Ich kann das immer noch nicht einordnen. Ist es schlicht ebenfalls das, was mich von Anfang an zur gebannten Leserin persönlicher Blogs gemacht hat? Anderer Menschen Leben mitverfolgen, weil sie es mir zeigen wollen, wortgewandt und mit Hingabe? Dann gehört das Sterben ja dazu.

Oder schleicht sich doch irgendwann die Sensationslust ein? Für die ich mich nicht überdurchschnittlich anfällig halte.

Ich habe noch nie jemanden sterben gesehen, mir wurde auch noch nie ein geliebter Mensch entrissen. Selbst den sehr gemochten Freund, der letztes Jahr tödlich verunglückte, hatte ich davor über ein Jahr nicht gesehen. Auch deshalb lese ich mit einer fast sachlichen Neugier, die Sachlichkeit aber immer wieder verhindert von heftigem Mitgefühl.

Beide schreiben über ihr Leben, zu dem seit einiger Zeit das Sterben gehört, mit Reflexion und Humor – Herrndorf knochentrocken mit einigen Prisen Groteske, Lisa so chirpy und pink wie ihre Website, gemischt mit ausgesprochen unpinker Sprache; beide mit gehöriger Selbstironie.
Beispiel Lisa:

Which is ironic, since I appear to be gaining a kilo with each chemo, despite the unspeakable agony of shitting out a weekly brick of bulky concrete turd and puking with such prolific, projectile-spinach-from-my-nostrils panache that I’ve begun to score each upchuck as though it were a ballroom dance. (TMI? Darling, you are SO reading the wrong blog.)

Beispiel Herrndorf:

Nacheinander drei Teile vom Backenzahn unten rechts ausgespuckt. Ja, mach dich vom Acker, Körper, hau ab, nimm mit, was du tragen kannst.

Ich kann bei dieser Lektüre ein wenig nachvollziehen, warum einige Menschen, mit denen ich in der Kohlenstoffwelt viel zu tun haben, mein Blog nicht lesen wollen: Nicht nur eine hat mir erklärt, es fühle sich für sie indiskret an.

Doch beide, Lisa und Herr Herrndorf, schreiben ja gebend, schenkend. Wie auch die meisten Blogger und Bloggerinnen motiviert sind von einem grundsätzlichen Mitteilungsbedürfnis, dem Bedürfnis, das Ihre zu teilen. Also nehme ich dann doch dieses Geschenk einfach dankbar und interessiert an, dankbar für einen besonderen Einblick, den sie mir gewähren, auf eine völlig selbstbestimmte Art.

die Kaltmamsell

17 Kommentare zu „Journal Freitag, 17. Februar 2012 – Zuschauen beim Sterben“

  1. concuore meint:

    Viel Freude beim Neuanfang, die sollte das Wichtigste sein. Erfolg kommt dann hoffentlich dazu.

  2. katha meint:

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    Gerne gelesen

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  3. walküre meint:

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    Gerne gelesen

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  4. adelhaid meint:

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    Gerne gelesen

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  5. raklei meint:

    Wenn ich so in Ihrem Blog blättere, sehr geehrte Frau Kaltmamsell, und mitverfolge, wie oft und wie heftig Körper und Geist bei Ihnen gegen dieses Hamsterrad aufbegehrt haben, fällt mir dazu als erstes ein: Wurde auch Zeit!

    Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Entschlossenheit und wünsche alles Gute und viel Erfolg für den Neuanfang!

  6. AnkeD meint:

    Kann mich dem werten raklei nur anschließen, das war schon lange fällig und ist sicher eine gute Idee.

    Meinen Ausstieg aus dem Hamsterrad vor nunmehr 8 Jahren habe ich nicht eine Sekunde lang bereut, würde es jederzeit wieder tun und kann nur jedem zuraten.

    Verändere die Situation bevor sie dich verändert.

  7. Buchfink meint:

    Brava!

  8. Kittykoma meint:

    Wow! Wirklich? Gratuliere!

  9. Sigourney meint:

    Lese bei Lisa Lynch auch schon seit Jahren mit und folge ihr auf Twitter. Hatte das aber erst entdeckt, nachdem sie die erste Chemo hatte und alles nach einem Happy-end aussah. Jetzt habe ich mich auch schon gefragt, warum ich das weiterlese bzw. ob ich immer noch weiterlesen würde, wenn sie nicht secondary cancer bekommen hätte.
    Hat mich auch schon ziemlich beschäftigt. Ich würde auch ungerne von mir denken, dass ich sensationsgierig bin.
    Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich a) einfach nicht wirklich glaube, dass sie sterben wird und b) ich ihr Blog einfach klasse finde und ihre Art zu leben (Krebs hin oder her, sie lebt wirklich).
    Und ich mir c) jetzt ziemlich scheisse vorkommen würde, wenn ich sie “verlassen” würde, ihr bedeuten ihre Leser ja etwas. Und sie bedeutet mir etwas. Wenn sie mal einen Tag nicht twittert, mache ich mir Sorgen.

  10. Foodfreak meint:

    zum Neuanfang: ich schliesse mich den ‘das wurde auch Zeit’-Rufern an. Meinen tief empfundenen Glückwunsch dazu, diese Entscheidung auch durchgezogen zu haben. Mancher braucht dafür noch kräftigere Arschtritte vom Leben (moi) oder tut es nie. Daraus kann nur Gutes erwachsen.

    Sterben: Herrndorf lese ich auch immer mal wieder, kann ich aber nicht regelmässig tun. Ich denke ein Teil der Faszination ist für mich sein glasklarer. trockener Stil.

  11. Nathalie meint:

    Alles Gute für den Neuanfang! Und es wird etwas gutes kommen (auch wenn es nicht unbedingt das sein wird, was man sich vorstellt – vielleicht etwas viel besseres). Ich habe das selbst erlebt.
    Zwischendurch hat man Angst vor der eigenen Courage – aber das ist auszuhalten.

  12. iv meint:

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    Gerne gelesen

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  13. Schneizel meint:

    Wenn ich das recht verstehe. Aber falsch verstehen kann man das auch nicht. Wie auch immer. Passen Sie auf sich auf. Ich denke an Sie. Unbekannterweise. Und wünsche Ihnen Glück.

  14. Musiker meint:

    .

  15. Petra meint:

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    Gerne gelesen

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  16. Andre Thiele meint:

    Menschen beim Sterben zuschauen. Weil die das so wollen.

    Seit Langem lese ich allrighttit – nach durchstandener Brustkrebs-Therapie (die sie mit ihrem Blog begleitete, aus dem ein durchaus lesenswertes Buch wurde) wurde bei Lisa letztes Jahr erneut Krebs diagnostiziert, diesmal unheilbar.”

    WTF! Mein splatter-freier Lieblings-“hier ist alles herausragend normal”-Blog, und dann das.

    Heute wird wahrscheinlich wieder einer von diesen Tagen …

    Aber bevor Sie verbal zur Sarah Kane konvertieren, sagen Sie bitte Bescheid, Miss Mamsell, bitte, ja?

  17. Sebastian meint:

    @Andre Thiele
    Haben Sie vielleicht bisher nur den Rezeptblog gelesen? Und das mit Sarah Kane ist schon ein bisschen, äh… trollkühn?

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