Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege
Freitag, 27. April 2012 um 8:18Dieser Ziegel wohnte schon lange unter den ungelesenen Büchern des Mitbewohners: Ich hatte ihm das Stück Torberg-Zeit 1996 geschenkt – ein seltener Fall, dass ich ein Buch verschenkte, das ich selbst nicht gelesen hatte. Nun habe doch ich es noch vor ihm gelesen. Und empfehle es nicht nur ihm.
Über 900 Seiten lang lebte ich im Wien von 1911 und von 1925. Es gibt zwar kurze Griffe zurück in weitere Vergangenheit und nach vorne in jüngere Zeiten, doch nur in Nebensätzen und um Hintergründe zu klären. Wir begleiten mehrere Familien, vor allem die Generation, die im 1911er-Teil um die 20 ist, entsprechend älter im längeren Teil, der im August und September 1925 spielt. Es wird viel Tee und Mokka getrunken, in Cafés gesessen (in denen man noch den Kellner um den Zugfahrplan bitten kann), ausgegangen, spaziert, geredet und beraten. Alle Figuren sind dabei, ihren Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden.
Der Erzähler bleibt immer sehr nah an seinen Figuren, ist gleichzeitig immer deutlich präsent. An einigen Stellen macht er sich auch explizit bemerkbar und kommentiert das Geschehen, dankt in der einzigen Fußnote Anton Kuh für eine passende Formulierung, die er übernommen hat, gesteht am Ende, dass nicht mal er selbst den Vornamen seiner Hauptfigur kennt. Dieser picareske Tonfall schlägt ohnehin immer wieder durch.
In fast blogartigem Detailreichtum leben wir die Tage mit den Protagonisten (vor allem mit einem Major Melzer), sei es in Wiener Stadtwohnungen und Cafés, sei es in der ländlichen Umgebung der Sommerfrische, mit Tennisspiel, „Garden-party“ und morgendlichen Bergwanderungen.
Umgebungen, Menschen und Ereignisse sind sehr genau beschrieben, allerdings nicht platt berichtend: Vor allem die Menschen werden durch ihre Außenwirkung charakterisiert, selbst wenn mal das eine oder andere nach oben geschwungene Näschen, ein schräg gestelltes Auge, und immer wieder das besondere Faszinosum roten Haars auftauchen. Doch es sind eher Betrachtungen denn Beschreibungen – auch diese immer wieder mit Schabernack und ein wenig Bosheit: „die Frau in einem roten Sommerkleid, die Haare gelb wie ein Trompetenstoß“.
Von den so betrachteten Personen erfahren wir viel Innensicht und Reflexion, meist aus personaler Perspektive, hin und wieder schaltet sich aber auch der oben beschriebene Erzähler ein. Er stellt sicher, dass wir die Welt des Romans in ihrer ganzen Besonderheit kennenlernen:
Denn (…) abgesehen von diesem leidigen Phänomen, war ihm etwas zugestoßen, was einem in Wien unter gar keinen wie immer gearteten Umständen passieren darf, wegen der unübersehbaren und unabsehbaren damit verknüpften Folgen, etwas, das ganz bedingungslos vermieden werden muß, und worüber der Rittmeister als ein Fremder, welcher er im Grunde doch geblieben war, sich offenbar nicht in genügender Klarheit befunden hatte, welche allerdings eine ganz außerordentliche hätte sein müssen, um die fehlenden eingewurzelten Instinkte zu ersetzen: denn allein diese bremsen gebieterisch und sozusagen um jeden Preis vor bestimmten Gefahrenzonen. Auch um den Preis des Rechthabens oder Rechtbehaltens.
Eulenfeld hatte sich mit der Hausmeisterin zerstritten.
Alle Schreibungen sic! Leider enthält meine Ausgabe keine Anmerkung zum Text; Doderers Interpunktion und Orthografie weichen oft von den heute gebräuchlichen ab (auch von denen vor den diversen Rechtschreibreformen der vergangenen 15 Jahre). Es ist durchaus möglich, dass er ganz eigenen Regeln folgte, zumal er im Lauf des Romans viele ungebräuchliche, wenn nicht sogar selbst erfundene Wörter verwendet. So macht man „Carrière“, ein immer wieder auftauchender Menschentypus ist der „troglodytische“, ein Amtsrat Zihal steht Pate für einen nach des Erzählers Meinung damals in Österreich dominierenden „zihalistischen“ Typus – auch die Sprache entstammt einer Welt von gestern, obwohl der Roman erst 1951 erschien. Gerade durch ihr Abweichen von Konventionen wirkt sie sehr präzise.
Fast durchgehend ist Sommer im Roman: Die Menschen in Wien schützen sich vor der Augusthitze durch Verschattung der Wohnungen, eine Jause an der Donau kommt vor, man genießt warme Nächte, in der Sommerfrische blüht es, Berwanderungen müssen wegen der drohenden Hitze früh begonnen werden, die Kleidung ist leicht, Jacken oder Mäntel tauchen gar nicht auf.
Die letzten 40 Seiten konnte ich gestern auf dem Balkon mit Blick auf sonnenbeschienen sich entfaltende Kastanienblätter lesen – das war besonders schön. Auch wenn gerade im letzten Teil des Buches auch mal ein bisschen Herbst ist.
Das Buch ist dick, die Dichte und Üppigkeit der Sprache und das Fehlen von Spannungsbögen führen zu gemächlichem Lesen – so konnte ich über zwei Wochen in der Welt der Strudelhofstiege wohnen. Aus der ich ungern wieder auftauchte.
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Seit ich vor vielen Jahren davon las, blieb mir dieses Detail am tiefsten aus Herrn Doderers Vita hängen: Sein Vorname ist ein verballhorntes Jaime – die Mutter fand auf einer Spanienreise den Diminutiv Jaimito so schön, dass sie ihn für ihren Sohn als Heimito eindeutschte. Kindesmisshandlung per Namensgebung ist also keineswegs ein nur gegenwärtiger Tatbestand.
die Kaltmamsell16 Kommentare zu „Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege“
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27. April 2012 um 9:11
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Gerne gelesen
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27. April 2012 um 10:27
Heimito? Sollte Wulfhild mal einen Bruder bekommen, weiß ich nun schon einen Namensfavoriten…
Das Buch hört sich habenswert an. Aber bei den momentanen 5-Minutenintervallen auf der Couch eventuell doch ein wenig zu ambitioniert. Aber wer nicht wagt und so…
27. April 2012 um 10:49
Sehr schön auch die Verflochtenheit des Geschehens. Irgendwelche Figuren laufen durchs Bild, und irgendwann wird einem klar: Das war doch Der-und-Der. Ohne dass dies unbedingt relevant für den Plot (ja, es gibt da eine Art Krimihandlung) wäre.
Schon um einige der vertrauten Figuren wiederzusehen, habe ich gleich darauf die “Dämonen” gelesen.
27. April 2012 um 11:12
Liebe Frau Kaltmamsell,
vielen Dank für diesen wunderbaren Tipp! Herrn von Doderer verdanke ich auch die
Kenntnis des bereits oft verwendeten Satzes: Wer sich in Familie begibt, kommt darin um.
In diesem Sinn ein schönes Wochenende für Sie
beste Grüße, Milla
27. April 2012 um 11:30
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Gerne gelesen
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27. April 2012 um 11:49
Das klingt großartig. Hoffe nur, da es mir ähnlich geht wie Cati Basmati, dass ich mal zu mehr als 5 Seiten am Stück komme. Der Roman hört sich an, als könnte man ihn herrlich im Biergarten, beim Picknick oder auf der Sommerterrasse lesen. Danke für diese hervorragende Rezension.
27. April 2012 um 12:25
Ja, ein wunderbarer Sommerroman – und ich weiß noch, dass ich mir damals eine große Netzwerkkarte der Personen gezeichnet habe…
27. April 2012 um 12:53
allein schon ihr zitat macht mir lust den doderer zu lesen.
großartige rezension!
was sie aber auch immer für blogs auftreiben, habe tränen gelacht.
27. April 2012 um 17:00
Nachbarin…. das Fläschchen! “blogartiger Detailreichtum” …. made my day! Und: Ich kannte mal eine Dame, die hieß Thymian (Apothekerstochter) … aber sie war nett und bald war der Name halt eine Silbenabfolge und nichts Schlimmeres ….
27. April 2012 um 18:09
Danke, chère Mamsell, auch für den “kleinen” Hinweis auf den Sprechsteller Anton Kuh, leider nur sehr wenigen bekannt.
Und alles andere – sowieso gern gelesen.
27. April 2012 um 23:18
Auch ich bedanke mich für die Namensinformation zu “Heimito”.
Das Buch hat mich über lange Monate begleitet und auch verzaubert. Jetzt kriege ich Lust, wieder in dieses komplizierte, gemächliche Wien einzutauchen.
28. April 2012 um 7:33
Ich bin freudig überrascht, meine Damen und Herren, über Ihre Kommentare – dem altmodischen Doderer hätte ich keine so große Anziehungskraft zugetraut.
Fünf-Minuten-Intervalle, Cati Basmati und Julia sind tatsächlich nicht geeignet für diesen Roman. Ganz im Gegenteil erfüllt er alle Anforderung an Urlaubslektüre.
So war es, Paul Bademeister, man hätte sich jederzeit neben die Hausmeisterin auf einen Plausch stellen können. Dämonen habe ich mal auf meine Liste gesetzt – auf der nach der Freude über Feuchtwangers Erfolg seine Geschwister Oppermann gammeln; ein Vergleich der Werke von Doderer und Feuchtwanger als Sitten- und Gesellschaftsgemälde anschließender Zeiten bietet sich eigentlich an.
Hätte ich nicht so gebalt an dem Roman gelesen, Iris, sondern mit längeren Pausen, hätte ich sicher auch angefangen, Diagramme zu malen.
Der Einfluss von Blogs auf die Romanliteratur des 20. Jahrhunderts wird ohnehin noch zu untersuchen sein, lihabiboun
(in der Tradition von Forschung über den Einfluss der Psychoanalyse auf Shakespeare – meinend natürlich auf die Shakespeare-Rezeption).
Anton Kuh, Thea, gehört in die Welt von Friedrich Torbergs Wien und Prag, die mir als Zwölfjähriger seine Tante Jolesch erschloss und die mich seither nie mehr losgelassen hat. Und die zum Glück noch lange nicht leer gelesen ist.
Wenn ein Buch genug bietet, Ilse und auch die anderen Leserinnen und Leser, darf es ganz offensichtlich ein wenig Leseanstrengung kosten – es freut mich sehr, dass Sie diese meine Einschätzung bestätigen.
28. April 2012 um 18:59
Vielen Dank für die schöne Rezension. Die Strudlhofstiege gehört zu den Büchern, die ich mir schon lange mal zu lesen vorgenommen hatte. Jetzt wird das wohl meine Projektabschlusslektüre.
troglodytisch ist keine der Worterfindungen von Doderer. Ein Troglodyt ist ein Höhlenbewohner und war zu der Zeit eine nicht ungewöhnliche Bezeichnung für einen Menschen mit schlechtem, unzivilisierten Benehmen. Mein 1902 in Krems geborener und in Wien aufgewachsener Großvater hat dieses Wort gerne und häufig verwendet.
2. Mai 2012 um 19:25
gehe ich recht in der annahme (völlig aus dem kontext), dass Behind the Beautiful Forevers noch nicht auf deutsch erschienen ist? der washington post war so begeistert…für jedwedes hinweis wäre ich sehr dankbar.
kvk
2. Mai 2012 um 22:13
Sieht so aus, kubelick, ist auch eben erst auf Englisch erschienen. Ich kam über einen lobenden Tweet von Salman Rushdie darauf – doch er hatte wohl ein Rezensionsexemplar bekommen, ich musste noch zwei Monate darauf warten.
6. Mai 2012 um 14:35
Danke für dieses Post, hatte ich doch gerade eine Offenbarung. Ich habe vor einiger Zeit “Die wilden Detektive” (Los detectives salvajes) von Roberto Bolaño gelesen. Dort kommt ein ziemlich durchgeknallter Österreicher namens Heimito vor. Nachdem Bolaños Texte ja immer vor Intertextualität nur so triefen, habe ich dank Dir jetzt einen Verdacht, auf wen hier vielleicht angespielt wird…