Sehnsuchtsüberfall

Sonntag, 3. Juni 2012 um 15:38

Gerade als ich mir einen schwarzen Tee aufbrühte, überfielen mich die Erinnerungen. Sie trank nämlich nur Tee, nie Kaffee – auch wenn sie für Gäste Kaffee im Haus hatte. Genauso wie sie versuchte, immer eine Flasche Wein oder Bier im Haus zu haben für Gäste, obwohl sie selbst keinen Alkohol mochte (nur Rum zum Backen gehörte zu ihren Standardvorräten).

Ich kannte sie so gut, zumindest ihre Gewohnheiten und Vorlieben. Was eigentlich in ihr vorging, was sie antrieb, habe ich nie gewusst – doch das fiel mir erst auf, als ich mich innerlich schon lang von ihr gelöst hatte. Wir waren im Alter zwischen 16 und etwa 25 eng befreundet. Dass sie sich mit 28 vor anderen als meine „beste Freundin“ bezeichnete, war bereits befremdlich. Doch gerade eben erinnerte mich der Duft des schwarzen Tees an sie, und ich vermisste die Freundin von damals sehr.

Ihr schönes Bayrisch, tendenziell Niederbayrisch, durchsetzt mit selbst erfundenen Wörtern. Ihre tiefe Loyalität Freunden und Partnern gegenüber, aber auch ihre schnellen, bösen Aburteilungen mancher Menschen. Ihr frühe, große Eigenständigkeit, vor allem in materiellen Dingen – laut ihrer Erklärung musste sie sich sogar Schulsachen selbst kaufen und verdiente deshalb schon mit 14 eigenes Geld mit Zeitungsaustragen. Wie großartig sie erzählen konnte! Während ihres Studiums unterhielt sie selbst große Gesellschaften mit ihren Erlebnissen als Aushilfe bei der Telefonauskunft („Sechs fünf, sechs fünf, SECHS!“ – jemand hatte nach einem Bestellservice für Essen gefragt und nicht aufgehört, ihr Details seiner kulinarischen Vorlieben zu schildern, sie antwortete eisern mit der Telefonnummer des damals einzigen Pizzaservices der Stadt) und als Türsteherin einer Schwulendisco („Rosette zusammenkneifen und immer schön mit dem Rücken zur Wand bleiben – dann kann gar nix passieren“ – zu Heterogästen aus der Provinz, die zum Schwulengucken gekommen waren).

Wie stolz sie auf ihr sehr langes Haar war – den Stolz auf ihre schöne große Nase, so bilde ich mir ein, brachte allerdings erst ich ihr nahe. Einen Fingernagel ließ sie sich einige Jahre immer ganz lang wachsen und lackierte ihn schwarz. Ihr Schnäppchenjagdeifer: Im Schlussverkauf schaffte sie es immer wieder, aus einem Stapel mit auf 50 Mark reduzierten Designerteilen das eine rauszuzupfen, das nur 20 Mark kostete und auch noch das mit Abstand schönste war. Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der so konsequent und erfolgreich handelte wie sie: Da war auf einem Herrenschwaige-Flohmarkt das dunkelviolette Trachtenkostüm, edelstes Material, das ohnehin für Appel und Ei angeboten wurde – sie packte es für die Hälfte ein. Überhaupt Flohmärkte: Sie führte mich in diese Welt ein und war im Endeffekt dafür verantwortlich, dass meine Kleidung einige sensationelle alte Stücke enthielt und dass mein erster Hausstand sich aus abgelegten Flohmarktschnäppchen zusammensetzte statt aus Allerwelts-Ikea. Warten’S, ein paar Wermutgläser von damals habe ich immer noch:

Auf dem Schrank ihrer Studentinnenwohnung stapelten sich Dutzende Jeans – sie besaß ungeheuer viel Kleidung. Und sie kleidete sich gerne mehrmals am Tag um; ein schneller Aufbruch zum Ausgehen war völlig unmöglich („oder soll ich doch das blaue anziehen, wart’, ich zeig’s dir schnell“), ihr Gepäck auf Urlaubsfahrten unüberschaubar.

Sie war eine große Strickerin, gehörte mit mir in den 80ern unserer Schulzeit zu den Schülerinnen, die praktisch durchgehend während des Unterrichts unter der Bank vor sich hin nadelten. Zwei Paar Socken, die sie mir gemacht hat, habe ich immer noch. Solange ich noch bei meinen Eltern wohnte, verbrachten wir Stunden bei Tee, Stricken und Diskussionen in meinem Zimmer. Später fanden diese Diskussionen in unseren eigenen Wohnungen in verschiedenen Studienstädten statt, meist bei Frühstücken, die bis in die Abendstunden andauerten.

Die junge Frau links, die gerade meiner Bitte „Mach doch mal die Ente“ nachkommt, das ist sie (Chorfestival 1985 in Hannover). Mit dieser 17-Jährigen würde ich mich so gerne nochmal unterhalten.

die Kaltmamsell

22 Kommentare zu „Sehnsuchtsüberfall“

  1. Gaga Nielsen meint:

    innige Aufnahme

  2. Croco meint:

    Schöne Beschreibung einer Freundschaft. Und dem, was man noch lange hat, wenn die gemeinsame Zeit vorüber ist. So wie ein Parfum, das noch lange da auch wenn sein Mensch schon weg ist.
    Mit Verlaub, es klingt so, als ob die Freundin nicht mehr lebt.

  3. nuss meint:

    Schöner kann so ein Blogbeitrag kaum sein. Was für ein grossartiges Bild!

  4. katha meint:

    gute erinnerungen!

    und die gläser da oben: ich hatte ein altes köchinnenweinglas von meiner oma, das hatte genau diese form, d. h. der kelch ganz gerade, nicht geschwungen, aber mit einem etwas längeren stiel (nur geringfügig länger), und einem kleinen knäuberl im stiel. ich wusste nicht, dass die da oben wermutgläser heißen. jedenfalls hat mir der web- und sängermeister das köchinnenweinglas meiner oma zsamgschmissn und seit monaten suche ich (und sucht er) wieder eines, das so aussieht. ich habe zwar letzte woche ein ganz anders aussehendes ersatzglas gefunden (gehandelt, von 12 auf 10 euro, ich war sehr stolz, denn ich kann nicht handeln). es ist schön, aber es ist nicht DAS glas. irgendwann werde ich einen schrank voller köchinnenweingläser haben, aber DAS glas wird noch immer nicht dabei sein – nicht dabei sein können, denn DAS glas war das von meiner oma, aber das ist geschichte. so wie die von dir beschriebene freundschaft offenbar auch.

  5. die Kaltmamsell meint:

    Parfum ist ein wunderbarer Vergleich, croco. Diese Freundin lebt ja auch nicht mehr: Es gibt eine Frau gleichen Namens, gleicher DNA, die aber jemand andere ist. (So wie ich auch.)

    Ursprünglich hatten die Gläser sogar einen Eichstrich, katha, der sie klar der Gastronomie zuordneten. Ich hatte immer Martini bianco oder Cinzano in solchen serviert bekommen (mit Eis und Zitrone), daher meine Bezeichnung Wermutgläser.

  6. Modeste meint:

    Was ist aus ihr geworden? Haben Sie noch Kontakt?

  7. die Kaltmamsell meint:

    Der Kontakt hat sich immer weiter gelöst, Modeste, vor etwa zehn Jahren versiegte er ganz. Im Internet sehe ich hin und wieder nach, ob sie noch an ihrem Studienort arbeitet: Tut sie.

  8. Anke meint:

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    Gerne gelesen

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  9. Julia meint:

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  10. Orangerie meint:

    Ihr Text und das schöne Bild verursachen bei mir die angenehm traurige Erkenntnis, wie schön es in der Jugend ist, dass man da in alle Personen, die man sich aussucht verliebt ist.

  11. Lu meint:

    War dieser Überfall an einem wichtigen Tag? Ich hatte solche Erlebnisse mit lieben Menschen, die schon mal vor sind jetzt schon zwei Mal. Einmal saß ich plötzlich überfallen von Erinnerungen und totaler Gedankenpräsenz heulend in einer Haltestellenbude, und einmal fand ich mich nach Stunden mit einer leeren Weinflasche auf meinem Küchenboden sitzend wieder, völlig verrotzt. Bei beiden habe ich später gesehen, dass es zu Lebzeiten wichtige Tage waren.

  12. Usul meint:

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  13. walküre meint:

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  14. Sebastian meint:

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  15. Frau-Irgendwas-ist-immer meint:

    Wenn von einer Freundschaft so viel ‘übrig’ bleibt, dann war sie etwas Besonderes!

  16. Ilse meint:

    Schöne Geschichte, mit was für einer Liebe aufgeschrieben!

  17. die Kaltmamsell meint:

    Oh ja, es war eine große Liebe.

  18. Petra meint:

    Sie wissen zumindest noch, wo Ihre damalige Freundin lebt und arbeitet.
    Gerne würde ich mal eine frühere, sehr gute Schulfreundin wiedertreffen.
    Ich habe schon nach ihr gegoogelt. Hinzu kommt, dass es mehrere Personen mit demselben Namen gibt. Ich weiß auch gar nicht, ob sie geheiratet hat und jetzt anders heißt.
    Ich war schon in meinem Heimatort. In ihrem Elternhaus wohnt wohl jetzt eine junge Familie (sieht zumindest danach aus)
    Ich weiß gar nicht, was aus ihr geworden ist.
    Vielleicht ist es gut so.
    Vielleicht besser, sie in guter Erinnerung zu behalten.

  19. midori meint:

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    Gerne gelesen

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  20. Frau Haselmayer meint:

    Oh, mann, es ist doch erst Montag Mittag und ich möchte mich jetzt wie eine meiner Vorrednerinnen mit einer Flasche Wein auf den Küchenboden setzen bis die Flasche leer ist und ich verrotzt…ach, gut, dass ich keinen Wein trinke. Oder Mist, dass ich keinen Wein trinke? Aber schwer ums Herz ist mir jetzt auf alle Fälle trotzdem…

  21. Fanni meint:

    Und ich mit der 17-Jährigen rechts im Bild.
    Die junge Frau links

  22. die Kaltmamsell meint:

    Dicker Kuss, Fanni.

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