Freitag, 28. Februar 2020 – Schmerzverzweiflung und Historisches über die Schillerstraße

Samstag, 29. Februar 2020 um 8:34

Zerknautscht und verheult aufgewacht – das war eine böse Nacht. Von Schmerzen wachgeprügelt hatte mich Hoffnungslosigkeit gebeutelt: Wenn der Ischiasnerv alle Bemühungen um mein Hüftgelenk zunichte machen kann, sah ich überhaupt keinen Wanderurlaub, ausführlichen Spaziergang oder überwiegend guten Schlaf in meiner Zukunft. Ich kann wirklich verstehen, wie Menschen in solchen Lagen anfangen, sich an gut konstruierte Heilungsgeschichten und hanebüchenen Mumpitz zu klammern, solange das ihnen nur Hoffnung bietet. Ich würde mich ja auf Wallfahren verlegen und das Anzünden von Kerzen vor Schutzheiligen – hätte ich meinen Katholizismus nicht so gründlich hinter mir gelassen. (Was mir übrigens als deutlichster Unterschied zwischen fachlicher Medizinbehandlung und ungefragten Ratschlägen aufgefallen ist: Bei ersterem wird erst mal gründlich nachgefragt, zweiteres weiß mit ein bis zwei aufgeschnappten Details bereits genug für freie Assoziationen.)

Yoga bestand nur aus Sitzen und Liegen mit ein bisschen Dehnen – hätte ich vor einen Jahr geschafft, gestern verhinderte Hüftschmerz selbst die sonst angenehm ziehende Grätsche. Dafür steigere ich mich bei den ärztlich verordneten Kräftigungsübungen, die ich zum Jahreswechsel noch eher andeuten musste, im Seitstütz bereitet mir derzeit nur die Schulter Probleme.

Mit der U-Bahn in die Arbeit. Festgestellt, dass ich mir wohl beim Seitstütz irgendwas in Schulter/Nacken verklemmt hatte: Dieses irgendwas schmerzte unterm Hinterkopf und verhinderte Kopfdrehung. ZEFIX ALS HÄTTE ICH NICHT SCHON GENUG LASTEN. Wenn ich tagsüber im Sitzen oder Stehen auch nur in Hörweite von Schmerzlosigkeit kam, war ich sofort versucht, mich nicht mehr zu bewegen und nur flach zu atmen – in der Hoffnung, den seligen Zustand zu erhalten.

Das Corona-Virus hat jetzt auch auf meine Arbeitswelt Auswirkungen – obwohl ich nicht mal mit Messen oder Veranstaltungen zu tun habe.

Früher Feierabend, ich kam bei schrägem Sonnenlicht daheim an.

Erste Veilchensichtung des Jahres.

Nachtmahl bereitete ich mir selbst, Herr Kaltmamsell war aushäusig: Nudeln mit Paprikaschote, Karotte in Joghurt, dazu Posteleinsalat aus Ernteanteil.

Ob ich wohl noch zu meinen Sommerschuhen aus England komme? Bestellt hatte ich sie am 13. Januar, mit Bestellbestätigung. Zwei Wochen später schickte ich eine E-Mail hinterher, ob es wohl ein angepeiltes Versanddatum gebe? Keine Reaktion. Bis vor zehn Tagen eine Mail kam, das sei ja schade, dass ich meine Bestellung storniert hätte, ob ich vielleicht ein anderes Paar haben wolle? Ich antwortete sofort wörterfuchtelnd, dass das ein Irrtum sei und ich die schönen Schuhe ganz echt ehrlich ganz besonders sehr haben wollte. Nette Antwort, Versandbestätigung mit Tracking-Link. Unter dem ich gestern mal nachsah und feststellte, dass das Paket angeblich seit 21.2. zur Abholung bereit liege und “Recipient”, also ich, darüber informiert sei. Gestern also per Formular an das Versandunternehmen Parcelforce geschrieben und um Klärung gebeten, wo das Paket denn abzuholen sei.

Abendunterhaltung auf Tipp eines Freundes, der ums Eck meiner Wohnung in der Münchner Schillerstraße arbeitet:
“50 Jahre Unter unserem Himmel | 1977
Schillerstraße 3 – 53. Lebensalter und Gesichter einer Straße”

Ein ganz hinreißendes Dokumentarfilmstündchen, in dem mich viel erstaunte: Dass erst damals die U-Bahn-Verbindung zwischen Sendlinger Tor und Hauptbahnhof gegraben wurde, dass es damals noch Druckereien, einen Buchladen, einen Besenbinder in der Schillerstraße gab, wie unbekümmert Menschen offensichtlich ohne ihr Wissen gefilmt und gezeigt wurden, wie wenig ich in der heute so vertrauten Schillerstraße wiedererkannte, wie viele Überraschungen die historischen Rückblicke boten (u.a. dass die Schwanthalerstraße so breit ist, weil die hocherrschaftlichen Häuser bis in die 1930er große und prächtige Vorgärten hatten). Ganz entzückend auch der poetische Duktus des Erzähltexts über den Bildern. Der Film scheint kein Konzept zu haben, außer dass er einen langen Sommertag in der Schillerstraße begleitet – was den Inhalt für mich umso dokumentarisch glaubwürdiger macht, weil er eben nicht für ein Narrativ sortiert wurde. (Ich weiß schon, warum ich ein so großer Fan des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks bin.)

die Kaltmamsell

22 Kommentare zu „Freitag, 28. Februar 2020 – Schmerzverzweiflung und Historisches über die Schillerstraße“

  1. Joël meint:

    Ich wünsche Ihnen ganz viel Kraft für die kommende Zeit. Ich kann gut nachempfinden dass das ganze Schmerzgedöns Sie ganz schön mitnimmt.

    Ich soll ihnen auch sehr liebe Grüße von der D. bestellen. (Sie liest eifrig hier mit hat es aber so gar nicht mit dem Kommentieren. Sie kommentiert auch nicht bei bei im Blog.) Sie turnt inzwischen eifrig bei den gleichen Yoga Videos mit.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Oh, viele Grüße der D. zurück, das freut mich!

  3. Philine meint:

    Vielen Dank für den Tip Schillerstrasse. Bin ein grosser Fan von “Unter unserem Himmel”, da gibt es immer wieder die tollsten Überraschungen
    Alles nur erdenklich Gute Ihnen.

  4. Stedtenhopp meint:

    Ach, ach, Deine Schmerz-Situation dauert mich so sehr. Und ich weiß nur, wie zermürbend es sein kann, wenn man sich bloß mal den Nacken verrissen hat und sich ein paar Tage nicht schmerzfrei bewegen kann. Das, potenziert und über viele Monate… puh. Vor allem aber erscheint es mir schier zum Ausderhautfahren, dass den versammelten Orth-Herrschaften da nix Wirksames einfällt!? Was MACHEN die denn die ganze Zeit? Wenn nun der Ischiasnerv der Übeltäter ist – bist Du doch auch nicht die erste Patientin, die jemals damit zu tun hat. Da muss es doch bewährte Heilungsmaßnahmen geben?! Herrje. Ratlos, aber voller Mitgefühl sende ich TONNENWEISE gute Wünsche!

  5. Ulla meint:

    Zuerst mein Bedauern und gute Wünsche für Sie ( habe mir selber gerade wieder mal den Lendenwirbel verzogen).
    Schillerstraße gesehen und „Unter unserem Himmel“ IMMER sehenswert. Die Sendung zeichne ich mir grundsätzlich auf.
    P.S. Sport ist Mord ? Wie wäre es zur Abwechslung mal mit, kein Sport.

  6. Frau Klugscheisser meint:

    Drecksschmerzen, zefix! Das ist so bitter, dass ich garnicht weiß, was ich dazu sagen soll. Unbedingt ein Kerzerl anzünden, das gibt wenigstens schönes Licht, wenn es auch sonst nix ändert.

  7. die Kaltmamsell meint:

    Vielen Dank für die guten Wünsche, die MÜSSEN doch helfen.

    Genau das meinte ich, Ulla: Keine Nachfragen, sondern sofort was wissen.

  8. Lempel meint:

    Beim Neurologen waren Sie schon mal, wenn ich mich recht erinnere? Wäre ansonsten vielleicht noch eine Option bei Problemen mit dem Ischiasnerv.

  9. die Kaltmamsell meint:

    Die sind schon dran, Stedtenhopp, aber das Abklären dauert noch eine Weile, auch das Abklären der Wirksamkeit der Spritzen.

    Ja, Lempel, den Befund (keine Auffälligkeiten, Nervenleitgeschwindigkeit ok) habe ich Dr. Orth2 vor zehn Tagen schicken lassen.

  10. Ulla meint:

    quote „Dafür steigere ich mich bei den ärztlich verordneten Kräftigungsübungen, die ich zum Jahreswechsel noch eher andeuten musste, im Seitstütz bereitet mir derzeit nur die Schulter Probleme.

    Mit der U-Bahn in die Arbeit. Festgestellt, dass ich mir wohl beim Seitstütz irgendwas in Schulter/Nacken verklemmt hatte: Dieses irgendwas schmerzte unterm Hinterkopf und verhinderte Kopfdrehung.quote
    Ich sehe nur, dass ihr Sport zu neuen Problemen führt. Leider !

  11. Margarete meint:

    Sicherlich hätte auch H. Heine an Ihrem Foto seine Freude gehabt:
    “Morgens send ich Dir die Veilchen,
    Die ich früh im Wald gefunden,
    Und des Abends bring ich Rosen,…”
    Danke auch für den Filmtipp!

  12. die Kaltmamsell meint:

    Würden Sie jemandem, der vom Rad gefallen ist, Ulla, auch raten, nicht mehr Rad zu fahren? Jemanden, der sich an der Backofentür verbrannt hat, nicht mehr zu backen? (Und warum lasse ich mich eigentlich immer wieder auf Idiotendiskussionen ein?)

  13. Ulla meint:

    Danke für den Idioten. Sachlichkeit ist etwas anderes.

  14. Petra meint:

    kaltmamsell: Ins Konsil verschoben

  15. Hauptschulblues meint:

    Tja.
    Am besten nichts mehr sagen.

  16. Fujolan meint:

    Passiert mir nicht oft aber eben saß ich dann doch fassungslos vor den hiesigen Kommentaren. Kaltmamsell als Autorin teilt mit ihren Lesern ihren Alltag mit inzwischen langen schweren Schmerzen.
    Und die Reaktion sind unbegründete Vorwürfe (auf Distanz das Körpergefühl einer unbekannten Person zu bewerten) und billige Angriffe „selbst schuld, du tust ja stets falsch“ als wäre das hier das Dschungelcamp.
    Fremdscham auf neuem Niveau.

    Soviel zu den Kommentaren.

    Zum Text: Danke stets noch fürs Teilen. Ich lese viel und ich hab so noch an keinem anderen Ort eine solche lange Sicht auf einen Krankheits- und Diagnoseweg sowie Leben mit Schmerzen gelesen. Ich lerne. Auch über eigene Reaktionen auf die Schilderungen (der übergriffige Wunsch zu helfen)

  17. die Kaltmamsell meint:

    Wie heißt nochmal das literarische Stilmittel, Hauptschulblues, bei dem der Inhalt genau das Gegenteil von dem sagt, was er behauptet?

  18. Hauptschulblues meint:

    Antiphrasing, Frau Kaltmamsell.

  19. Petra meint:

    Ich glaube, Sie unterschätzen, wie viel man über eine Person erfährt, wenn man über Jahre ihr Tagebuch mitliest. Und noch aussagekräftiger sind die Reaktionen auf die Kommentare von Lesern.

  20. Margarete meint:

    Nu zeigenS doch nit all den treuen Fans nit die kalte Schulter, Frau Kaltmamsell! Um soo verbittert zu sein, sindS doch noch viel zu jung! Für all die unterschiedlichen Menschenkinder brauchts halt nur einen differenzierten, liebevollen Blick.
    Und dann merkenS plötzlich, dass die Fans einfach nur : mit Ihnen leiden…

  21. FrauDoktor meint:

    die Kaltmamsell: Ins Konsil verschoben.

  22. Fujolan meint:

    Nö. Und es ist übergriffig zu meinen, Sie läsen hier länger als andere. Sowohl ggü. mir als auch ggü. der Autorin des Blogs.

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