Journal Dienstag, 18. Februar 2020 – Jahrestag der “Eskimotragödie von München”

Mittwoch, 19. Februar 2020 um 6:10

Bei meinem jüngsten Spaziergang über den Alten Südfriedhof stieß ich auf dieses Grab.

“Ruhestätte
der am 18. Februar 1881
verunglückten Künstler”

(Ruheftätte, hihihi)

Das wollte ich genauer wissen, und so entdeckte ich “die Eskimotragödie von München”. Florian Scheungraber, den ich bei seinen Führungen über den Alten Südfriedhof kennengelernt habe, erzählt in dem verlinkten Artikel die traurige Geschichte von der Faschingsveranstaltung in Kil’s Colosseum im Glockenbachviertel, auf der Kunststudenten für ihren Auftritt im damals größten Vergnügungspalast der Stadt Eisbären- und Eskimokostüme aus Jute, weißer Watte und Schafsfell gebastelt hatten. Auf der Bühne standen auch ein Iglu aus Pappmaché und Eisberge aus Gips und Holz, und sie entzündeten auf einer Tonne eine Talgkerze und brieten Heringe darüber. Unglücklicherweise fing ein Kostüm Feuer, das bald auf andere übergriff. Insgesamt neun Menschen starben, von denen sieben auf dem Alten Südfriedhof beigesetzt wurden. 2015 gab’s zum Jahrestag eine “performative Reinszenierung” von Stefan Lenhart.

§

Eine schlechte Nacht. Nach dem Klogang um halb zwei hielten mich Arbeitsängste wach – diesmal keine, die nur das Unterbewusstsein ohne Vernunftfilter erzeugte, sondern sehr reale, die sich am Montag ergeben hatten. Trotz wattiger Müdigkeit schaltete ich das Licht an und las eine lange Runde, nach der ich wieder einschlafen konnte.

Morgentliche Yoga-Einheit mit viel Hüfte (oder ist Yoga grundsätzlich Hüft-zentriert?) – kein Zusatzdehnen erforderlich. Aber insgesamt belastet mich die gesundheitliche Situation sehr: Die Wahrscheinlichkeit, dass das von selbst wieder weggeht (unterstützt von Gymnastik und Medikamenten) erscheint mir verschwindend. Das ist halt Altersverschleiß in einer Größenordnung, mit der ich noch lang nicht gerechnet hatte. Und ja: Der Hochmut der Bewegungsfreudigen und -tüchtigen spielt dabei eine Rolle.

In der Arbeit ziemliche Konzentrationsprobleme, dennoch etwas weggeschafft. Mittags Laugenzöpferl, Käse, Ernteanteiläpfel. Dank höhenverstellbarem Tisch konnte ich feststellen, dass die Schmerzen im Sitzen anders waren als im Stehen, Gehen war nur langsam trippelnd möglich. Nach der Arbeit ohne Umwege heimgefahren, schnell umgezogen und noch eine halbe Stunde medizinische Hüftgymnastik absolviert.

Herr Kaltmamsell machte aus den letzten Ernteanteilstücken Kohlrabi und Lauch Abendessen, servierte das Gemüse in Sahnesoße und mit rotem Reis. Danach Süßigkeiten.

§

Laurie Pennys Artikel “Is Patriarchy Too Big to Fail?”, den ich vergangene Woche verlinkte, ist jetzt beim “Freitag” in deutscher Übersetzung erschienen:
“Wir sind Geiseln”.

Tatsächlich ist die größte Bedrohung, die vom Liberalismus ausgeht, seine unbeirrbare Annahme, dass „anständige“ Menschen, die alle Fakten kennen, das Richtige tun werden. Präsidenten stehen nicht allein vor Gericht. Die Politik steht neben ihnen auf der Anklagebank, hampelt herum und versucht zu erklären, wie um alles in der Welt das geschehen konnte. Diesmal haben Trumps Verteidiger nicht einmal versucht, so zu tun, als ob er sich nicht mit ausländischen Mächten verbündet hätte, um seinen Wahlkampf zu unterstützen.

(…)

Das Wort „Privileg“ setzt sich aus dem lateinischen „lex“, Recht, und „privus“, gesondert, zusammen. Es meint ein Sonderrecht – man kann die Regeln nach eigenem Gutdünken umformulieren oder schamlos ignorieren. Wo Privilegsysteme robust sind, sind Korruption, Missbrauch und sexuelle Gewalt keine Entgleisungen. Es sind Verstärker. Trump und Weinstein verstanden sich als unantastbar und wurden so behandelt. Die Machtprobe besteht darin, zu schauen, mit wie viel man durchkommt.

(…)

Die Gesetze, die nötig sind, um Trump und Weinstein hinter Gitter zu bringen, sind lange in Kraft und die Beweise leicht hervorzuholen. Was fehlte, war der politische Wille, diese Gesetze durchzusetzen. Männer wie Weinstein und Trump haben herausgefunden, dass neun von zehn Menschen in neun von zehn Fällen wegschauen werden, wenn sie mit einem Laster voller weißen Selbstvertrauens durch die Regeln brettern. Sie schauen nicht weg, weil sie die Regeln nicht mögen, sondern weil sie wollen, dass die Dinge geregelt bleiben.

Die meisten Menschen wollen an der Idee einer gerechten Welt festhalten. Sie wollen glauben, dass das Einverständnis der Regierten immer noch wichtig ist, also versuchen sie, es im Nachhinein zu erteilen. Für sie sind die genannten Verbrechen so gewaltig, dass sie das Sicherheitsgefühl untergraben; so groß, dass sie nicht als Verbrechen gelten dürfen. Das ist eine Art von Unschuld, die wir uns nicht mehr leisten können.

§

Es gibt wieder ein Techniktagebuchbuch!
“Außen WLAN-Symbole, innen Enttäuschung:
Sechs Jahre Techniktagebuch”.

Das Buch enthält 6975 Beiträge von 500 Autorinnen und Autoren. In diesem Jahr wurde es besonders eilig hergestellt und deshalb noch weniger korrekturgelesen als in den Vorjahren. Wenn Sie auf Seite 10.734 einen empörenden, unübersehbaren Fehler finden, liegt das daran, dass Sie ziemlich sicher der erste Mensch sind, der diese Seite betrachtet – ganz wie ein Himmelsbeobachter, der einen neuen Planeten in sein Blickfeld schwimmen sieht!

Der verlinkte Artikel von Kathrin Passig enthält die Möglichkeiten des Downloads – wie bisher schon die unbekürzte Ausgabe als PDF kostenlos, die Best-of-2019-Ausgabe als epub für 2,99 Euro (die Einnahmen spenden wir einvernehmlich ans Internet Archive, weil eine Verteilung an die Autorinnen und Autoren oder sonstwie Investition ins Projekt viel, viel zu umständlich wäre).

die Kaltmamsell

14 Kommentare zu „Journal Dienstag, 18. Februar 2020 – Jahrestag der “Eskimotragödie von München”“

  1. Joriste meint:

    Danke für den Link zu Laurie Penny. Das beschreibt sehr gut mein Ohnmachtsgefühl angesichts der aktuellen Entwicklungen. Ihnen weiter gute Wünsche und Besserung, ich möchte noch einmal sagen, wie sehr ich mich immer noch und wieder über Ihre Rückkehr freue.

  2. Neeva meint:

    Pennys Text ist auch in der Übersetzung gut. Und immerhin wird erst im siebenten Kommentar auf die Verbrechen des männerfeindlichen Feminismus hingewiesen. Was lese ich auch Kommentare zu einem feministischen Text. Argh!

  3. Annegret Mäscher meint:

    Annegret
    Bei dieser alten Schriftart hatte das s so eine
    Form,siehe z.B. Künstler oder Ernst.
    Gruß Annegret.

  4. Nina meint:

    Ach Mensch, Ihre Hüftsituation ist aber auch belastend! Ich nicke Ihnen mitfühlend zu.

  5. Sabine meint:

    Chef’s kiss für den Keats im Techniktagebuch. On First Looking into Chapman’s Homer verdanke ich buchstäblich meinen Job.

    Das mit der Hüfte ist wirklich sehr fies. Die besten Wünsche.

    Grad habe ich endlich mal den Friedrichshainer Wintersalat gemacht, um ihn probezukochen für mein schulisches Let’s cook our way out of the climate crisis-Projekt. Der ist wirklich ausgesprochen lecker und wird hoffentlich auch bei Jugendlichen gut ankommen. Danke für den Link.

    Ich muss gestehen, den Penny-Text hab ich gar nicht erst gelesen, weil die Überschrift und Unterüberschrift meine eigene Einschätzung der Situation zu arg bestätigt. Für mich ist irgendwann der Punkt erreicht, wo ich die klugen Analysen zu all den schlimmen Zuständen der Welt nicht mehr aushalte, weil die mich sonst nachts wachhalten. Lieber bringe ich Jugendlichen bei, fröhlich Hülsenfrüchte zu kochen, damit sie in der Welt, die auf uns zukommt, auch noch was Gutes zu essen haben, oder mühe mich bei der Sohneserziehung, damit er die Schar der Anständigen vermehrt. Man kann ja nicht die ganze Zeit schreiend vor dem inneren Abgrund stehen.

  6. die Kaltmamsell meint:

    Können Sie vielleicht mit mir mitkichern, Annegret Mäscher, wenn ich Ihnen verrate, dass ich bereits mit elf Fraktur lesen konnte? Die Ausgabe des Neuen Testaments meiner Mutter war in Fraktur gesetzt, und damals las ich jedes der spärlichen Bücher in meinem Elternhaus mehrfach und intensiv.

  7. Annegret meint:

    Ja kann ich sehr gut, musste sogar lauthals
    Loslachen das ich darauf reingefallen bin!
    Mit dem Lesen ging es mir in dem Alter genauso.
    Sogar mit der Taschenlampe unter derBettdecke
    Weil ich es manchmal nicht sollte, viel helfen
    Im kleiinen Betrieb war erwünschter!
    Gruß Annegret!

  8. Mareike meint:

    Ich hoffe, es ist eine Zusatzfrage erlaubt: manchmal sehe ich Worte in Fraktur, in denen sowohl das “f”-s als auch “unser” s vorkommen (mir fällt leider gerade kein Beispiel ein). Was hat es damit auf sich?

  9. Verena meint:

    Liebe Mareike,

    Ein bisschen Schlaumeier zur Frakturschrift: das “f”-s wird nur als Binnenbuchstabe verwendet. Das “s”-s hingegen kommt nur als letzer Buchstabe am Wortende hervor.

    Aus der Kombination von “f” und “s” entstand formal auch das Doppel-S also das “ß”. Letzteres ist sozusagen eine Ligatur von fs

    War das verständlich?
    Herzliche Grüße

    und danke für den Yoga-Link. Ich bin seit 10 Tagen emsig dabei und dankbar für diesen Hinweis, liebe Kaltmamsell

  10. Mareike meint:

    Super, vielen Dank für die Erklärung, Verena! Sehr interessant! Noch eine kurze Frage: wenn zwei Wörter zu einem zusammengesetzt werden und das erste endet auf ein s (z. B. Haustür), wird das “s”-s dann auch zu einem “f”-s?

  11. Herr Kaltmamsell meint:

    Aha, Mareike, gut aufgepasst! (Verzeihung, Berufskrankheit.) Ja: Am Anfang und in der Mitte steht das lange s, am Ende steht das kurze s. Nur: am Anfang und Ende wovon? Von Wörtern, aber eben auch von Wortbestandteilen, sagen wir mal vereinfacht: Silben. Deshalb: Haustür und Wirtshaus mit kurzem s, ebenso Bahnhofsvorplatz und loslassen. Lang dagegen: Verwechslung.

    Fremdwörter schreibt man nicht mit Fraktur, aber eingedeutschte schon, sk dann auch mit kurzem s auch in der Silbe: grotesk, brüsk, Obelisk; der Eigenname Jonasson mit kurzem, dann langem s: Jonaf-son.

    In den Duden meiner Studienzeit, die man so aus Langeweile im Büro der studentischen Hilfskräfte gelesen hat, stand das alles sehr ausführlich vorne drin; auch moderne Ausgaben (uh, von 2009) haben noch ein Kapitel “s-Laute im Fraktursatz”. Auch das Kapitel zu Korrekturzeichen war spannend.

  12. Berit meint:

    Ich weiß jetzt nicht was mich mehr begeistert: Der Fakt, dass Sie das wissen oder dass sie es sich über all die Jahre gemerkt haben. Chapeau!

  13. Berit meint:

    Zum hüftkonzentrierten Yoga würde ich eine Theorie in den Raum stellen. Achtung, Faktenlage ist hier sehr dünn also gern einsteigen wenn man mehr Ahnung hat.

    Yoga dient ja u.a. auch der Unterstützung des Meditierens, so dass der geneigte Gläubige körperlich in der Lage ist teilweise stundenlang in einer Position zu verharren und zu beten. Da dies meist im Sitzen geschieht macht es zumindest für mich Sinn dass man sich im Yoga darauf konzentriert, die so verkürzten Muskeln wieder zu dehnen.

    Eventuell kam der Hüftfokus aber auch erst nach der Übertragung des Yoga in den Westen, in dem die angesprochene Zielgruppe hauptsächlich im Sitzen arbeitet und man dann auch dort eine Art Prophylaxe betreiben wollte.

  14. Mareike meint:

    Toll, danke für die spannenden Erläuterungen! Da werde ich meine “alten” wissenschaftlichen Texte nun mit ganz anderen Augen lesen.

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