Journal Dienstag, 4. Oktober 2022 – San Sebastián 20: Letzte Male

Mittwoch, 5. Oktober 2022 um 7:07

Früh aufgestanden, da sich nach einem Aufwachen die Sorgen und Ängste formierten.

Um zehn machte ich mich zur letzten Laufrunde in San Sebastián auf, die Sonne ließ mich wieder zum ärmellosen Oberteil greifen.

Ich spürte die Wanderung des Montags ein wenig in den Beinen, aber nicht sehr. Wieder kroch überallhin vom Meer der Nebel.

Abschied von Chillidas peine del viento.

Abschied von La Concha mit der ikonischem Ballustrade (viele Kneipen haben ein Stück davon als Deko).

Die Promenade gut besucht, darunter etliche Reisegruppen, die klar als Schulklassen erkennbar waren: Die Jugendlichen hatten keinen Blick für die Umgebung, sondern nur für Gesprächspartner*innen live oder auf dem Smartphone. (Ich war selbstverständlich seinerzeit genauso und erinnere mich zu gut an die Mahnung meiner Mutter auf der Autofahrt nach Spanien: “Schau doch raus! Lesen kannst du auch daheim!”)

Nach Duschen (Haarewaschen sehr vorsichtig, weil ich mir beim Wandern den Kopf brutal an einem Baum angehaun hatte – fragen Sie nicht) und Anziehen ging ich auf einen Abschieds-café von leche mit Herrn Kaltmamsell, dann ein wenig Lesen in der Ferienwohnung.

Fürs Mittagessen steuerten wir eine weitere Restaurant-Empfehlung an. Um 14 Uhr war kein Tisch frei, man vertröstete uns auf in einer halben Stunde. Die verbrachten wir auf einem Bankerl am Fischereihafen, doch dann hieß es im Restaurant, für in einer halben Stunde hätten wir reservieren müssen, jetzt sei wieder nichts frei.

Wir versuchten es also im berüchtigten Restaurant La Viña. Es ist ganz offensichtlich komplett Opfer seines Rufs geworden, den besten baskischen Käsekuchen der Welt zu servieren. Nicht nur stand die Straße davor voller Menschen mit Käsekuchen auf Tellern, auch die Bar des Restaurants barst von solchen, außerdem waren alle Flächen des Lokals voller Springformen mit Käsekuchen – bizarr.

Im kleinen Restaurant (auch hier jedes Schrankfach voll Käsekuchen) bekamen wir schnell einen Tisch, mit etwas Mühe (nicht alles auf der übersichtlichen Speise- und Weinkarte gab es tatsächlich) auch ein Mittagessen mit Wein.

Die positive Überraschung: Das Essen war gut. Als Vorspeise hatte Herr Kaltmamsell Fischterrine, ich hatte mit Bacalo gefüllte Pimientos del piquillo, die offensichtlich handgeröstet waren und in Filo-Teig frittiert kamen. Als Hauptgericht einen großes Stück Bacalo a la plancha für Herrn Kaltmamsell, Lammkoteletts mit Pommes für mich. Wein dazu: Ein junger Chardonnay von Enate.

Zum Nachtisch also den weltweit von allen Reiseführern als besten gepriesenen Käsekuchen.

War gut – aber wenn die Kriterien Sahnigkeit und Geschmack sind: Kein Vergleich zu dem, den wir hier dreimal auf dem Mercadillo aus dem Hause Mañeko gekauft haben. Wohin man halt schlecht ganze Reisegruppen schicken kann, zumal der Mercadillo jeden Samstag woanders ist. (Wenn Sie gerade an einem internationalen Reiseführer Baskenland schreiben, könnten Sie allerdings Bussladungen voll zu dem hotel rural 60 Kilometer südwestlich von San Sebastián lotsen, in dem er hergestellt wird.) (Bitte nicht.)

Anschließend und in tagsüber ungewohnt alkoholisiertem Zustand Einkauf von Lebensmitteln zum Heimnehmen nach Deutschland (Supermarkt, Käseladen). Die Stadt war mittlerweile ganz in den Meeresnebel gehüllt, der aber keineswegs kalt machte.

Etwas apokalyptisches Nebel-Einrücken. (Der Wettbericht im Fernsehen nannte den Nebel später calima, das wäre nach Definition der deutschsprachigen Wikipedia ein Sandnebel – würde die fehlende Kühle erklären, aber sandig war nichts. Der spanische Wikipedia-Eintrag definiert calima auch anders.)

Lesen, Kofferpacken, kurz auf ein Salätchen ins Lokal ums Eck, letzte Abstimmungen mit der Vermieterin.

Am Mittwoch also Rückfahrt nach München. Mit dreimal Umsteigen, es könnte spannend werden. (Also ungefähr so spannend wie eine Autofahrt mit all den Mautstationen sowie Stau-Risiken. Oder so spannend wie Flüge mit ihrer Personalknappheit beim Check-in, mit Verspätungen und Ausfällen. Wir reisen morgen mal eben über 1.500 Kilometer – HAMMER!)

§

Seit meinem ersten Besuch vor Jahrzehnten im British Museum amüsiere ich mich darüber, dass ein Museum, das “British” heißt, in erster Linie weltweit Gestohlenes aus anderen Kulturkreisen zeigt. (Im Gegensatz zum “Deutschen” Museum, das mit einheimischer Ingenieurskunst angibt.) Nur dass die Sache mit dem Kulturraub eigentlich überhaupt nicht amüsant ist und erst allerkürzlichst ernsthaft diskutiert wird.

Wie so oft ist es eine Satire-Show, nämlich die von John Oliver, die aus der Absurdität der Situation Komik zieht, die die Verwerflichkeit nachvollziehbar macht. (Gebt die Kulturgüter zurück! Aber presto!)

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https://youtu.be/eJPLiT1kCSM

§

Interview mit Bov Bjerg über den Klassenaspekt seines Werks:
“Bov Bjerg: ‘Die Perspektive von unten ist einfach die interessantere'”.

Wenn von der Klassenfrage in der Gegenwartsliteratur die Rede ist, dann wirst Du zumeist nur am Rande genannt. Dabei spielen Fragen der sozialen Ungleichheit, des Bildungsaufstiegs und der unkomfortablen Position zwischen den Klassen in Deinen Werken seit jeher eine zentrale Rolle. Befremdet es Dich, dass diese Aspekte so ignoriert werden?

Nein, es befremdet mich nicht. Es ist nur folgerichtig. Das Feuilleton ist besetzt mit Journalistinnen, die aus dem Bildungsbürgertum kommen und die können bestimmte Sachen schlecht sehen. Das ist wie eine gewisse Einschränkung, eine Farbenblindheit oder sowas. Ich bin ihnen gar nicht böse. Ich erwarte es auch nicht anders.

(…)

Was kann eine ungleichheitssensible Literatur Deiner Meinung nach überhaupt leisten? Kann sie zu einem emanzipatorischen Klassenbewusstsein beitragen?

Keine Ahnung, ob die Literatur in dem Sinne irgendetwas leisten kann. Sie kann der Leserin zeigen, dass da ein Verbündeter ist. Und vielleicht ist das auch schon alles.

(Guter Mann.)

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Journal Dienstag, 4. Oktober 2022 – San Sebastián 20: Letzte Male“

  1. Danièle Michels ( Die D.) meint:

    Habe die Donostia-Wochen mit Freude lesend mitverfolgt und wünsche euch eine gute, nicht allzu “spannende” Heimreise. War schön mit euch beiden kurz in das französische Baskenland einzutauchen. Gerne wieder!

  2. FrauC meint:

    Danke für das Video!

  3. Beate meint:

    Gute Rückreise! Im Zug ist es doch meistens am entspanntesten …

    Und vielen, vielen Dank fürs virtuelle Mitnehmen ins Baskenland!

  4. Thea meint:

    Gute Heimreise und Danke für die Baskenland-Tour.

  5. Croco meint:

    Jetzt hab ich es: Herr Cillidas hat auch die Skulptur vor dem Bundeskanzleramt geschaffen. Oder hab ich das überlesen bei Dir und bilde mir ein, selbst drauf gekommen zu sein?
    Ein tolles Nebelfoto ist das, danke. Auch für die ganze Reise.
    Eine gute Heimfahrt wünsche ich Euch.

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