Journal Donnerstag, 2. November 2023 – Ampel-Kybernetik und Karsten Dusse, Achtsam morden

Freitag, 3. November 2023 um 6:37

Die Nacht ein wenig zerstückelt, außerdem war der Schlaf zu früh zu Ende.

Auf dem Weg in die Arbeit (trocken, kühl, aber nicht kalt) fiel mir wieder auf, dass ich in letzter Zeit im Stadtverkehr auf vertrauten Strecken besonders viel renne: Um Grünphasen von Fußgängeramplen zu erwischen, von denen ich weiß, dass sie besonders kurz sind, die Rotphasen dazwischen aber besonders lang. Auch ein Symptom von Auto-zentrierter Verkehrsplanung – zumal ich den Verdacht habe (Prüfen durch Forschung erwünscht), dass dieser Rhythmus Fußgänger*innen verstärkt dazu verführt, einfach bei Rot zu kreuzen (es sind alles Übergänge mit reichlich Lücken im Autoverkehr). Weiterer Gedankengang: Worauf basieren die unterschiedlichen Konzepte von Fußgänger-Grün an Straßenkreuzungen? Ich kenne unter anderem aus England die Version, dass alle Fußgängerampeln einer Kreuzung gleichzeitig Grün anzeigen, das habe ich in Deutschland noch nie erlebt. Liest hier eine Ampel-Kybernetikerin mit?

Über den Tag sehr unangenehme Kreuzschmerzen, eigentlich im ganzen Unterleib, gern bemühtes Bild: Das Gefühl, mittendurch zu brechen. (Wenn die Gyn fragt, ob mir mein beachtlich großes Myom Probleme bereitet: “Woher soll ich wissen, ob die Unterleibschmerzen von den LWS-Bandscheiben, von der Hüfte, von Blähungen oder vom Myom herrühren?”)

Mittags holte ich wieder Äpfel auf dem Markt am Georg-Freundorfer-Platz, neben den saftigen Nicoter von der Vorwoche einige Pinova: Dunkles Fruchtfleisch, würzigere Süße – kann ich mir auch gut im Kuchen vorstellen. Mittagessen: Pumpernickel mit Butter, Granatapfelkerne mit Joghurt.

Nach Feierabend nahm ich für Besorgungen eine U-Bahn in die Innenstadt. Ich hatte mich auf einen Spaziergang und Schaufenstergucken gefreut, doch es regnete heftig und ich sah unterm Regenschirm beim Pfützenslalom wenig. Kaufhaus, Eataly, Norma.

Ich kam in eine leere Wohnung heim, Herr Kaltmamsell war verabredet. Häuslichkeiten, Yoga-Gymnastik. Als Abendessen machte ich den frisch geholten Postelein aus Ernteanteil an, wärmte den Rest Linsen mit Pasta vom Vorabend auf. Nachtisch Schokolade.

Achtsam morden von Karsten Dusse ausgelesen – was übrigens physisch ein bisschen anstrengend war: Die aus der Bibliothek heruntergeladene Datei war kaputt, zum einen zeigte sie keinen Lesefortschritt an (blieb immer auf 0%), zum anderen ging sie beim Öffnen nicht auf die zuletzt gelesene Stelle, sondern sprang immer zurück auf die Titelseite. Im musste mir also immer gut merken, welches das zuletzt gelesene Kapitel gewesen war; zum Glück gab es überhaupt Kapitel, diese zum Glück mit gut merkbaren Überschriften, und es gab anfangs ein Inhaltsverzeichnis, von dem aus ich in Kapitel springen konnte.

Bis zuletzt gefiel mir diese mindestens so gut perfide literarische Umsetzung der Achtsamkeits-Mechanismen und -Sprache wie die Tatortreiniger-Folge “Sind Sie sicher?”. Ein Anwalt, der in der Kanzlei, in der er arbeitet, mit großem Aufwand den Mafia-Mandanten betreut, wird von seiner genervten Ehefrau und Mutter seiner kleinen Tochter zum Achtsamkeits-Coach geschickt – und wendet das Gelernte auf seinen Beruf an. Mit tödlichem Ausgang für den Mandanten.

Vom Twitter-originellen Humor der Krimi-Komödie habe ich ja bereits geschwärmt, ich prustete immer wieder unvermittelt. Außerdem macht sich Dusse mit der Stimme seiner Hauptfigur Björn zwar über viele aktuelle gesellschaftliche Erscheinungen in Deutschland lustig, doch ohne sich darüber zu erheben: Der Erzähler ist Teil dieses Blödsinns.

Und ich mochte sehr, wie Figuren beschrieben werden. Zwar gibt es schon auch Klischees, doch dann tauchen auch solche Leute auf:

Sascha war neunundzwanzig Jahre alt. Er war nicht sonderlich groß, aber drahtig gebaut. Er wirkte verschmitzt, verschlagen und immer einen Tacken ungepflegt. Nicht dreckig, aber so, als sei er vor zehn Minuten aus dem Bett gesprungen, würde unter seiner Kleidung noch einen Superhelden-Schlafanzug tragen und müsste sich noch kämmen und die Zähne putzen.

Und ich weiß sofort, was er meint.

Zudem habe ich noch nie eine Folterszene mit so guter komischer Wendung gelesen. Einen gelungenen Auftritt haben auch: Der Schweigefuchs beim Mobster-Treffen, nützliche Drohnen und Kindergartenplätze als die wirkungsvollste Schwarzmarktwährung seit Zigaretten auf dem Berliner Alexanderplatz 1946.

Ich habe schon sehr lang keine so gelungene Unterhaltungsliteratur mehr gelesen.

die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 2. November 2023 – Ampel-Kybernetik und Karsten Dusse, Achtsam morden

  1. southpark meint:

    Versuch in Kreuzberg nicht erfolgreich Berlin stellt Ampel mit Fußgänger-Grün in alle Richtungen ab https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/06/berliner-senat-stellt-ampel-versuch-friedrichstrasse-kochstrasse-ein.html

  2. Saarländerin meint:

    Ja, und auch Dusses Fortsetzungsvarianten seiner Achtsamkeitskrimis sind nicht minder originell und sehr lesenswert. Was für eine wunderbare Zeitgeist-Satire!

  3. Hanna meint:

    In Wuppertal-Vohwinkel, wo ich aufgewachsen bin, kenne ich zumindest eine große Kreuzung, wo es seit vielen Jahren ein Rundum-Grün für Fußgänger gibt. Auch mehrfach bearbeitet, etwa wechselte der Rhythmus von “nach jeder Fahrtrichtung eine Fußgängerphase” zu “erst alle Fahrtrichtungen, dann Fußgänger “, teilweise auch nach Uhrzeit/erwartete Verkehrsdichte unterschiedlich. Es macht sich also jemand Gedanken, es wurde nicht nur aus Versehen in den 70ern eingerichtet und dann nie wieder einen Gedanken daran verschwendet (was sonst eine nicht unübliche Art des Bearbeitens von Sachverhalten in Wuppertal ist)

  4. N. Aunyn meint:

    Pinova sind sehr geeignet für Apfelkuchen und auch Apfelstrudel.

  5. adelhaid meint:

    in meiner stadt gibt es ein büro, an dessen großer wand ein stadtplan mit blinkenden und sich umschaltenden LEDs gibt, die alle ampelanlagen der stadt darstellen. die schaltungen sind unterschiedlich gestaffelt – zu schulbeginn sind die fußgängerzeiten länger als sonst, bei rushhour werden die autoverkehrsströme schnell aus der stadt geleitet, und auf der strecke zwischen bahnhof und universität gibt es eine grüne welle für radfahrende, zu bestimmten zeiten am morgen und abend auch aus der anderen seite der stadt richtung bahnhof.
    in diesem büro arbeitet ein verkehrsingenieur, der mit seinem team für die verkehrslenkung zuständig ist (und eben vor schulbeginn auch vor ort sein muss, damit ggfs defekte ampeln an schulrelevanten stellen schnell repariert bzw umgeschaltet werden können). dort wird auch immer mal wieder was neues ausgetüftelt und implementiert, wie jetzt zb ampeln, die bei regen radfahrern schneller grün geben. und ampeln, die mit wärmebildkameras ausgestattet sind und radfahrern grün geben.
    Besonders schön finde ich die fußgängerampeln, die auch von radfahrenden genutzt werden, und deren tasten recht weit von der ampel selbst an einem pfahl angebracht sind, an dem man als radfahrer vorbei kommt und schon mal drücken kann, bevor man zur straße selbst kommt.
    also – da denkt schon jemand nach.

  6. @lazycuttlefish meint:

    Ich trauere ernsthaft um diese Ampelschaltung in Berlin — ich fand es immer toll, aus der U-Bahn kommend schräg kreuzen zu können statt — im ungünstigen Fall — kurz hintereinander an zwei Ampeln warten zu müssen. Aber in dieser Gegend sind sehr viele Touristen unterwegs (es ist der U-Bahnhof, der unter anderem den Checkpoint Charlie und das Jüdische Museum bedient), denen sich das Konzept offenbar wirklich nicht erschloss, zum Leidwesen der Gewohnheitsnutzer.

  7. Georg meint:

    Ich kenne zwei dieser Ampelschaltungen in Deutschland: Eine aktuelle auf meinem Arbeitsweg. Das ist eine Kreuzung zweier mittelgroßer Straßen, mir ist kein besonderer Grund für diese Schaltung ersichtlich.
    Die andere war früher die Kreuzung Karlsgraben/Ponstraße in Aachen. Die war ganz klar für Fußgänger optimiert, denn sie war sehr stark von Studierenden auf dem Weg zwischen den verschiedenen Unigebäuden frequentiert. Heute ist der Karlsgraben verkehrsberuhigt, ob es noch eine Ampel gibt, weiß ich nicht.

    PS: Vielen Dank fürs Bloggen, ich lese hier sehr gerne mit!

  8. iris meint:

    Endlich mal jemand, die sich auch für das Kreuz- und Quergrün (gemeinsame grüne Ampelphase für alle Fußgänger) ausspricht. Ich würde es mir vor meiner Haustür sehr wünschen. Meinetwegen dürften die Radfahrer mit kreuz und quer fahren, nur halt die Autos nicht. Die fahren jetzt immer ungeduldig an meine Kniekehle ran beim Abbiegen (sie haben gleichzeitig mit den Fußgängern einer Richtung grün).

  9. Lisa meint:

    Mir ist nur eine solche Fußgänger-Ampelanlage bekannt, sie steht in Köln im Stadtteil Nippes, Ecke Kaufhof… warum gerade dort, erschließt sich mir nicht, die Kreuzung ist m.E. nicht höher frequentiert als andere/benachbarte Ampeln… praktisch ist es aber schon.

  10. Isi meint:

    Keine Ampel-Kybernetikerun, aber studierte Verkehrsplanerin (Bauingenieurin). Üblicherweise werden “Ampeln”, richtig heißen sie Lichtsignalanlagen (LSA) in den Grünzeiten nach den auftretenden Verkehrsmengen und räumlichen Verhältnissen (in welcher Zeit kann eine Anzahl y von FG eine x meter-breite Straße mit 4km/h queren und in welcher Entfernung stehen die KfZ dazu (wie schnell räumt der letzte FG, wie lange braucht das erste KfZ bis zur Furt ikl. Sicherheiten) bemessen. Gleiches gilt für den KfZ-Verkehr, also: Wie viele FZ müssen in der relevanten Spitzenstunde über die Kreuzung/Einmündung abgewickelt werden=wieviel Grünzeit brauchen sie pro Umlauf in Abhängikeit von Qualitätsstufen. Dabei ist auf schlechter als D nicht zulässig (Handbuch für die Bemessung von Straßen, HBS 2015?). Die Qualitätsstufen sagen dabei aus, wie gut der Verkehr fließt, bzw. ob und wie gut sich ggf. Rückstaus vor LSA wieder abbauen. Insgesamt ein komplexer, z. T. iterativer Prozess, der einen bestmöglichen Kompromiss unter allen Verkehrsteilnehmern finden muss. Wenn dann die Programme noch dynamisch/verkehrsabhängig eingreifen, wird es noch mal komplizierter, auch im Zusammenhang mit den Knotenpunkten im näheren Umfeld, da sich die Verkehre gegenseitig beeinflussen, innerstädtisch. Zuweilen wird auch der ÖPNV bevorzugt berücksichtigt und eben zunehmend auch offensichtlich der Radverkehr, die Fußgänger:innen haben da meist noch am ehesten das Nachsehen. Konzepte zu Verkehrsgruppen, s. ÖPNV oder Rad, gibt es meistens an besonders stark frequentierten Strecken/Knotenpunkten, für FG daher eher in Innenstadtbereichen (“autofrei”), oder Wohnstraßen (“Spielstraße”). Falls Nachfragen/weiteres Interesse besteht, gerne. Viele Grüße Isi

  11. die Kaltmamsell meint:

    Ganz herzlichen Dank, Isi!

  12. Hauptschulblues meint:

    Das wäre doch was für das Techniktagebuch!

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