Journal Dienstag, 2. Januar 2024 – Granta 165, Deutschland, überrascht und enttäuscht

Mittwoch, 3. Januar 2024 um 6:51

Ich war ja ungeheuer gespannt gewesen auf die Ausgabe 165, Deutschland, schließlich lese ich jede Ausgabe Granta gern, auch wenn mich das Thema sonst überhaupt nicht interessiert. Deshalb dauerte es auch ein paar Texte, bis ich mein Unwohlsein überhaupt zuließ mit der Behandlung eines Themas, mit dem ich mich als Deutsche, die seit 56 Jahren in Deutschland lebt (mit einem Jahr Unterbrechung für Studium in Wales), recht gut auskenne, inklusive regelmäßiger Einblicke in Außensichten in der New York Times, im Spectator, Economist, Guardian.

Es war dann das Interview zum Thema Antisemitismus in Deutschland, dass mich aus der Kurve trug: Georg Prochnik (ein US-amerikanischer Literaturwissenschaftler) interviewt dazu Emily Dische-Becker (deutsche Autorin und Forscherin in forensischer Architektur) sowie Eyal Weizmann (israelischer forensischer Architekt).
“Once Again, Germany Defines Who Is a Jew”.

Nämlich war ich sehr verblüfft (im Sinne von blieb mir die Spucke weg), dass sie sich drei Jüd*innen ausgesucht hatten, eine davon Deutsche, deren Haltung der typisch linken britischen entsprach und die alle erwünschten anti-israelischen Zitate lieferten: Die politische Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland sei nämlich demokratiefeindlich (als Beleg wurde die Einordnung der Organisation Boycott, Divestment, Sanctions – BDS als antisemitisch angeführt), das “Apartheids-System”1 in Israel würde blind unterstützt. Das cherry picking der Zitate-Geber*innen setzte sich bei den wild zusammengestellten Beispielen als Belegen heraus, quer durch die Instanzen. Es hatte fast etwas Lächerliches, wenn es nicht so schlimm gewesen wäre.

Deshalb hier eine jüdische Mainstream-Stimme aus Deutschland, die in diesem Granta Deutschland das Thema besser repräsentiert hätte – die von Ramona Ambs, ebenfalls keine wissenschaftliche Expertin fürs Thema Antisemitismus in Deutschland, sondern eine Schriftstellerin:
“Einstürzende Freundschaften”.

Und eine Stellungnahme des Zentralrats der Juden:
“Zentralrat der Juden: Kulturbetrieb verharmlost BDS-Bewegung”.

Beim Weiterlesen des Magazins vertiefte sich mein Eindruck: Das war wirklich keine liebevolle Perspektive, sondern Bestätigung von offensichtlich lang Vorgefasstem. Zum Beispiel war die einzige erwähnenswerte Großstadt, und das mehrfach, Berlin – dort leben ja auch alle englischsprachigen Expats (die edelste Sorte Ausländer*innen). Nichts an den Texten war wirklich falsch, doch ich diagnostizierte eine ausgesprochen unfreundliche Themenauswahl und Betrachtungsweise, die mich verwundert zurückließ: Wenn die Redaktion Deutschland doof findet, warum dann eine ganze Ausgabe darüber?

§

Ich habe diese Woche noch frei, das ist sehr schön.

Wieder sehr lang geschlafen, das 7-Uhr-Läuten hatte ich wohl einfach in meine Träume eingebaut. Da ich normalzeitig ins Bett gegangen war, überraschte mich dieses späte Aufwachen und brachte meine Pläne durcheinander.

Wäschewaschen, Bloggen, Lektüre der Mastodon-Timeline, Wohnung gründlich durchsaugen (nach drei Wochen ohne Putzhilfe wurde es ungemütlich) vor meiner Schwimmrunde dauerten so lange, dass ich nach einer Radfahrt durch erstes Tröpfeln ins Olympiabad erst kurz vor zwölf ins Becken glitt.

Dort schwamm ich gut meine 3.000 Meter zwischen wenigen anderen auf der Bahn (es ist SO! schön, dabei nicht mehr frösteln zu müssen). Auf den Rückweg (mit ganz wenigen Nieseltropfen) hatte ich ausgiebige Einkäufe beim Vollcorner gelegt, zu meiner kompletten Überraschung konnte ich dort nicht den Posten “kleiner Hokkaido” fürs Abendessen abhaken, weil nur zwei Riesen-Oschis angeboten wurden.

Daheim schnell ausgeräumt, um drei einen Apfel und selbstgebackenes Brot gefrühstückt. Dann machte ich mich stadtfein, um in der Fußgängerzone Kleidung einzukaufen. Ich hatte nämlich in einem Berliner Marc O’Polo-Laden ums Eck vom Hotel reduzierte blaue Winter-Patentpullis gesehen und es für bescheuert gehalten, dort einen zu kaufen, wenn ich wenige Minuten von daheim auch solche Läden habe. Gestern fand ich heraus, dass das ein Fehler gewesen war: Weder der Laden in der Sendlinger noch der in der Theatinerstraße hatten genau diesen Pulli. (Nein, auch nicht online, zurück daheim checkte ich das sofort.)

Da die Fußgängerzone gestern erstaunlich voll war, guckte ich auch nicht wie geplant nach Abendgarderobe, sondern verschob das auf den nächsten Anlass einer solchen. Dafür bekam ich bei einem Edeka den gewünschten Hokkaido.

Zurück daheim erste Handgriffe fürs Abendessen, das durfte nämlich ich zubereiten, damit ich das Kochen nicht ganz verlerne: Kürbis-Ricotta-Quiche.

Nachtisch selbst gebackener Stollen, auf den ich richtig Lust hatte – jahreszeitlich und lokal können wir.

Trotz langem Ausschlafen war mir früh schwindelig vor Müdigkeit und ich torkelte (wirklich) ins Bett. Vielleicht brüte ich doch was aus.

§

Ein wenig Optimismus für die Zukunft des Internets (das die Jungen ja gar nicht mehr kennen, so selbstverständlich ist ihnen/uns das Online, zurecht sprechen sie nur von dessen Teilbereichen und Funktionen): Im Rolling Stone erinnert Anil Dash daran, dass es die jetzige Zersplitterung von Plattformen und Gruppen schon mal gab, nämlich vor 25 Jahren und vor Twitter und Facebook.
“The Internet Is About to Get Weird Again”.

This hearkens back to that surprising, and delightful, discovery that often underpinned the internet of a generation ago — sometimes the entire platform you were using to talk to others was just being run by one, passionate person. We’re seeing the biggest return to that human-run, personal-scale web that we’ve witnessed since the turn of the millennium, with enough momentum that it’s likely that 2024 is the first year since then that many people have the experience of making a new connection or seeing something go viral on a platform that’s being run by a regular person instead of a commercial entity. It’s going to make a lot of new things possible.

(Nur dass die Welt der Online-Kommunikation heute eine komplett andere ist, unter anderem mit so viel mehr und heterogeneren Nutzer*innen – eigentlich hoch willkommen, doch die allerallermeisten wollen eben nicht selbst aktiv sein.)

  1. Falls Sie mal nachsehen wollen, was Apartheid tatsächlich ist. []
die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Journal Dienstag, 2. Januar 2024 – Granta 165, Deutschland, überrascht und enttäuscht“

  1. Elisa meint:

    Liebe Frau Kaltmamsell, ich kann gerne den Pullover im Berliner Laden für Sie besorgen.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Das ist ein sehr großzügiges Angebot, Elisa, vielen Dank. Diesen Aufwand ist mir der Pullover aber doch nicht wert.

  3. Dietrich Renate meint:

    Ja , da könnte man überlegen, ob es elastische Kurven gibt

  4. Anne meint:

    Hallo Frau Kaltmamsell,
    In der SZ am Wochenende war ein Interview mit dem Granta Chefredakteur zur deutschen Gegenwartsliteratur, vielleicht haben Sie es auch gelesen.
    Fand es ganz interessant zu lesen, habe aber selbst bisschen zu wenig Ahnung um ihm zuzustimmen oder zu widersprechen

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