Journal Freitag, 1. März 2024 – Kurze Haare und Ursula Krechel, Landgericht
Samstag, 2. März 2024 um 8:41Bis drei gut geschlafen, nach Klogang dann nicht mehr so.
Das Schlafzimmerfenster schloss ich morgens zu mitteldickem Nebel, keine guten Aussichten aufs Tageswetter.
Bei der Morgentoilette säuberte ich meine Ohren innen und außen besonders sorgfältig: Ich hatte abends einen Friseurtermin, hoffte auf freigeschnittene Ohren und wollte nicht, dass der Friseur sich grausen musste.
Also wieder ein hochneblig kalter Start, Büroarbeit im Wolljanker. Zumindest war der Aufgabendruck nicht mehr so hoch wie in den Tagen zuvor, kein Stress.
Mittagscappuccino im Westend, unterwegs eine unerwartete Begegnung.
Erneute Trauer und Wehmut um das Fräulein. Wie konnte etwas, jemand sich nur so furchtbar verirren. Diese schreckliche Vergeudung von Begabung für so Vieles.
Mittagessen zurück am Schreibtisch: Pumpernickel mit Butter, Orangen.
Pünktlicher Feierabend weil Friseurtermin. Dieser Herr, dem ich freie Hand ließ (“alles außer Farbe”), gab sich besonders viel Mühe, die Haaransätze im Nacken und vor den Ohren verschwinden zu lassen, “da sieht man nicht, wo das Haar anfängt”.
Ich war mit dem Ergebnis zufrieden.
Freitäglich festliches Nachtmahl: Guacamole aus den restlichen Crowdfarming-Avacados (Herr Kaltmamsell), riesige Artischocken mit Knoblauchmajo (von mir), dazu zwei verschiedene Weißbrote aus der Balkanbäckerei (ein besonders schweres, saftiges Fladenbrot sowie ein klassischer heller Laib, ebenfalls besonders saftig – beide sehr gut), als Wein italienischer Pecorino. Wir aßen sehr gut, Nachtisch Süßigkeiten.
Oktoberfestflucht nach Mallorca endgültig gebucht, jetzt geht’s an An- und Abreise.
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Ursula Krechel, Landgericht. Im Mittelpunkt des 2012 erschienenen Romans steht Richard Kornitzer. Er kehrt 1947 aus dem Exil nach Deutschland zurück, war von den Nazis als Jude von seinem Beruf als Richter in Berlin ausgeschlossen worden. Am Bodensee trifft er sich nach zehn Jahren Trennung mit seiner Frau Claire, sucht nach einem neuen Leben, das ihn zu einem neuen Richteramt in Mainz bringt. Das Buch schildert, wie sehr nichts wiedergutzumachen ist.
Von Anfang an faszinierten mich die Sprache und der Duktus des Romans: Sie lesen sich aus der Zeit gefallen, aber in die Zeit, in der die Handlung spielt. Sehr heutige Perspektiven und Erkenntnisse in einer Sprache, die ich von Romanen der 1920er und 1930er kenne (z.B. von Grete Weil). Diese Mischung gefiel mir ganz ausgezeichnet.
Claire und Richard Kornitzer hatten Meinungen und Vorstellungen ausgetauscht, die sich entwickelt hatten in der Zeit ohne den Ehepartner, sie waren besorgt, wenn diese sich nicht miteinander in Übereeinstimmung bringen ließen. Sie hatten mit Empfindungen und Worten wie mit Schneckenfühlern aufeinander zu getastet, und wenn die Worte sich nicht erreichten, schwiegen sie, um den jeweils anderen nicht zu verletzen.
Als die Handlung sich nach Mainz verlagert, fand ich seltsam, dass ich noch nie eine so detaillierte Schilderung einer zerbombten Stadt gelesen hatte. Die zeitgenössischen Geschichte, ich denke an Heinrich Böll, gingen wohl davon aus, dass jeder eh die Details zerbombter Städte vor Augen hatte.
Nur der Satz “Es sah aus wie die Kulisse eines Filmes, der morgen im hellen Licht gedreht werden würde.” verrät die Sicht der Erzählinstanz aus dem Abstand vieler Jahrzehnte (in denen man solche Szenerien nur aus Filmen kennt).((Herr Kaltmamsell wies mich auf die Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert hin, für die das Szenario der zerbomten Stadt und der Kriegs- und Nachkriegsnot in Deutschland typisch ist, zum Beispiel “Nachts schlafen die Ratten doch” – mein Eindruck ist wahrscheinlich einfach Unkenntnis geschuldet.))
Gegen Ende der ersten Buchhälfte wechselt der Roman in eine Außenschilderung des Paares Anfang der 1930er, also vor der Machtergreifung, vor Richards Berufsverbot als Jurist. Und jetzt zieht die Erzählstimme explizite Vergleiche zu späteren Ereignissen, bis in die 1990er. Danach erfahren wir die Geschichte von Kornitzers Exil in Kuba, farbig und lebendig. Was Claire in dieser Zeit in Deutschland widerfahren ist, ergibt sich nur vage und indirekt aus Bruchstücken.
Im letzten Viertel wechselt Krechel dann das Genre: Aus dem Roman wird historisches Feuilleton. Ich ging einem Verdacht nach: Ja, die Geschichte des Buches basiert auf einer realen Akte eines realen Landgerichtsrats, die Krechel gefunden hat (Quelle) – soll sein, soll sein. Doch gegen Ende besteht die Handlung hauptsächlich aus Zitaten schriftlicher Quellen, aus Briefen, Aktenvermerken, Amtsberichten. Diese werden verknüpft durch spekulatives Psychologisieren darüber, was im Protagonisten vorgegangen sein mag, was ihn wohl zu diesen Schriftwechseln motivierte.
Es bleibt das Bild eines Menschen, der sich als junger alles gefallen ließ und jetzt im Alter verbissen und unnachgiebig mit den Waffen der Bürokratie und des Gesetzes kämpft, eine erbärmliche Gestalt.
Insgesamt gefiel mir Krechels Mischung von imagnierter Handlung und staubiger Bürokratie: Sie macht eine bestimmte Zeit deutscher Geschichte auf eigenwillige Weise lebendig.
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Chris Kurbjuhn erinnert sich an seine erste Berühung mit aktiver Politik in den 1970ern und an die Erkenntnisse, die ihn bis heute prägen:
“Kopfwäsche von Herrn Flach”.
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Eine gute Nachricht, die mir fast durchgerutscht wäre:
“Forscher: Dürre hat sich bundesweit aufgelöst”.
10 Kommentare zu „Journal Freitag, 1. März 2024 – Kurze Haare und Ursula Krechel, Landgericht“
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2. März 2024 um 9:47
Frau Kaltmamsell, Sie schaun SEHR fesch aus!
Die Verfilmung des Romans “Landgericht” lief kürzlich im ZDF (glaube ich).
2. März 2024 um 9:54
Liebe es sehr, wenn ein schöner Hinterkopf so schön betont wird.
2. März 2024 um 10:39
Darf ich fragen, was es mit dem “Fräulein” auf sich hat?
Ist mir gestern auch an anderer Stelle begegnet.
2. März 2024 um 10:47
Oh, die Bemerkung des Fräuleins wegen macht auch mich traurig.
2. März 2024 um 10:59
Ich bin immer erstaunt, wie traurig mich die Erwähnung des Fräuleins macht. Ich kannte sie nicht persönlich. Aber ihre Art zu schreiben, wie sie ihre Geschichten erzählte, hat mich tief berührt. Ich lese noch heute manchmal im Archiv nach und weine dann über diesen wunderbaren Sätzen.
2. März 2024 um 11:11
@Thea Googeln Sie „Read on my dear, read on“ oder „Marie Sophie Hingst“.
2. März 2024 um 11:11
Ich hatte mir das Büchlein des Fräuleins nach Erscheinen sofort erworben und es liegt noch immer gut sichtbar auf meinem Bücherstapel. Denn das war eine wirklich verblüffende Idee und wird von ihr und ihrem ansonsten sehr sensiblen, aber “zu kreativen” Ideenreichtum bleiben.
Mehr will ich dazu lieber nicht sagen.
Perfekte Frisur, umgesetzt von einem Meister seines Faches!
2. März 2024 um 18:12
Ich kannte das Fräulein nicht persönlich, aber das Nachdenken und die Trauer hören nicht auf.
2. März 2024 um 23:17
An die Kunstgeschichte als Brotbelag erinnere ich mich sehr gern. Ansonsten ist es einfach nur traurig und tragisch mit dem Fräulein.
Es gab keine MachtERGREIFUNG. Er hat sie ganz im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten bekommen.
3. März 2024 um 12:32
Zur Diskussion um den Begriff “Machtergreifung” und seine möglichen Alternativen hat die Bildungsstätte Anne Frank kürzlich (anlässlich des 81. Jahrestages der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler) einen kleinen Thread auf Mastodon gepostet, vielleicht ganz erhellend:
https://hessen.social/@BSAnneFrank/111844305845111090
Etwas ausführlicher auch auf Instagram:
https://www.instagram.com/p/C2t_bxIsd2f/?igsh=MWhkeWZybGs0N2U5Nw==