Journal Samstag, 25. Mai 2024 – Berlin 1, die lange Anreise und der georgische Abend
Sonntag, 26. Mai 2024 um 9:01Mittelgut geschlafen, ein paar Mal mit seltsamen heftigen Rückenschmerzen auf Brustwirbelsäulenhöhe fast aufgewacht, jedenfalls genug um mich zu fragen, ob sich so ein Herzinfarkt anfühlt. Morgens war alles weg.
Gemütlicher Morgen, da unser Zug nach Berlin erst kurz vor zehn losfuhr. Ein wenig zu gemütlich, ich kam dann doch in Hektik beim abschließenden Kofferpacken.
Nach nicht mal zwei Stunden ICE-Fahrt kam bei Nürnberg die Durchsage der freundlichen und aufmerksamen Zugchefin: „Wegen eines Notarzteinsatzes am Gleis“ müsse ein großer Umweg gefahren werden, Ankunft am nächsten planmäßigen Halt Bamberg zwei Stunden später. Nun, dachte ich, dann spiele ich auch mal das Online-Fahrgastrechte-Formular durch. Ich holte mir erstmal im Speisewagen einen Mittagscappuccino (erstaunlich ok), wo sich vor der Theke bereits eine lange Schlange zu bilden begann.
Und so fuhren wir unter buntwolkigem Himmel in satt grüner Landschaft nach Würzburg, wechselten die Richtung, fuhren auf dem Gleis, auf dem im Foto oben ein anderer ICE steht, weiter über Schweinfurt nach Bamberg. Stimmung ausgeglichen, sowohl Herr Kaltmamsell als auch ich hatten genug zu lesen dabei, Brotzeit um halb zwei war ein mitgebrachter Apfel und Pumpernickel mit Butter.
Zudem meldete sich die Vermieterin unserer Ferienwohnung: Diese würde wegen zu spät ausgezogener Vormieter erst später fertig, traf sich also eigentlich alles gut. Ich las die diesmal sehr interessante Wochenend-Süddeutsche, freute mich unter anderem über die schöne Geschichte zur EU auf der Seite Drei (“Können Sie mir Europa erklären?” €):
Man kann die EU alles fragen, ab morgens um acht. Ein Leichtes, sie zu finden, sogar in Furth im Wald. Hinein also ins Rathaus, durch das eiserne Gatter. Blaue Stühle weisen den Weg, europablau, vorbei am Bürgerbüro und am Gewerbeamt, am Trauzimmer und der Friedhofsverwaltung. Dem Blau nach bis ganz hinten, Zimmer 14. Dort sitzt Karin Stelzer schon an ihrem Besprechungstisch. Hat Kaffee gemacht und ihr Schild aufgestellt: Herzlich willkommen im Europabüro.
Die EU, so geht eines der Klischees, ist schwer greifbar. Brüssel, die Europäische Kommission, ein Labyrinth aus Bürokratie. Dabei brauchen die Leute nur hereinzukommen. Jeden Morgen sitzt Karin Stelzer hier. Harrt der Fragen, die die Menschen an die Europäische Union haben. Vielleicht etwas in dieser Art: Wofür braucht’s die EU eigentlich, Frau Stelzer? Da lächelt sie und sagt: „Was wäre denn, wenn wir sie nicht hätten?“
Mit Herrn Kaltmamsell erinnerte ich mich an Zeiten einer viel kleineren damals noch EWG, zu der zum Beispiel Spanien nicht gehörte – mir will einfach nicht einfallen, warum man sich diese Zeiten zurückwünschen könnte, gar eine ganz ohne EU. Wobei es sehr viele Aspekte gibt, in denen sie meiner Meinunung nach weiterentwickelt und verbessert werden muss, unbenommen. (Gehen Sie bitte am 9. Juni wählen.)
Wir erreichten Berlin Hauptbahnhof fast zwei Stunden später als geplant, allerdings trafen wir in unserer Wohnung in Charlottenburg eine immer noch hektisch reinigende und sehr freundliche junge Frau an, die uns auf eine weitere halbe Stunde vertröstete.
Also trieben wir uns ein wenig um Savignyplatz und Ku’damm herum, kauften Lebensmittel für die komplett Lebensmittel-freie Ferienwohnungsküche (wir hatten schnell gecheckt) ein, also selbst Salz und Zucker. Es war sonnig und deutlich wärmer als in den vergangenen Tagen in München, und die Linden dufteten hier bereits intensiv.
Dann endlich richteten wir uns in der Ferienwohnung ein, ein gründliches Durchsuchen aller, aller (sehr schicker) Schränke brachte uns zu dem Zettelchen mit den handschriftlichen WLAN-Zugangsdaten, jetzt waren wir angekommen. (Und konnten gleich mal online das Fahrgastrechte-Formular bei der Bahn einreichen.)
Zum Abendessen waren wir mit einer Berliner Blogfreundin verabredet, ich hatte mir das georgische Salhino erbeten (in dem ich schon vergangenen Herbst gegessen hatte und das ich Herrn Kaltmamsell zeigen wollte). Auf dem Weg dorthin verwechselte ich auf dem Stadtplan (Google Maps) einmal so gründlich links und rechts, dass wir uns verliefen und zu spät kamen – ich hoffe, das ist nicht auch das Alter.
Große Wiedersehensfreude, viele neue Geschichten, köstliches georgisches Essen, Amphorenwein.
Von oben: Hühnerfleischstücke in Walnusssauce (kalt), in der Mitte Spinat-, Rote-Beete-, Auberginenvorspeisen, unten Khachapuri – mein georgischer Liebling mit Käsefüllung. Wir teilten uns auch noch Khinkali (gefüllte gedämpfte Teitaschen) und Geflügelleber in einer sehr dunkel eingeschmurgelten Tomatensauce. Zum Nachtisch ließ sich Herr Kaltmamsell die Torte Tapluri empfehlen und war sehr angetan.
Während unserer Genüsse hatten mehrere Wolkenbrüche mit Gewitter herabgeregnet, als wir hinaus auf die nächtliche Straße traten, atmete sich die Luft wunderbar. Auf bereits wieder trockenen Straßen gingen wir zu unserer Ferienwohnung, in diesem Teil Berlins schlossen die Lokale auch Samstagnacht wie in München vor elf.
§
Wer in den vergangenen Wochen nicht unter einem Stein gelebt hat, musste die Medien-Welle mitbekommen, die durch eine scheinbar einfache Frage an ganz viele Frauen entstand: Würdest du im Wald lieber mit einem Bären festsitzen oder mit einem Mann? Sieben von acht Frauen entschieden sich für den Bären. Und davon fühlten sich wiederum sehr viele Männer beleidigt.
Die klügste Analyse des ganzen Sachverhalts las ich gestern von einer Frau, die sich immer wieder buchstäblich gegen Männer und für Bären entscheidet – nämlich indem sie mit dem Fahrrad durch die Wildnis reist: Laura Killingbeck.
“A Woman Who Left Society to Live With Bears Weighs in on ‘Man or Bear'”.
There is nothing wrong with men. Men are lovable people with the same capacity for empathy, agency, and growth as any other human on the gender spectrum. But when men are socialized to identify their humanness as masculinity and to associate masculinity with power, we get some real problems. These are the problems of patriarchy.
Patriarchy is often defined as a social system that is male-identified, male-dominated, and male-centered. It depends on a heteronormative gender binary that serves to divide and outsource human traits to different halves of the population.
In patriarchal societies, human traits associated with power and control are outsourced to men: domination, assertiveness, independence, decisiveness, and ambition are called masculine, and men are expected to conform to masculine traits.
(…)
The central reason why fewer women travel alone is our fear of male violence and sexual assault. Actually, the most common question I get about my travels is some version of, “Aren’t you afraid to bike/hike/travel alone as a woman?” By naming my gender, the implication is clear. What people really mean is, “Aren’t you afraid of men?”
Laura Killingbeck schreibt (meine Übersetzung): Der Hauptgrund, warum weniger Frauen allein reisen als Männer, ist unsere Angst vor männlicher Gewalt und sexuellen Angriffen. Das ist tatsächlich die häufigste Frage, die mir in verschiedener Form über meine Reisen gestellt wird: “Hast du keine Angst, allein als Frau zur radeln/wandern/reisen?” Die Erwähnung meines Geschlechts macht klar, was die Leute eigentlich meinen: “Hast du keine Angst vor Männern?”
Allermeistens nicht, antwortet sie und geht dann auch hier in Details, die jede Frau kennt, die aber vielen nicht bewusst sind:
When I’m alone in the backcountry and come across a man, I feel a very low level of vigilance. Depending on the situation, I might even be happy to see him. He’s a fellow human! Maybe we’ll be friends! I’m likely to smile genuinely and say hello.
I don’t feel afraid, but I am aware. As we chat, my intuition absorbs a thousand things at once. His body language. His tone. How he looks at me and interacts. Most of the time, this produces an increased sense of security. Most men are friendly, respect my boundaries, and don’t want to hurt me. Most of the time, I feel very safe around men.
But not all the time. Sometimes, my intuition absorbs things that increase my level of vigilance. My awareness shifts into closer observation, and I look for signs of danger. Nothing is wrong, but it could go wrong very quickly.
It could be something he says. Maybe he makes a comment about my body or my appearance. Or he asks if I’m carrying a weapon and then presses for details about where I’m camping that night. Sometimes, it’s a shift in his tone, a leer, the way he puts his body in my space. But, usually, it’s a combination of things, a totality of behaviors that add up to a singular reality: this man is either not aware that he’s making me uncomfortable, or he doesn’t care. Either way, this is the danger zone. Even if he has no intention of harming me, the outcome of that intention is no longer possible for me to assess or predict.
In this moment, my mind snaps into a single, crystalline point of focus. My intuition rises to the surface of my skin. I become a creature of exquisite perception. The world is a matrix of emotional data: visceral, clear, direct.
I need to get away from the man. But I need to do it in a way that doesn’t anger him. This is the tricky bit. Men who lack social awareness or empathy often also lack other skills in emotional management. And usually, what men in these situations actually want is closeness. They’re trying to get closer to me, physically or emotionally, in the only way they know how. That combination of poor emotional skillsets and a desire to get closer is exactly what puts me in danger.
If I deny his attempts at closeness by leaving or setting a boundary, he could feel frustrated, rejected, or ashamed. If he doesn’t know how to recognize or manage those feelings, he’s likely to experience them as anger. And then I’m a solo woman stuck in a forest with an angry man, which is exactly what women are most afraid of.
There’s no time to think, so I operate on instinct. My task is ridiculously complex. I need to deescalate any signs of aggression, guide the man into a state of emotional balance, and exit the situation safely, all at once. This process requires all of my attention, energy, and intellect. It’s really hard.
I’ve been in this position so many times that it exhausts me just to write about it. Sometimes, it’s not that I’m afraid of men; I’m just really, really tired.
Das erklärt auch die wütenden Reaktionen mancher Männer auf die Bär-oder-Mann-Frage:
die KaltmamsellIt’s frustrating when you don’t know how to get that closeness. And it’s lonely. The angry men in this debate are very lonely men.
8 Kommentare zu „Journal Samstag, 25. Mai 2024 – Berlin 1, die lange Anreise und der georgische Abend“
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26. Mai 2024 um 9:52
Ach wie schön, ihr beide seid schon da.
Ich reise erst heue Abend sehr spät an.
Das georgische Restaurant steht auch auf meinem Plan.
Wir sehen uns am Montag.
26. Mai 2024 um 10:11
Vielen Dank für den Hinweis auf die sehr klugen Überlegungen zur Bär/Mann-Frage und viel Spaß in Berlin!
26. Mai 2024 um 10:12
Willkommen in Berlin!
Ich hoffe, Sie haben schöne und spannende Tage.
26. Mai 2024 um 11:02
Willkommen in Berlin. Herzliche Grüße aus Charlottenburg.
Viel Vergnügen, wo und mit wem auch immer.
26. Mai 2024 um 11:05
hallo, herzlich willkommen unter lindendüften. wir laufen uns über den weg, denke ich. mal sehen, ob wir zufällig auch ein bisschen zeit finden.
26. Mai 2024 um 19:33
Oh ja, Joël, engl, das würde mich sehr freuen!
27. Mai 2024 um 9:19
Danke für den Link zu Laura Killingbeck, selten einen so treffenden Text zu dem Thema gelesen.
27. Mai 2024 um 14:46
So rührend, dass man bei der Deutsche Bahn immer die Möglichkeit bekommt, ein Erinnerungsfoto seines ICEs zu machen – in voller Länge!