Journal Freitag, 13. Juni 2025 – Abend im Dantler / Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen

Samstag, 14. Juni 2025 um 8:27

Zu früher Wecker, ich hatte gerade besonders schön geträumt. Aber mir fiel gleich meine Abendverabredung mit Herrn Kaltmamsell ein und munterte mich auf: Dieser Freitagabend sollte im Dantler gefeiert werden. Draußen der vorhergesagte Sommermorgen mit herrlichem Licht.

Marsch in die Arbeit in Morgenfrische und leichtem Lindenduft, in der Arbeit ordentlich Arbeit.

Auf auf dem Weg zu meinem Mittagscappuccino war es lediglich angenehm warm, wieder genoss ich die Luft.

Zu Mittag gab es reichlich Aprikosen, außerdem restliche Nektarinen und Flachpfirsiche, davor eine Hand voll gemischte Nüsse als magenschonende Unterlage (klappte nur ein bisschen). Für Freitagnachmittag war es dann auf meinem Schreibtisch überraschend emsig, doch ich kam pünktlich wie geplant in den Feierabend.

Linden-Party an der Heimeranstraße.

Nach Hause ging ich über einen Umweg in der Innenstadt für Komplettierung Geburtstagsgeschenke, am Samstag sind wir bei meiner Familie zu Geburtstagskaffeeundkuchen eingeladen.

Daheim kurzer Schuh-Wechsel: Ich nutzte die Gelegenheit, die edlen Hochzeitsschuhe vom Vorjahr auszuführen.

Nach Obergiesing zum Dantler nahmen wir die Tram statt die U-Bahn, um mehr vom Sommerabend mitzubekommen: Die Isarauen bunt vor Menschen, den Giesinger Berg rauf jede Kneipenmöglichkeit genutzt.

Im Restaurant wurden wir herzlich begrüßt. Da ich mich auf die Weinbegleitung zum Menü freute, ließ ich mir lieber einen alkoholfreien Aperitif mixen: Schön herb mit Grapefruit und Bitter Lemon, Herr Kaltmamsell hatte einen mit Hollunder.

Und dann begann das große Schlemmen.

Salade mediterranée mit Artischocke, angeschmorten Datteltomaten, herzhafter Ricotta und Basilikum – das wurde gleich mal mein Lieblingsgang. Dazu gab es einen ganz jungen Gelben Muskateller Zweytick aus der Steiermark, überraschend herb.

DIE KAROTTE (muss immer dabei sein) kam diesmal gegrillt mit Salzzitrone und Zitronenverbene. Im Glas der letzte spontanvergorene Giesinger Berg von Claus Preisinger aus Gols – wir erfuhren, dass es auch einen Nachvolger geben wird.

Auch den optionalen Zwischengang wollten wir: Seeforelle mit Teriyaki, Senfsaat und Sesam – ganz hervorragend, und die Begleitung durch einen Grauburgunder Dreißigacker aus Rheinhessen zauberte zusätzliche Geschmacksnoten hervor.

Forelle in Mandelbutter kross gebraten mit Radi und Gingerbeer-Sud, dazu einen weiteren “Giesinger Berg”, aber als Weiß- und Grauburgunder-Cuvée von Zweytick.

Zum Onglet mit Spargel gab es einen interessanten Lagrein Riserva Cantina Terlan aus Südtirol.

Als Pre-Dessert wie immer im Mini-Weizenglaserl und mit Brause-Körndln drauf: Erdbeere.

Weiße Schokolade, Himbeere, Mandeleis – ganz wunderbar. Der Wein dazu passte nicht recht, war aber für sich ein Knaller: Riesling Kabinett “Limestone” von Keller aus Rheinhessen – kaum Restsüße, mit prickliger Säure. Wir überlegten mit Wirt Jochen Kreppel, womit man ihn noch kombinieren könnte, Jochen kam auf den wahrscheinlich besten Vorschlag: Leberwurst. Würde ich definitiv probieren.

Auf Espresso hatten wir beide keine Lust, ließen uns statt dessen Vogelbeerschnaps einschenken.

Spaziergang zurück zur Tram durch warme Sommernacht, statt zehn Minuten zu warten spazierten wir auch den Giesinger BergNockherberg runter zum Halt Mariahilfplatz, überall nächtliches Feiervolk, die Nacht genießend.

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Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen

Wieder ein Roman über eine türkische Gastarbeiterfamilie aus der Perspektive der zweiten Generation, und wieder ganz anders als alle, die ich bislang gelesen habe.

Hier sind wir in einer deutschen Industriearbeitergegend, Opel-Land. Der Vater ist ein verantwortungsloser Hallodri, der sich ständig in neue “Geschäfte” stürzt, die alle kein Geld abwerfen, sondern die Familie immer höher verschulden. Um sie zu ernähren, geht die Mutter Fatma in die Fabrik arbeiten, und um die Schulden abzuzahlen, nimmt sie einen zweiten Job als Erntehelferin an, organisiert unter den türkischen Einwanderinnen mit ähnlich nichtsnutzigen Ehemännern einen richtigen Erntehilfe-Trupp – natürlich ohne Arbeitnehmerinnenrechte zu kennen und in entsprechend ausbeuterischen Umständen.

Doch wer kümmert sich um die Kinder, ihre beiden kleinen Söhne, nach denen sie sich so sehr und so lange gesehnt hatte? Ihre alte Mutter wird aus der Türkei geholt, um auf die beiden aufzupassen, während Fatma Geld verdient. Ich hatte sofort die alten türkischen Frauen vor Augen, über die im Ingolstädter Arbeiterviertel meiner Kindheit am hässlichsten gelästert wurde: Offensichtlich bäuerlicher Herkunft, für einheimische Augen schlampig gekleidet, sprachen kein Wort Deutsch, konnten weder lesen noch schreiben – doch hatten sie sich sicher nicht ausgesucht, in kompletter Fremde zu leben, ohne Kontaktmöglichkeiten. Sie kamen halt wie ihr ganzes Leben zuvor ihrer Pflicht nach, weil jemand auf die Kinder aufpassen musste. Pflichtbewusstsein wie Queen Elizabeth II, die sich ihren Lebensweg auch nicht ausgesucht hat, show some respect!

Dann wieder tauchen im Roman bekannte Umstände auf: Das Gastarbeiterkind, das im Kindergarten sein erstes Deutsch lernt – und fortan von den Erwachsenen überallhin als Dolmetscher mitgenommen wird (“wie eine Aldi-Tüte mitgeschleppt”). Oder der Druck, in der Heimat als erfolgreich dazustehen – mit Geschenken und Geschichten.

Aber diese Zusammenfassung wird dem Buch nicht gerecht. Die faktische Handlung und Geschichte ergibt sich nämlich aus einer Vielzahl von Einzelteilen in kurzen Texten, mal aus der Perspektive von Fatma, mal aus der ihres Sohnes, mal als Geschichte, dann als Lamento, als Gedicht, als Lied. Dazu kommen Fotos aus dem Familienalbum.

Am meisten erfahren wir über die Personen nicht aus Selbstaussagen, sondern aus denen übereinander. Von Fatmas Lieblingsschauspielerin erzählt Dinçers, wie in sich gekehrt Dinçer ist, beschreibt seine Mutter – die unter anderem deshalb enttäuscht von ihm ist und fürchtet, er würde wie sein Vater; dabei ist irrelevant, dass er schon als Kind aus eigenem Antrieb zum Lebensunterhalt der Familie Geld verdiente. Die ewige Tragödie von Kindern, die einfach nicht sind, wie ihre Eltern sie gerne gehabt hätten, Schmerz und Leid auf beiden Seiten. Und dann zieht es Dinçer auch noch zur Literatur mit immer dickeren Klassikern, zum Theater, auch wenn er in der Fortsetzung des mütterlichen Pflichtbewusstseins seine Lehre in der Fabrik abschließt.
Die Stimme des Vaters liest man bezeichnenderweise nicht, er hat eh nur gestört.

Und wie so oft bei erfolgreichem Ausbruch aus Fremdbestimmtheit gibt es auch hier einen Deus ex machina, Dinçer lässt ihn spät im Buch auftreten.

Dinçer Güçyeter kommt eigentlich aus der Lyrik und aus dem Theater, das ist offensichtlich. Und es liegt nahe, den Roman (?) auf der Bühne zu inszenieren, wie es gerade das Gorki-Theater macht.

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Zum Deus ex machina von Dinçer Güçyeter passt der jüngste Post von dasnuf (ich freue mich ungemein, dass sie wieder bloggt; einige der besten Blogposts aller Zeiten stammen von ihr – “ACHETUNGE! ACHETUNGE!”). Sie besucht gerade wichtige Kontakte aus ihrer Vergangenheit, lesen Sie bitte selbst die geniale Grundidee.

Vergangene Woche war Patricia in
“Forchheim”.

Mit 17 hat mich meine Mutter auf die Straße gesetzt. Die Zeit davor war auch nicht gerade harmonisch. Die Orte zu sehen, verbindet mich mit meiner Vergangenheit und es schmerzt wie einsam und unverbunden mit der Welt ich mich früher gefühlt habe.

Ich erkenne im Nachhinein, dass ich nie alleine war. Ich hatte so viel Unterstützung auf meinem Weg.
Die Eltern einer Freundin, die mir eine Wohnung organisiert haben. Die Frau, die mir diese Wohnung damals für 100 DM vermietet hat, damit ich mein Abi machen kann. Der Freund, der mit mir gebrauchte Geräte gekauft hat, um meine neue Wohnung auszustatten. Der Bio-Lehrer, der mich den ganzen Sommer mit Gemüse aus seinem Garten versorgt hat, damit ich immer genug zu essen habe.

Ich hasse deswegen diese neoliberalen Sprüche, dass man sich im Leben nur anstrengen muss, dann würde alles gelingen. Nein, das Anstrengen alleine bringt gar nichts, man braucht auch Glück und Unterstützung.

§

Hier kann ich schön die gestrige Folge von “Reden wir über Geld” der Süddeutschen Zeitung anlegen (€):
“‘Ich spare wie ein Deutscher'”.
Das sagt Autor und Tiktoker Tahsim Durgun, der mit Mama, bitte lern Deutsch einen Bestseller geschrieben hat (steht schon auf meiner Leseliste) und sein Lehramtsstudium derzeit pausiert – vorübergehend geschlossen wegen Erfolg.

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Journal Freitag, 13. Juni 2025 – Abend im Dantler / Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen

  1. Sabine meint:

    Oh, sehr schön, gleich möchte ich Unser Deutschlandmärchen gleich nochmal lesen.

  2. Sabine meint:

    und diese Sabine möchte es jetzt überhaupt einmal lesen :)
    Teile den Gedanken absolut: es braucht ganz unbedingt auch Glück und Unterstützung im Leben.

    Ganz liebe Grüße, Sabine

  3. Sebastian meint:

    Die Gerichte klingen sehr rund und sehen sehr gut aus. Herr Kaltmamsell auch (also gutaussehend – nicht rund).

  4. Franz Maier meint:

    Beim Lesen bekommt man richtig Appetit. Es wäre mal wieder an der Zeit, beim Dantler einzukehren.
    Noch eine kleine Anmerkung: Sie sind ja an der (empfehlenswerten) Giesinger Schuhwerkstatt in der Zugspitzstr. vorbeigekommen. Dann war es vermutlich nicht der Giesinger, sondern der Nockherberg, den Sie hinabspaziert sind.

  5. die Kaltmamsell meint:

    Stimmt, Franz Maier, vielen Dank für den Hinweis!

  6. Herr Kaltmamsell meint:

    Der Wirt erkundigte sich nach dir, @Sebastian, erinnerte sich noch an den ersten gemeinsamen Besuch im Vorgängerlokal, fanboyhaft!

Beifall spenden: (Unterlassen Sie bitte Gesundheitstipps. Ich werde sonst sehr böse.)

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