Journal Mittwoch, 3. Juli 2019 – Rehawörter
Donnerstag, 4. Juli 2019 um 7:18Mal sehen, wann das hier mit wirklich sportlicher Bewegung losgeht – selbst an normalen Bürotagen bewege ich mich so viel wie hier in den vergangenen beiden Tagen. (Das ist ein sehr detaillierter Post, weil ich zwischen allen Tagesordnungspunkten Zeit zum Aufschreiben hatte.)
Gestern war das Sporthindernis, dass weiter eingeführt wurde. Der Tag begann um 6.45 Uhr mit Blutabnahme, Übergabe des Therapieplans für die nächsten Tage und “Bufettschulung” – letzteres bekam sofort einen Platz unter meinen Lieblingswörtern, bedeutete aber lediglich, dass Grundsätzliches zu Mengen, Bestandteilen und Kaloriengehalt der angebotenenen Speisen gesagt wurde. Anschließend theoretisch Frühstück, das halt auch hier viele Stunden vor Einsetzen meines Appetits liegt. Die eine Chance, die ich dem Kaffee gab, bleibt die letzte, am Donnerstag probiere ich Schwarztee. Die harten grünen Birnen, die das einzige angebotene Frischobst waren (im Juli), ließ ich liegen.
Blick aus meinem Zimmerfenster.
Ruhe-EKG, dann die erste Einführung: Hier gibt es keine Menschen für Massagen, sondern eine Maschine, die “Brain light” heißt (ich erfinde nichts). Sie besteht aus einem gigantischen Lederfernsehsessel, in dem man Kopfhörer und eine Brille aufsetzt: Je nach gewähltem Programm (es gibt ca. 30) kommen aus dem Kopfhörer aufmunternde Worte und Musik oder nur Musik; die Brille, so hieß es, machte therapeutische Farben, Blitze, Funken. Die Maschine sah sehr teuer aus, ist aber sicher immer noch günstiger als ein Mensch – der ja eine aufwändige Ausbildung braucht, um sich, anders als die Maschine, auf jeden Patienten einstellen zu können. Am Freitag habe ich den ersten Anwendungstermin dafür.
Hausdurchsage über Lautsprecher: Heute werden die Klinik mit einer Drohne gefilmt, man möge zwischen 8.30 und 10.30 Uhr die Zimmerfenster schließen und die Jalousinen oben lassen.
Zweite Einführung: Vortrag “Grad der Behinderung”. Eine Expertin erläuterte Gesetzeslage, bürokratische Abläufe und alle Formulare, die es für den Antrag auf Schwerbehinderung braucht, inklusive Formulierungs- und Terminierungstricks. Ich war ein wenig verstört über Satzanfänge wie “wer das Glück hat, 50 Prozent zu bekommen”, weil ich bislang davon ausgegangen war, dass eine Schwerbehinderung weder ein Lottogewinn noch ein Karriereschritt ist.
Obwohl mein Kopfweh fast weg war, fühlte ich mich matschig und enegielos, die Pause bis zur nächsten Einführung nutzte ich also nicht für Ortserkundung, sondern Rumlungern und nach Öffnung der Cafeteria für einen Vollautomaten-Cappuccino.
Die nächste Gruppeneinführung war eine Anleitung Ergometer – mein erstes Mal auf dem klassischen Trimmdich-Rad. Nein, das wird nichts für mich, mir tat der Po schon nach wenigen Minuten weh, meine Lendenwirbelsäule jammerte, und Konditionstraining im Sitzen fühlte sich albern an. ABER! Das erste Mal Schwitzen seit Ankunft.
Mittagessen um halb zwölf, jetzt hatte ich Hunger. Salätchen, Rindergulasch (die vegetarische Alternative wäre Pizza gewesen), eine überraschend aromatische Banane.
Ein Stündchen Sitzen und Lesen im Freien, dann das sportliche Highlight des Tages: “Anleitung Trainingstherapie” stellte sich als Geräteeinweisung im Maschinenraum heraus. Natürlich genoss ich die Erkenntnis der Trainerin, dass sie es mit einer erfahrenen und recht kräftigen Patientin zu tun hatte – und es freute mich, dass sie auf dieser Basis die eine oder andere Erschwernis in meinen Trainingsplan einbaute (Wackelkissen!). Woran ich mich wohl gewöhnen muss: So kurz nach dem Mittagessen machte sich beim Sport der Mageninhalt bemerkbar. Zur Erinnerung: Ich kann nur mit wirklich leerem Magen unbeschwert hüpfen, schwimmen, heben. Das ist bei einem Bewegungsprogramm verteilt über den Tag zwischen acht Uhr morgens und vier Uhr nachmittags nicht durchzuhalten.
Während der Eingangsuntersuchung hatte der Arzt den Kopf darüber geschüttelt, dass ich als Schwimmstil Kraul angab, das sei nicht gut für die Lendenwirbelsäule (ich wollte nicht renitent sein und nachbohren, ob er mich denn schon mal habe kraulschwimmen sehen und mir erklären könne, was an dieser stabilen Wasserlage ohne Hohlkreuz und mit minimalem Beinschlag – beides im Gegensatz zu Brustschwimmen – bitte schlecht für die LWS ist), ich müsse rückenschwimmen. Ok, witterte ich meine Chance, aber dann müsse ich das mal systematisch beigebracht bekommen. Seine Miene hellte sich auf: Das könne man im Therapieplan eintragen. Und so ging ich gestern Nachmittag in Badeanzug und Bademantel zu “Therapeutisches Rückenschwimmen”.
Im Schwimmbecken die große Enttäuschung: Man brachte mir und vier weiteren Patientinnen keineswegs Rückenkraulen bei. Kennen sie diese Schwimmbahnen blockierenden Menschen, die auf dem Rücken im Wasser liegend vage mit Armen und Beinen wedeln? Das ist therapeutisches Rückenschwimmen. Es wurde mir als Entspannungstechnik erklärt, dezidiert keine Sportart. Weiß ich das also auch, zudem dass es sehr, sehr langweilig ist, wenn man es 40 Minuten im Kreis machen muss. Hoffentlich war das ein einmaliger Programmpunkt.
Abschluss des Reha-Tags waren zwei Vorträge der Klinikleitung. Der des medizinischen Leiters lautete “Einführung in die Rehabilitation”, war interessant und diente am ehesten dem Erwartungsmanagement: Was kann eine Reha hier im Haus und was nicht. Unter anderem erwähnte er die aktuelle Forschung zur Rolle der Faszien (wohl für die Beweglichkeit bis vor Kurzem stark unterschätzt, hingegen verabschiedet man sich auf der Basis von Evidenz gerade vom flächendeckenden Einsatz der Faszienrollen) und wies darauf hin, dass man bei chronischen Schmerzen den Schmerz ruhig auch mal ignorieren kann, wenn er sportlicher Bewegung im Weg steht. HA! Joggen, du hast mich wieder. Kann ich halt danach ein bis zwei Tage nicht aufrecht gehen, egal. (Zudem weiß ich jetzt, warum man mit meiner CD mit MRT-Bildern nichts anfangen konnte: Externe Datenträger dürfen aus Sicherheitsgründen nicht gelesen werden.)
Der kaufmännische Leiter erzählte rund um die Klinik, erklärte Hausregeln und ihre Gründe – es ist sicher nicht einfach, solch einen Laden zu managen. Und er warnte davor, in Social Media (er nannte konkret Facebook) Fotos von vergnüglichen Seiten der Reha zu posten, z.B. von Kaffee und Torte aus einem Bad Stebener Café: Er deutete an, dann könnten sich böswillige Kollegen oder die vergnatzte, weil allein gelassene Familie in der ablehnenden Haltung einer Reha gegenüber bestätigt sehen. Auch das hatten wir nicht kommen sehen, als wir das Web vor 20 Jahren mit “Everybody has a voice!” bejubelten.
Nach dem Abendessen fühlte ich mich munter genug zu einer Ortsbesichtigung (außerdem fehlte mir Draußenbewegung).
Musikpavillon im Kurpark.
Kurtheater.
Bad Steben verfügt nicht nur über auffallend viele Bäckereien/Konditoreien, sonder auch über zahlreiche offensichtlich handwerkliche Metzger – Franken halt. Im großen Edeka am Bahnhof holte ich mir ein Steckerleis. Rechtzeitig für die Tagesschau war ich wieder auf meinem Zimmer.
Temperaturen insgesamt sehr angenehm, es war schön sonnig, aber nicht heiß.
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Ich lese begeistern Ondaatjes The English Patient, möglicherweise zum ersten Mal. Der Mann schreibt auch hier derart atmosphärisch dicht, ohne zu überfrachten – drei Sätze, und er hat mich in eine andere Zeit und in ein anderes Land mitgenommen. Insgesamt vorwärts, aber nicht linear chronologisch erzählt, wechselnde Innensichten – umso mehr fällt die bislang fehlende auf.