Dezembergespenster

Samstag, 12. Dezember 2009 um 14:57

Alle Jahre wieder macht mich der Dezember dünnhäutig.

Von innen steigen Erinnerungen an Dezemberereignisse auf, obwohl ich von keinen wirklich einschneidenden Veränderungen wüsste, die genau auf Dezember datierbar sind. Warum werden all meine Erlebnisse durch die Verwandlung in Erinnerung bittersüß?

– Teetrinken mit Besuch in meinem Jungmädchenzimmer, ein Strickzeug auf dem Schoß.

– Das Finden des ersten echten eigenen Tagesrhythmus in der ersten eigenen Bude über den Dächern von Eichstätt. Freunde erstmals in deren eigenen Wohnung besuchen.

– Die rachitische Grube in seiner Brust, begutachtet unter der Last des uralten Federbetts, da seine Wohnung voller dunkler Möbel, die er von seinem Großvater geerbt hatte, nur mit großem Aufwand zu heizen war.

– Die düstere Zugfahrt nach Manchester zur englischen Weihnachtseinladung.

– Der ebenerdige Seminarraum an der Uni, der auch um zehn noch neonröhrenbeleuchtet werden musste. Die Kommilitonen in dicken Pullis, ihre feuchte Jacken und Mäntel dünstend über den Stuhlrücken.

– Endlich schlank gehungert und doch noch viel niedergeschlagener. Die Jeans in Größe 28 mühelos schließen und keinen Triumph dabei spüren, nicht mal Befriedigung, sondern Trauer.

– Die schöne Altphilologin aus Madrid im Münchner Studentinnenwohnheim, die noch nie so viel Schnee gesehen hatte und mich zum Frühstück mit allen möglichen selbst ausgedachten Speisen bewirtete. Und mir zum Abschied ihre Orangenpresse schenkte, die ich bewundert hatte.

– Die Diners im Mittleren Westen auf dem Weg nach Lake Michigan, die köstliche Pancakes zum Frühstück servierten und schwungvolle Weihnachtslieder spielten. Das billige Hotelzimmer in Manhatten, in dessen Bad ich mich mit nassen Haaren fotografierte.

Manhattan_1992

– Abgrundtiefe Verliebtheit ohne Aussicht auf Erlösung, wie ein schwerer Infekt, eine Entzündung des Herzmuskels.

– Viele, viele solche Bilder wie Postkarten, die ein Windstoß ineinander verwirbelt, bis sie nicht mehr unterscheidbar sind.

Von außen bin ich im Dezember besonders leicht zu verletzen. Ein nicht erwiderter Blick, und ich verkrieche mich, stülpe mich nach innen. Ein heftiges Wort, und mir fällt ein schwarzer Schleier vors Gemüt.

Im Dezember bin ich ganz besonders mit mir überfordert.

die Kaltmamsell

21 Kommentare zu „Dezembergespenster“

  1. walküre meint:

    Ihr Schlusssatz ist grandios.

    Ja, was soll man sagen ? Dass es dem Menschen generell wohl nicht gut tut, zu wenig Sonne, Wärme und Licht zu bekommen. Für mich sind die drei Wochen vor Weihnachten die mühsamste Zeit des ganzen Jahres, denn wenn es um 16 Uhr bereits dunkel ist, haben düstere Gedanken viel zu viel Zeit, sich auszubreiten …

  2. Musiker meint:

    Ich spüre auch jedes Jahr im Januar große Erleichterung, ohne genau zu wissen warum.

    Ist nicht mehr lange.

  3. AnkeD meint:

    Mittwoch habe ich auf der Arbeit fast einen Tobsuchtsanfall bekommen, mich total ugerecht behandelt und von allen Kollegen abgelehnt und abgewertet gefühlt, habe daraufhin eine Kündigung auf den Tisch vom Chef gelegt und bin heim gegangen. Nach ungefähr 100 Metern kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht einfach nur traurig, überlastet und vom Dezember überwältigt bin und ich bin zurückgegangen, wo meine Kollegen mich quasi alle umarmt haben, die Kündigung für mich weggeschmissen haben. Daraufhin kam ich mir erst recht wie eine komplette, emotional instabile Idiotin vor.

    Heute schaue ich in den Himmel und fürchte mich vor Schnee, vor Weihnachten und nur die vage Hoffnung auf den freud- aber auch besinnlichkeitslosen Januar bleibt mir.

    Ach ja, Sonne und Sport im Freien, das wäre schön.

  4. Sigourney meint:

    Ich kaufe mir jedes Jahr einen Weihnachtskalender, dabei habe ich mit Weihnachten nichts am Hut. Aber ich bin so froh über jeden gräßlichen Dezembertag, der vorbeigeht. Eigentlich ist es ein “Bald ist es geschafft”- Kalender.
    Nur noch 9 Tage bis zur Wintersonnenwende.

    Wieder ein Posting, das mir sehr aus dem Herzen spricht.
    Und ich wünschte, ich wäre mal so schön gewesen wie Sie.

  5. loreley meint:

    Am schlimmsten sind doch Februar und März. Wie ein Kaugummi ziehen diese Monate sich. Oft ist es zwar mild, aber das Grün fehlt immer noch.

    Im Dezember, Richtung Weihnachten, denkt man mehr nach. Wie es war, als man Kind war, was inzwischen aus einem selbst wurde, den Freunden und der Familie. Dazu kommt die Hektik. Alles will noch erledigt werden. Dabei würde man am liebsten ein paar Gänge runterschalten.

    Schnee ist doch was Schönes. Sport im Winter? Skilanglauf, Schlittschuhlaufen, Rodeln oder einfach nur spazieren gehen.

  6. AnkeD meint:

    Schnee ist schön, im Wald, wenn man Wintersport mag…
    Ich lebe im Ruhrgebiet, da ist Schnee eine Sauerei, die Dreck und Verkehrschaos bringt.
    Und ich arbeite an einer Grundschule. Haben Sie schon einmal einen verharschten Neuschneeball, mit Sand aus dem Sandkasten und Streugut vom Schulweg gemischt, so richtig steinhart, mit voller Kraft aus geringer Entfernung ins Gesicht, auf die Brille geworfen bekommen, dass es wehtut, noch tagelang? Von Kindern, die sich vor Freude über den Schnee nicht beruhigen können und wissen, dass Sie sie liebhaben und gleich eine Schneeballschlacht mitmachen werden? Die dabei so aufgeregt, gedankenlos und goldig sind, dass Sie auch nicht böse sein können?

    Wenn ich nochmal so darüber nachdenke, HASSE ich Schnee:).

  7. kid37 meint:

    Abgrundtiefe Verliebtheit ohne Aussicht auf Erlösung, wie ein schwerer Infekt, eine Entzündung des Herzmuskels.

    Ja. Ganz schlimm, so was.

    (Schönes Foto.)

  8. Petra S. meint:

    Die richtige Weihnachtsfreude ist mir schon so lange abhanden gekommen. Ich kann mich in dieser Zeit selbst nicht leiden und dachte ich bin wohl eine ganz speziell undankbare Person. Es tat gut zu lesen, dass es ihn wohl nicht nur bei mir gibt, diesen hässlichen Dezember-Blues. Jetzt kann ich wieder mehr Geduld haben und mich vor denen schützen, die mir gerade jetzt nicht gut tun.
    Ein wunderbarer Text und ein tolles Foto!!!

  9. Franz D meint:

    Wenn ich das Foto sehe denke ich nur eins:
    Sie sind herrlich schoen!

  10. mariong meint:

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    Genau!

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  11. theodoraa meint:

    Nicht nur Sie sind des Dezemers mit sich selbst überfordert. Das tut gut zu wissen, auch wenn ich Ihnen anderes wünschen würde.

    Bald, bald ist es vorbei.

  12. trolleira meint:

    Da hilft nur eins – ab in die Sonne oder:

    http://www.amazon.de/Philips-HF3319-01-Energy-Lichttherapieger%C3%A4t/dp/B002ECL2U4/ref=sr_1_1?ie=UTF8&s=lighting&qid=1260715482&sr=8-1

    Kopf hoch, vielleicht schneits bald und wird dann sonnig!

  13. togibu meint:

    Ja, der Dezemberblues…
    Es scheint, als will sich eine schwere Decke über das Herz, die Gedanken legen, und alles Leben niederpressen.
    Bei mir dauert er manchmal bis Ende Januar. Bis Ende Dezember ist man doch mit allen Terminen schwer beschäftigt, dann kommt eine Leere…
    Kopf hoch, Frau Kaltmamsell (und alle anderen Leidenden), der Frühling kommt bestimmt.

  14. creezy meint:

    Ach, ich lese das gerne und finde es schön! Das beweist doch, dass Sie das ganz Besondere dieser Zeit noch nicht aus dem Herzen und den Augen verloren haben und sensitiv die Zeit von Abschied und Neuanfang noch leben in diesen hektischen Tagen.

    Was ist das für ein Glück, sich selbst noch überfordern zu dürfen und es zu können? Haben Sie eine Idee, wie viele Menschen sich selbst in unserem Alter schon egal sind?

    Ich wünsche noch eine schöne sensible Zeit, genießen Sie mir die besonderen Gedanken und Erinnerungen!

  15. Reinhart Groebe meint:

    Ist sie das? S e h r hübsch und apart-könnte man glatt mehr davon vertragen

  16. die Kaltmamsell meint:

    Ich möchte Ihnen keineswegs die Freunde an dem Bild verderben und danke herzlich für Lob und Komplimente, nur: Wenn ich so aussähe wie auf dem Foto, hätte ich es sicher nicht hier veröffentlicht. Ich sah nicht mal vor 17 Jahren so aus wie auf dem Foto, mag das Bild aber trotzdem.

  17. peppinella meint:

    mach mich bitte nicht so schwermütig, liebe frau kaltmamsell. mir geht es gerade nicht so gut. innen drin.

  18. the-sun meint:

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    Gerne gelesen

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  19. oecherin meint:

    das ist so treffend geschrieben, liebe frau kaltmamsell, dass es mir schon wieder etwas lichter geht! ja, diese alten, oft sehr gegenwärtigen bilder mit dem schuss wehmut drin! aber was wäre, wären sie weg?

  20. typ.o meint:

    Der Besuch vom schwarzen Tier wird nicht angenehmer, wenn man auch aus Erfahrung schon darauf gefaßt sein kann.

  21. Lu meint:

    der dezember ist der eigentliche november.
    (wundervolles bild.)

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