Journal Dienstag, 14. Mai 2024 – Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin

Mittwoch, 15. Mai 2024 um 6:00

Wieder eine gute Nacht, doch wieder endete sie in einer unangenehmen Angstphase.

Nochmal Sonnen-Power draußen, ich marschierte in kurzen Ärmeln in die Arbeit (eine Jacke wäre wirklich angenehm gewesen, doch ich war wieder zu faul zum Heimschleppen).

Die Lösung meines Problems mit der Handyzahl-App (VIMPay übrigens, mit der meine Bank, die Sparda, zusammenarbeitet), von der eine erforderliche und angeblich abgeschickte TAN nie eintraf, nicht bei Dutzenden Versuchen und über mehrere Tage: Ich hatte am Sonntag an die Service-Adresse geschrieben, die am Montag zurückschrieb, “richte die PushTAN-Verbindung bitte nochmals anhand der folgenden Anleitung ein”. Stellte sich heraus: Ich hatte diese Funktion nie eingerichtet. Und wie ich bei neuerlichem Aufruf der App herausfand, ist sie auch gar nicht erforderlich, jetzt gab es eine Möglichkeit, auch ohne weiterzukommen. UX-Hölle in Lehrbuch-Qualität.

Emsiger Vormittag, aber ich hatte Zeit für einen Mittagscappuccino im Westend.

Cappuccinotasse auf einem Holztresen vor einem Fenster, durch das man eine sonnenbeschienene Straße und ein altes Haus sieht

Zu Mittag gab es einen Kanten selbstgebackenes Brot und Mango mit Sojajoghurt.

Der Nachmittag war zäh, doch ich schaffte Dinge weg (und fand nicht heraus, wie ich für Outlook-Besprechungen Agenda und Protokolle in OneNote bastle, die nicht nur zu meinem persönlichen OneNote führen). Außerdem plagten mich Schwäche und Schwindel – wie ich aus meinem Blog weiß, bekomme ich den besonders häufig im Mai.

Nach Feierabend nahm ich eine U-Bahn in die Innenstadt, ließ mir bei einer Ärztin ein Rezept auf die Krankenkassenkarte laden, kaufte ein wenig im Kaufhaus ein und im Drogeriemarkt, kurz vor daheim noch Erdbeeren am Standl.

Ernteanteil war aufgegessen, Herr Kaltmamsell hatte Nachtmahl beim (deutschen) Traditionschinesen Shanghai am Stachus beschlossen. Da gingen wir hin.

Restauranttisch am Fenster im 1. Stock, draußen ein Schild "Chiina Restaurant Shanghai", drinnen am Tisch liest ein Mann die Speisekarte

Eine weiße Schüssel mit gebratenen Auberginenstücken, rechts davon eine Servierplatte mit Grünem Stengelgemüse

Oben ein weißer Teller mit Tofustückem in roter Sauce, unten eine Schalte Reis

Wir teilten uns Wasserspinat mit Knoblauch, Aubergine mit wenig Hack, Mapu Tofu – sehr schön unterschiedlich und aromatisch.

Zurück daheim gab es noch reichlich Erdbeeren und ein wenig Schokolade.

Im Bett begann ich neue Lektüre: Joseph Roth, Hiob.

§

Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin.
Didier Eribon schreibt über die letzte Lebensphase seiner Mutter, der titelgebenden Arbeiterin. Diesmal belustigte es mich beinahe, wie Eribon zutiefst menschliche und zwischenmenschliche Dinge mit den Werkzeugen der Soziologie analysiert (das tat er ja schon in Rückkehr nach Reims, hier besprochen). Zum Beispiel seine Schilderung, wie seine Eltern, die einander nicht ausstehen konnten, all die Jahrzehnte ihrer Ehe ein Bett teilten: Das sei halt durch ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklassen bedingt, in der Alternativen undenkbar gewesen seien. (PurzelchenCherie: Die Alternative ist in praktisch allen Klassen undenkbar.)

Aber auch so bewegte es mich zutiefst, wie seine Mutter am Umzug ins Pflegeheim zerbricht. Ebenso wie Eribon damit hadert, ob das durch einen Umzug in ein offeneres Wohnen für Alte ein paar Jahre zuvor hätte verhindert werden können, den seine Mutter im letzten Moment verweigerte. Eribon erkennt, wie müßig diese Frage ist, denn seine Mutter wollte halt einfach nicht.

So vieles läuft darauf hinaus, dass Menschen nun mal auch im hohen Alter und mit schwindender Kontrolle über ihren Körper immer noch eigenverantwortliche und mündige Menschen sind. Selbst wenn ihre eigenen Entscheidungen ihnen schaden. So kommt es oft zu tragischen Situationen, in denen nicht abzusehen ist, was größeren Schaden anrichtet: Der selbstverantwortliche Beschluss, allein in der eigenen Wohnung zu bleiben (auch wenn die Selbstversorgung nicht mal mit externer Pflegehilfe gesichtert werden kann, auch wenn jede Erkrankung, jeder Sturz schwerwiegende Folgen haben kann). Oder der Umzug ins Seniorenheim unter dem noch so liebevollen Druck der Anghörigen (“Es ist besser für dich.”), der mit Aufgabe der Selbstbestimmung einher geht, mit komplettem Wechsel von Alltag, Kontakten, Gewohnheiten – dem Verlust der eigenen Welt.

Und dem ultimativen Verlust von Zukunftsaussichten: Ohne Zukunft gibt es kaum ein Konzept von Selbstwirksamkeit, in einem Pflegeheim ist die Zukunft zu Ende.

Die Zeit ist stehen geblieben. Es ist kein auf die Zukunft gerichteter Entwurf mehr möglich, nicht einmal auf die unmittelbare Zukunft.

Wichtig ist in meinen Augen Eribons Hinweis darauf, dass den Pflegeheim-Bewohnenden die Möglichkeit zur Gruppenbildung, Solidarität, zum Protest gegen das System genommen ist, sollten sie mit den Umständen unzufrieden sein: Immobil und aus dem Bett heraus, ohne selbstbestimmte Kontakte lässt sich keine Revolte anzetteln. (Oder müssen wir uns auf den ersten über WhatsApp organisierten Aufstand der Patient*innen im Pflegeheim gefasst machen?) Eribon schildert, wie seine Mutter ihm und seinen Brüdern aus dem Pflegeheim-Bett Nachrichten auf den Anrufbeantworter sprach:

Meine Mutter weinte und beschwerte sich, aber sie konnte nicht für sich selbst sprechen, konnte sich kein Gehör verschaffen, zumindest nicht öffentlich. Ihre Klage gelangte nicht aus ihrem Zimmer nach außen.

(…)

Wie sollen alte Menschen, vor allem, wenn sie ihre körperlichen und manchmal auch einen Teil ihrer geistigen Fähigkeiten verloren haben, sich versammeln, sich als Gruppe mobilisieren, sich als “Wir” begreifen, und sei es nur, indem sie ihre Interessen an eine Gewerkschaft oder Partei deligieren?

Und doch stolperte ich über die soziologische Analyse der Verbindung Eribons mit seiner Mutter:

Man darf die sozialen Beziehungen – einschließlich der sich im Lauf der Zeit verändernden innerfamiliären Beziehungen – nicht psychologisieren, sondern muss sie im Kontext von Klassenverhältnissen betrachten.

Mir scheint dieser Satz unvollständig: Wenn man was erreichen/erkennen will? Oder es fehlt: Sonst…
Da ich weder Psychologin bin noch Soziologin, kann ich mir die feuilletonistische Ansicht leisten, dass eine Mischung von beiden Erklärungssystemen den größten Erkenntnisgewinn verspricht.
Kann es sein, dass Eribon seine Trauer soziologisieren möchte und dabei herzzerbrechend scheitert?

Doch Eribon knöpft sich auch seine eigenen philosophischen Lehrmeister*innen vor (u.a. Sartre) und weist ihnen nach, dass viele ihrer gesellschaftlichen Konzepte, gar Forderungen alte Menschen als Protagonist*innen ausschließen, mit alten Menschen vor Augen einfach nicht mehr funktionieren. Er beschließt sein Buch mit einem leidenschaftlichen Appell, greise Menschen nicht zu übersehen und denen eine Stimme zu leihen, die sich in ihrer letzten Lebensphase nicht mehr selbst Gehör verschaffen können.

die Kaltmamsell

12 Kommentare zu „Journal Dienstag, 14. Mai 2024 – Didier Eribon, Sonja Finck (Übers.), Eine Arbeiterin

  1. Karin meint:

    Danke für Ihren ausführlichen Bericht über Eribon. Die Zitate decken sich in erschreckender Weise mit dem, was ich bei meinem noch nicht allzu lange verstorbenem Vater beobachten konnte. Pflegeheim war gleichbedeutend mit Entmündigung und Rückstufung auf Kleinkind Niveau. Wenn sich da nicht ganz gravierend etwas verändert, bis ich in dieses Alter komme, würde ich tatsächlich einen selbstbestimmten Tod vorziehen.

  2. Markus Kolbeck meint:

    Apropo Zukunft für alte Menschen. Ich steuere den Hinweis auf die arte-Doku “Goldgrube Altenheim” bei: https://www.arte.tv/de/videos/111765-000-A/goldgrube-altenheim/

  3. Trulla meint:

    @Karin: dem kann ich nur zustimmen

    Bei aller Wertschätzung für die Arbeit der Pflegenden, die ich mit großer Dankbarkeit wahrgenommen habe, als meine Eltern gleichzeitig zu Pflegefällen
    (Alzheimer und Herzinsuffizienz) wurden – ich möchte das nicht für mich selbst.
    Weil meine Söhne sich weder aus zeitlichen noch räumlichen Gründen in dem Maße um mein Wohlergehen kümmern könnten wie ich es für meine Eltern konnte. Aber das würde ich für nötig halten.
    Ich habe mich im Interesse meiner Eltern und damit auch dem eigenen im Heimbeirat (durch Wahlen legitimierte Vertretung der Bewohner, also als deren Stimme) nützlich gemacht, und durch häufige Besuche die gute Versorgung auf jeden Fall sicher gestellt. Dazu fehlt bei den Angehörigen leider zu oft die Bereitschaft.
    Ausdrücklich betonen möchte ich, dass nach meiner Erfahrung die Pflegenden
    zwar das Beste WOLLEN, aber aus vielerlei Gründen daran gehindert werden.

  4. Poupou meint:

    Wie sind Sie gerade jetzt auf Hiob gekommen?

    LG
    Poupou

  5. die Kaltmamsell meint:

    Stand auf meiner Leseliste, Poupou, hatte ich Lust drauf, kostete nur 99 Cent.

  6. Joël meint:

    Oh, ein sehr interessantes Buch.
    Meine Mutter, die jahrzehntelang Krankenpflegerin war und im Altenheim bis zur Rente gearbeitet hatte, hatte alle möglichen Hebel im Bewegung gesetzt damit ihr das Los nicht drohte, selbst in einem Altenheim zu enden. Sie kannte das System nur zu gut und wollte unter gar keinen Umständen da rein.
    Als sie dann krank wurde und in der Pflegestufe immer höher stieg, traute sich niemand mehr sie zu fragen, weil ihre Antwort immer ein kategorisches Nein war. Heute denke ich, dass es für sie nicht zwingenderweise die im Buch beschriebene Entmündigung war, sondern weil sie genau wusste, wie es hinter den Kulissen aussieht.

  7. N. Aunyn meint:

    “Ohne Zukunft gibt es kaum ein Konzept von Selbstwirksamkeit, in einem Pflegeheim ist die Zukunft zu Ende.”

    Das mag für viele – vielleicht für die meisten Heime gelten, aber es geht auch anders.

  8. Herr G. meint:

    Ich arbeite seit über 35 Jahren in der Pflege. Die Zustände sind unbeschreiblich. Geworden.

  9. Croco meint:

    Da kommen mir alle Erfahrungen der letzten Jahre wieder hoch.
    Drei Schwestern meines Vaters, alle ledig und kinderlos, verbrachten ihre letzten Jahre im Heim. Alle drei waren sehr schwierig und meine Eltern zwar zwanzig Jahre jünger, aber unwillig, diese zuhause zu pflegen. Meine Eltern wollten unbedingt im Haus bleiben, was nach der Heimerfahrung der Verwandtschaft auch verständlich war. Es ging, es war aber sehr aufwändig zu organisieren mit vielen fremden Menschen. Und es war mit großem Ängsten von allen Seiten verbunden.
    Es zerriss mich fast.
    Alles fühlte sich falsch an, was ich machte.

  10. roswitha meint:

    wir lebten zehn jahre mit der ledigen schwester von der oma meines mannes, sie konnte nicht mehr allein leben. unsere kinder waren gerade ausgezogen und das zimmer leer. mit teilweiser profihilfe wurde es gut, viel lustiges, unsere enkelkinder erlebten eine sehr alte
    frau(97). viele ausflüge waren für sie ganz neue erfahrungen, kinder auch. sie war immer berufstätig gewesen mit menschen, ich glaube, das half zu absprachen und offenheit gegenüber neuem. alle lernten viel…

  11. helmer meint:

    Ich glaube man muss sich das ganzen Leben auf das Alter vorbereiten. Wer soziale Kontake pflegt und sich engagiert, hat auch im Alter eine Chance ein Netzwerk zu pflegen und sich Gehör zu verschaffen.
    Wer lieber sein Dinge macht, wird sehr herausgeforder sein, wenn man bei vielen Alltäglichkeiten auf Hilfe angewiesen ist.

  12. Hauptschulblues meint:

    Ein selbstbestimmtes (gemeinsames) Ende muss früh genug geplant werden, sonst wird das nichts.

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