Bachmannpreis 2015, Tag 3

Samstag, 4. Juli 2015 um 17:30

Wieder vier interessante Texte – so richtig grottig war in diesem Bachmannpreisjahr nichts. Heute dazu zum Teil turbulente Jurydiskussionen mit verschiedenen Meinungen. Auffallend an diesem Tag: Das Publikum spendete immer wieder einzelnen Juryaussagen Applaus.

Ich war besonders früh am ORF-Theater, da meiner Erinnerung nach der Samstag immer besonders gut besucht ist (außerdem war ich unangenehm früh aufgewacht, schon beim Laufen gewesen, und dann war’s eh schon wurscht). Es war dann auch voll im ORF-Theater, aber ich saß.

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Jürg Halter war die Tage davor mit seinen bunten Hemden recht sichtbar gewesen, ich fand ihn sympathisch und wollte seinen Text mögen – zumal ich mich sehr an seinem Vorstellungsfilmchen gefreut hatte. Doch „Erwachen im 21. Jahrhundert“, vorgeschlagen von Juri Steiner, war für mich eine sehr schlichte Geschichte eines Menschen, der unangenehm früh aufwacht, aus einem Alptraum, und dann denkmäandert, von Hölzchen auf Stöckchen kommt, und sich beim Denken beobachtet, vorgetragen im Tonfall einer Litanei. Leider ging das völlig an mir vorbei, trotz vieler schöner Sätze, die wie für Twitter optimiert schienen. (Angebot an die Apokalyptiker in deutschen Feuilletons: Twitter’sche Aphorismisierung der Literatur als Symptom für den Untergang von Kultur/Zivilisation/Abendland?)

Die Jury hatte den Text überwiegend anders aufgefasst. Hubert Winkels ächzte unter dem „ungewöhnlich heftigen, monumentalen Beginn“ dieses Lesetages, für ihn war der Text aus der „Position Gottes selber“ geschrieben, wie er es sonst nur von Nietzsches Also sprach Zarathustra kenne. Das versuche er mit existenziellen Situationen zu verknüpfen, was ihm aber misslinge in seinem Modus der Melancholie.

Klaus Kastberger wandte sich an Halters Einlader Juri Steiner: „Was ist mit dem Schweizer Mann los?“, gerade wenn er an Tim Krohn erinnere. Der Text stelle die ganz großen Fragen, doch mit überschaubarer Bescheidenheit in den Antwortmöglichkeiten. Beruhigt fühle er sich von dem Umständen, dass die Kontinentalplatten ihrer Wege gingen, und dass die Evolutionsgeschichte nicht nochmal erzählt werden müsse.

Stefan Gmünder bat um mehr Bodenhaftung: Es gehe weder um den Schweizer Mann noch um Gott; er habe eine Partitur gesehen, durch die sich Motive zögen: Wer bin ich? Wer ist der andere? Die Zeitangaben im Text schlügen wie ein Metronom, „ganz cool und locker“ seien Ereignisse eingebaut.

Sandra Kegel hatte ein Problem mit der Chronologie, die zu einem dichten und langweiligen Text geführt hätte. Interessant fand sie die Rochaden darin, diese seien aber nicht fortgeführt.

Heike Feßmann hatte einen Text gelesen, in dem jemand aufgewacht ist, am Schreibtisch sitzt und sich überlegt, wie er einen Text von Gewicht schreiben könne – der Text sei das Ergebnis. Diese Selbstbezüglichkeit gehe aber nicht ganz auf. Für sie war es „ein belangloser Text“.

Juri Steiner beschrieb den Text anders: Jemand wache aus einem Albtraum auf und stelle sich der Panik, erlebe dabei luzide Momente – wie wir alle es kennten. Das 21. Jahrhundert, in dem aufgewacht werde, sei die Digitalisierung, der Computer sei ein „Prothesengott“ und werfe alle Informationen aus, der Mensch habe nicht mehr das Monopol der Vernunft. Es gehe um Ohnmacht und Ängste – das könnten Computer nämlich noch nicht.

Winkels verwies auf Kant, auf religiöse Ersatzfunktion, angedeutete Romantikzuordnung. Steiner widersprach, das sei alles Philosophie, doch hier habe man es mit Literatur zu tun samt ihrer „performativen Gewalt“.

Hildegard Keller setzte an, indem sie Kastberger schmunzelnd fragte: „Was ist denn los mit dem österreichischen Mann?“ (Fand er anscheinend wieder nicht lustig.) Sie erinnerte an die „Gedichtfalle“, die Halter in seinem Porträtfilm behauptet hatte: „Ich tappe nicht in die Metaphysikfalle.“ Die Medienart gleiche am ehesten der von FALKNER in ihrer Komposition mit Wiederholungen. Doch sie habe vergeblich nach einer „individuellen Sprechweise“ gesucht. Ein allgemeiner Mensch spreche vor allem im Modus der Fragen.

Kastberger bezog sich auf Steiners Erklärung und fragte ihn, warum er das alles habe erklären müssen und der Text das nicht tue. Feßmann wies ihn zurecht, er wolle doch wohl Steiner nicht das Interpretieren verbieten.

Winkels sah keinerlei Selbstbezüglichkeit, Feßmann verwies auf die Zeitangaben, das ließ Winkels als Einziges gelten.

Gmünder bemerkte, Literatur habe schon immer die vornehme Aufgabe gehabt, Fragen zu stellen. Für ihn war die Computerszene ein Versuch, aus der Selbstbezüglichkeit herauszukommen.

Steiner kehrte zur apokalyptischen Interpretation zurück: Digitalisierung versklave seine Imagination; zur Ruhe komme man nur offline, indem man den Stecker ziehe, und er prophezeite ein ganz großes Steckerziehen in naher Zukunft. Dann sprach er auch noch von der „Versklavung durch Rationalität“. (Nicht nur an dieser Stelle hatte ich den Eindruck, Steiner wäre im späten 17. Jahrhundert besser aufgehoben als in unserem.)

Nachdem Kastberger meinte, er habe sich ja „in den Text hineinimaginieren“ wollen, doch das gehe nicht auf, meldete sich Halter selbst zu Wort und nahm einen vorherigen Vergleich mit Jean Ziegler auf: Er werde das mit Ziegler besprechen.

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Anna Baar war von Stefan Gmünder eingeladen und las „Die Farbe des Granatapfels“. Schon in ihrem Vorstellungsfilmchen sprach sie über Zweisprachigkeit, über ihr Leben zwischen Kroatien und Österreich. Darum ging es dann auch in ihrer Geschichte (und ich lernte an ihr, dass nicht nur Münchnerinnen in den Sommermonaten Sonnenbrillen im Haar tragen wie Schleiferl oder Spangerl). Ich hörte Kindheitserinnerungen an Oma und Omahaus in Kroatien, mit Hühnerschlachten, heißen Steinplatten, Erinnerungen ans Aufwachsen in diesem Haus, mit immer wieder kroatischen Einsprengseln. Ich mochte die Geschichte, hatte viele Bilder vor Augen, kam den Personen nahe. (Und meine spanische Yaya hat im Alter auch am Spülmittel gespart, alle Trinkgläser waren klebrig.)

Gmünder sprach von einem „Erinnerungstext“, im Zentrum die Großmutter, mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts als leiser Spur. Es gehe um „Sprachefinden, Wörterfinden“ als „Akt des Überlebens in einer feindlichen Welt“.

Für Sandra Kegel verwies der Titel auf den metaphorischen Gehalt der Geschichte; es gehe um Paradies, um Hölle, die Insel sei eine Toteninsel. Zwischen der Großmutter und dem Mädchen herrsche ein Stellungskrieg. Manchmal falle der Text ins Pathos, doch ein Problem habe sie mit der Psychologisierung: Zwar tue die Großmutter dem Mädchen schreckliche Dinge an, doch wegen der rigiden Moralvorstellungen des Kindes sympathisiere sie dennoch mit ihr.

Feßmann sah keine Kindheitserinnerung, sondern die einer Pubertierenden, die die „Poetik der Üppigkeit“ verteidige. Nicht nur sei da diese Insel der frustierten Frauen, durch das Mädchen gehe auch der nationale Konflikt zwischen dem österreichischen und kroatischen Teil der Familie. Zudem wolle das Mädchen schöne Wörter finden, denen sich die Großmutter verweigere. Und gleichzeitig würge das Mädchen an schönen Wörtern – das sei misslungen.

Genau das nannte Kastberger sehr gelungen, eine „unglaublich präzise Weise, das zu beschreiben“, auch mit ganz kleinen Mitteln. Er sah die „Aufrichtigkeit von Erinnerung“, nämlich die Erscheinung, dass eine Erinnerung schrecklich sein könne, es aber dennoch Freude bereiten könne, sie zu beschreiben.

Steiner ging auf die Komponente ein, dass auf „listige Weise“ eingeführt worden sei, „was mit Sprache passiert, wenn sie nicht da ist“. Die Ängste des Kindes würden im Vergleich mit den Kriegserlebnissen der Erwachsenen nicht ernst genommen, doch eigentlich seien „die kleinen tabuisierenden Momente“ das Schlimmste.

Winkels hob die Erzählsituation hervor: Am Anfang werde behauptet, dass alles vorbei sei, doch die Erinnerung richte sich auf in der Erzählerin entgegen dieser Absicht. Sein Problem sei, dass der Text zu schön sei, es sei „vielleicht zu viel des Sentimentalen in den Text geraten“. Für einen privaten Text sei ihm auch zu viel Nationalgeschichte enthalten – in einem Roman allerdings gehe das.

Keller verwies darauf, dass der Wettbewerb nunmal nur ein kleines Fenster vorsehe, ging dann auf den Umstand ein, dass in den vergangenen Jahren immer wieder Preisträgerinnen mit weiblichen Figuren operiert hätten, die in Familiengeschichten hinabgestiegen seien, Sprachgrenzen überschritten und Tabus aufgelöst hätten. Hier habe sie eine archaische Großmutter gesehen, mit einer übernächsten Generation, die aus einer völlig anderen Welt komme.

Gmünder nannte den Vergleich mit anderen Preisträgerinnen naheliegend, doch seiner Meinung nach lag hier eine ganze andere erzählerische Bewältigung vor. Hier werde das Motiv des Wachsens eingesetzt, dass es nie vorbei sei.

Kastberger erklärte, dass man es bei österreichischer Literatur immer mit Ambivalentem zu tun habe. Hier: Sinnlichkeit/Anspruch auf Askese, zwei Sprachen, die Ambivalenz des Erinnerns. Der Text finde sehr gute Antworten, damit umzugehen.

Steiner erneuerte den running gag: „Was ist mit dem kroatischen Mann los?“ Das Totstellen nannte er ein interessantes Motiv, das darauf verweisen könnte, wo Kroatien heute sei. Kastberger erinnert das an die Geschichte von Fritsch am Donnerstag, er sah „eine ähnliche Bettlägrigkeit“.

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„Oh Schimmi!“ hieß die Geschichte, die Teresa Präauer auf Einladung von Hubert Winkels vortrug, und ich brauchte eine Weile, um mich einzugrooven – was unter anderem an der langen Unruhe nach der Pause lag, denn einige Handtuchbesetzerinnen auf Mittelplätzen kamen Minuten zu spät. So erschienen mir die wahnwitzigen Sprachspielereien und der Rhythmus der Geschichte zunächst gewollt und aufgesetzt, doch endlich im Fluss schwimmend wurden sie wirklich witzig und eine runde, völlig abgefahrene Geschichte um einen Burschen, der sich ein Gorillakostüm holt, um sich zum Affen zu machen.

Feßmann meinte dann auch, sie habe ein „Zauberkunststück auf offener Bühne“ gesehen (ist es inzwischen tatsächlich Standard geworden, dass man Zauberei als Aufzeichnung sieht?), „alle Oppositionspaare durcheinander gewirbelt“. Wenn die Handlung an Schwung verliere, springe immer die Sprache ein, dann wieder bremse der Text absichtsvoll ab. Sie fand es „ermunternd und witzig mit allen sprachlichen Mitteln“.

Den Trick, Metaphern wörtlich zu nehmen nannte Kegel die Basis des Textes, er spiele eine bezaubernde Idee wundervoll durch. Zitate aus Literatur und Kunst seien meisterlich eingearbeitet, der Text „kann einfach zeichnen“, Bilder, Figuren und typische Verdrehungen würden durchgearbeitet. Gleichzeitig sei es auch eine „typische Stalker- und Vergewaltigungsgeschichte“. Sie fand lediglich das Ende zu einfach, wünschte sich „mehr Raffinesse“.

Winkels verwies auf den großen Verwandler und Vergewaltiger Jupiter/Zeus, doch Gmünder identifizierte Muhammed Ali als Quelle des Zitats vom ermordeten Felsen; er nannte den Protagonisten einen „Typ im Handgemenge mit der Realität“, verwies auf die Anspielungen auf Münchhausen und Jethro Tull. Es werde eine große Fallhöhe aufgebaut, doch der Absturz werde vermieden.

Für Winkels hatte die Maskerade als Affe ihre Entsprechung in der Maskerade Sprache: Die Sprache erzeuge den Rap, gebe den Rhythmus der Geschichte und die Logik vor. Es handle sich um ein Gesamtkunstereignis („so ein Text schlecht vorgelesen hat ein Problem“) inklusive dem Vorstellungsfilm.

Steiner bemerkte, dass wir uns seit 8 Millionen Jahren bemühten, eben keine Affen mehr zu sein – und nun komme dieser Text mit „Brachialironie und Trash“. Dieses Befreiende habe etwas Hysterisches, es sei King Louie aus Jungle Book, nur umgekehrt.

Kastberger hätte den Peter-Fox-Bezug im Text lieber selbst gefunden, doch dann sei er schon gesagt worden. Er zitierte ein Peter-Fox-Interview zu „Stadtaffe“: Der sei eine Art von Image, kein Teenie mehr, aber nicht alt. Der Text mache ihn, Kastberger, jung.

Keller war sehr angetan von der Performance inklusive Film, beim Lesen dahei sei ihr die zweite Hälfte noch vorgekommen wie ein „Zu Gast bei Hallervorden“.

Abschließend schneller Austausch zwischen den Jurymitgliedern: Kastberger fragte Kegel, welchen Schluss sie bevorzugt hätte. Kegel: Keinen Gegensatz männlich-weiblich. Steiner beharrte: „Dieser Affe ist ein Affe.“ Kegel assoziierte die Nestroy-Kommödie Der Affe und der Bräutigam, Winkels verwies darauf, dass das letzte Wort in der Geschichte die Mama habe.

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Hildegard Keller hatte Dana Grigorcea und ihren Text „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ eingeladen. Sie las mit deutlichem rumänischem Akzent eine Geschichte in drei Teilen vor: Aus der Perspektive eines Kindes eine Episode aus der Ceauşescu-Zeit, Michael Jacksons Besuch in Bukarest drei Jahre nach Ceauşescus Ermordnung (das lasse ich so, ein allerschönster Freud’scher), Rückkehr einer rumänischen Auswanderin nach Bukarest. Ich fand die Geschichte großartig – was durchaus daran liegen mag, dass ich mich beruflich im vergangenen Jahr viel mit Rumänien befasst habe und die jüngere Geschichte des Landes hochinteressant finde. Doch auch so mochte ich Figurenführung und die breiten sprachlichen Mittel. Mir fiel sehr auf, wie anders dieses literarisch heitere Rumänien im Vergleich zu dem von Herta Müller ist.

Winkels äußerste sich glücklich darüber, dass der Tag und der Bewerb so ausklängen. Er fand den Text witzig und gut gelesen, eine Satire in drei Teilen. Der Twist sei, dass alle Teile „Medienverunglückungsgeschichten“ seien, die falsche Synchronisierung der Filme, das Jackson-Poker, der Versprecher von Jackson, das verfehlte Schlussfoto. „Über Verstellungen lernen wir in satirischer Position die Geschichte Rumäniens kennen.“

Kegel lobte das Eröffnungsbild mit Souffleur und Glaskasten mit „der Schönen“; sie habe sich an osteuropäische Märchenfilme erinnert gefühlt.

„Eine Burlesque aus Rumänien nach Ende der Sowjetunion“ nannte Feßmann den Text, eine Rondo-Konstruktion, auch hier tauche ein französischer Film auf, der auf eine globale Filmsprache deute.

Für Kastberger wies der Eingangssatz (Platz 3 in seinem Ranking) auf einen Roman von 800 Seiten hin. Der Text orchestriere sehr gut in verschiedenen Stimmlagen: „Er hängt sich nicht sehr raus mit Stilmitteln“, arbeite ein wenig mit Ostalgie.

Steiner berichtete, er habe sich am Vorabend auf YouTube das beschriebene 2-Stunden-Konzert von Michael Jackson angeschaut, wie die jungen Menschen verzückt im Regen gestanden seien. Er habe durch den Text einen ersten Zugang überhaupt zu Rumänien bekommen. Bemerkenswert nannte er, dass die Mutter sich nicht auflehne, nur über einen falsch übersetzten Satz innerhalb des französischen Films. Dann strauchelte Steiner in seinen Ausführungen: „Ich finde den Schluss nicht mehr, aber Sie wissen, was ich in etwa…“

Keller freute sich über die Zustimmung zur der Geschichte. Sie kündigte an, dass es weiter gehe, einen Roman geben werde. Aus Schweizer Perspektive sei der Text sehr spannend, denn in der Schweizer Literatur spielten Heimkehrer eine große Rolle. Sie sprach auch an, dass im Vorfeld des Bachmannpreises bereits die Auflösung der Nationalität in der Literatur diskutiert worden sei.

Kastberger äußerte, als am Donnerstag der Wettbewerb mit einem One Night Stand begonnen habe, habe er nicht zu hoffen gewagt, dass er mit Sex bei Ceauşescus enden würde.

die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Bachmannpreis 2015, Tag 3“

  1. Joël meint:

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    Gerne gelesen

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