Archiv für Oktober 2003

Kim

Dienstag, 7. Oktober 2003

Erst ist mir das Rezept eingefallen, dann sie selbst: Kim, die unglaublichste aller Engländerinnen.

Anfang der 90er begann ich ein Studienjahr in Swansea, Wales. Ich war mit dem Zug aus Süddeutschland angereist, schwer bepackt mit Gepäck für ein Jahr. Den Taxifahrer am Bahnhof verstand ich nicht, obwohl mir klar war, dass er nicht etwa Walisisch sprach, sondern lediglich einen starken Akzent hatte. Bis ich im nächtlichen Student Village das Haus gefunden hatte, in dem ich untergebracht sein sollte, war ich völlig aufgelöst und am Ende.

Zwei von den drei Studentinnen, mit denen ich die Wohnung teilen sollte, waren bereits eingetroffen: Nadine, frisch zurück von einem Jahr als Lehrerin im subarktischen Kanada, öffnete mir dir Tür. An sie muss ich immer denken, wenn ich das englische (!) Wort “petite” höre. Nadine zeigte mir mein Zimmer, ich entlud mich meines Gepäcks, ließ mich in die Küche führen.
Dort saß eine junge Frau mit langem honigblonden Schnittlauch-Haar, die endlosen Beine in Strumphosen unter sich auf dem Sitz verknotet. Sommersprossen, riesige blaue Augen, in den langen Fingern eine Zigarette. Und sie sprach gerade Russisch mit dem jungen Mann ihr gegenüber, lachte dazwischen herzhaft und heiser.
Ich beschloss umgehend, dass sie ein ekliger Mensch sein musste: So schön und auch noch nett – nee, ging nicht.

Kim war gerade von einem Jahr im prä-perestroika russischen Hinterland zurückgekommen und hatte ihren russischen Lover zu Besuch. Eigentlich war sie aber mit Marcus zusammen, einem Meeresgeologe aus Guernsey. (Sah aus, wie ich später feststellen durfte, wie eine Mischung aus dem jungen Jack Nicholson und Sex&theCity’s Mr. Big.) Nur war Marcus halt viel auf See.

Und schon in dieser ersten Nacht musste ich feststellen, dass Kim auch noch sympathisch war. Das war mir bereits klar, bevor sie mir Wodkatrinken auf russische Art beibrachte. Bevor sie mich nach meinem überraschenden Wodka-Flash aus dem Bad schleifte und ins Bett brachte.

Kim wurde zu einem Highlight meines Studienjahres im hässlichen Swansea.

Kim – wie sie in dicken Socken und Leggins an den dünnen Beinen zu James Brown über den billigen Linoleum-Boden groovt.

Kim – wie sie sich für den Club-Abend stylt, “let’s go sharking!” ruft, die Musik von Der weiße Hai singt (“dundundundundun”) und mit der Hand auf dem Kopf eine Haifischflosse mimt.

Kim – die auch von den leckersten Gerichten nur zwei Gabeln aß, bevor sie sich eine Zigarette anzündete und sich für satt erklärte. Um eine halbe Stunde später zu murmeln “I fancy something – nice”, zum Küchenschrank zu gehen und sich an den Frosties gütlich zu tun.

Erst vor kurzem habe ich sie nach längerer Kontaktlosigkeit wieder aufgespürt, in Moskau. Mit Umzugsplänen ins türkische Izmir.

Lyrik

Montag, 6. Oktober 2003

How to recognize a poem when you see one

Poetry (28k image)

Und hier nochmal abgetippt:

Hygiene-
Beutel

für
Damenbinden
Bitte nicht ins WC, sondern in den
Toiletten-Eimer werfen.

Bag for Sanitary Pads
Please do not throw in WC., but in the pail,
will be removed by chamber maid!

Sac pour Serviettes Hygiéniques
Priére de ne pas jeter dans les W.C.,
la femme de menage les enlevera!

Sacchetto
igienico per fascie igieniche

Si prega de non gettarie nel gabinetto,
bensi di metterie nel cestino toilette.
Sarà allontanato dalla cameriera.

Lüften Adet bezlerinizi WC
atamýnýz, bu torbaya koyuo
çöp tenekesine atýnýz.

Higiena saketo
por menstrusorbiloj
Bonvolu ne meti ĝin en la pelvon,
sed en la tiucelan ujon.
La ĉambristino forigos ĝin.

Mein Gemüt ist kindlich genug, sich darüber zu amüsieren, dass mir in einem Büroklo eine “chamber maid” versprochen wird, dass Binden auch als Hygieneservietten gesehen werden können oder als Hygienesäcke, und dass dieser Sachverhalt im Türkischen irgendwas mit Lüften zu tun hat.

Das dritte Wiesn-Wochenende

Sonntag, 5. Oktober 2003

Vielleicht haben das Oktoberfest und ich ja doch noch eine Chance.
Zum einen kam genau vor einer Woche Max auf die Welt (ja, ja – schon wieder einer). Und da sein Vater ein wirklich überzeugter und gebürtiger Münchner ist, wird der Bub hoffentlich mit der Geschichte aufwachsen, dass er am zweiten Wiesn-Sonntag 2003 geboren wurde. Das finde ich schön.

Zum anderen war ich am Freitag dann doch dort. Das erste Mal, vor vier Jahren, musste ich, weil ein wichtiger Kunde mich eingeladen hatte. Also hatte ich damals ein Wildleder-Mieder zum Schnüren und einen riesigen Rüschenrock aus meiner 80er-Jahr-Jugend entstaubt und mich in ein Bierzelt gesetzt. Das war sehr gruslig gewesen.
Am vergangenen Freitag ergab ich mich den Duft-Attacken, denen mich ein konstanter Westwind aussetzte: gebrannte Mandeln, Magenbrot, geschmolzene Schokolade… Zwischen zwei Regengüssen machte ich mich auf den Weg. Ich hatte beschlossen, nur die Volksfest-Seite am Oktoberfest wahrzunehmen, mich von Juchzern und Schreien der Karussel-Fahrer an Rummelplatz und Coney Island erinnern zu lassen – und die Horden Betrunkener zu ignorieren. Ein hartes Stück Arbeit!

Denn bereits auf dem nachmittäglichen Weg zur Theresienwiese (daher “Wiesn”) musste ich einem jungen Mann mit blau geschlagenem Auge ausweichen, Grüppchen und Gruppen von Menschen unter spitzen riesigen Filzhüten überholen (wann zum Teufel sind die eigentlich aufgekommen?), Pärchen mit Bierflaschen in der Hand übersehen, von Müllsprengseln in Vorgärten wegblicken.

Auf der Wiesn angekommen holte ich mir erst mal “eine Rote in der Semmel”, die mir eine junge, missmutige Frau überreichte – die sich nicht mal durch mein 400-Watt Kampflächeln zum Verziehen der Miene bringen ließ. Systematisch besah ich mir Karusselle, Buden und Bahnen. “Fahrgeschäfte” faszinieren mich ja schon. Der Trend geht offensichtlich immer mehr zu chaotischen Bewegungen um mehrere Achsen.

Nostalgie-Anfälle bekam ich an zwei Stellen. Zum einen gibt es die “Zugspitzbahn” noch! Zwar sind die weiß-hellblauen Gondeln wenig aufregend, weil nur im Kreis angebracht, aber die gesamte Deko ist einfach sehenswert: komplett mit Schneemann in der Mitte, in Weiß und Hellblau, inklusive stilisiertem Bergesgipfel und 70er Skifahrern. Wenn das Karussel fährt, schwingen die Gondeln aus, und an ihrer Unterseite werden die olympischen Ringe sichtbar.

Die “Zugspitzbahn” muss über 30 Jahre alt sein, in der Bugwelle der Olympischen Spiele 1972 in München gebaut.

Und dann entdeckt ich noch den “Musik-Express”! Die einzelnen Wagen sind hier fest montiert, fahren über Wellen im Kreis. Mein kleiner Bruder nannte seinerzeit diese Art Karussel “Ruck zure” (hochdeutsch ungefähr “rück näher heran”) und wies auf die Kunst hin, sich als lüsterner Jüngling immer außen im Wagen zu platzieren. Denn früher oder später musste sich die nebensitzende Dame der Fliehkraft ergeben und presste sich dann an ihn.

Selbst wer keine persönlichen Erinnerungen mit dem “Musik-Express” verbindet, wird spätestens beim Anblick der Rückwand sentimental: Darauf sind nämlich in Lebensgröße tanzende Figuren angebracht: Kleidung und Schuhwerk weisen sie unverwechselbar als Beat-Jugend der frühen 70er aus.

Überrascht war ich, wie viele altmodische Buden herumstanden: Büchsenwerfen, Spicker (so hießen Darts früher), Schießbuden, Geisterbahnen. Ich hätte nicht gedacht, dass sich damit Geld machen lässt. Auch vier Varietees entdeckte ich, ein Kasperltheater, eine Steilwand-Motorrad-Show. Als ich dann auch noch echten Türkischen Honig bekam (in rosa und weißen Spänen! – nicht zu verwechseln mit Türkischem Nougat), war ich fast mit dem Oktoberfest versöhnt.

Mittlerweile aber kostete es mich mehr und mehr Mühe, über die Auswirkungen übermäßigen Alkohol-Genusses bei den Wiesn-Besuchern hinweg zu sehen. Ich ging ganz schnell wieder nach Hause.
Gestern geriet ich dann auch noch mit dem Auto in italienische Wohnmobil-Kolonnen (halb Italien wohnt nämlich drei Wochen lang in Wohnmobilen und Wohnwagen in den Straßen ums Oktoberfest – aber diese haarsträubende Geschichte müsst Ihr Euch von anderen erzählen lassen).

Ich glaube, den nächsten Annäherungsversuch ans Oktoberfest verschiebe ich auf 2004.

Viktualien

Samstag, 4. Oktober 2003

Um ihren Naschmarkt beneide ich die Wiener schon arg. Die beiden Male, die ich ihn mir bei Besuchen vorknöpfte, kam ich zwar nicht weit: Ich musste von den angebotenen Leckereien nicht nur kaufen, sondern immer gleich probieren (hatte als Touristin schließlich keine Küche zur Hand) und konnte mich bereits nach 150 Metern nicht mehr fortbewegen.

Als München-Bewohnerin wird mir natürlich bei der Fahnung nach exquisiten Spezereien immer der Viktualienmarkt angetragen. Aber der hat mich von Anfang an enttäuscht. Zum einen bin ich mehrfach übers Ohr gehauen worden: Einmal bekam ich statt des ausgelegten Einser-Spargels verdeckt Dreier-Spargel eingepackt. Ein anderes Mal war der offene Mohn, den ich kaufte, bereits ranzig. Und dann war das Kurkuma vom Viktualienmarkt auch nicht mehr wirklich frisch.
Dazu kommt, dass ich einige Dinge auf dem Viktualienmarkt nicht bekomme, die ich dort entschieden erwarte – z.B. frische Vanilleschoten (nein, nicht die im Glasröhrchen, die gibt’s auch im Supermarkt).
Saisonales Obst und Gemüse aus der Umgebung: Ja, das bekomme ich da in hoher Qualität. Allerdings zahle ich meist „through the nose“, zu Bayrisch Apothekerpreise.

Heute allerdings erlebte ich zur Abwechslung eine positive Überraschung. Ich war unterwegs an den Rand des Viktualienmarkts geraten und sah einen großen Stand mit den verschiedensten Kürbissen. Ich beschloss spontan, dass es morgen bei mir Don Dahlmanns Kürbis-Lasagne gibt, und näherte mich dem Stand. Die junge Frau dahinter beriet mich bei der Kürbiswahl liebevoll und in waschechtem Oberbayrisch. Das ermutigte mich, auch mein Oberbayrisch auszupacken, gleich noch drei Pfund mehlige Kartoffel (Sorte Leila) zu besorgen und ein Kilo „Geiberuam“ (zu betonen auf der ersten Silbe! Hochdeutsch „Karotten“). Hat mich insgesamt glatte fünf Euro gekostet, und die junge Frau hat mir noch eine Rübe extra dazu gesteckt. So habe ich das gerne. Zu der gehe ich wieder.

Einhändiges Essen

Samstag, 4. Oktober 2003

Die wirklich leidenschaftlichen Leser gestalten möglichst ihren gesamten Alltag um ihre Leselust herum. Dann gibt es gute Orte und schlechte Orte, und die guten sind natürlich die, an denen man lesen kann (z.B. Wartehallen, Züge, Strand mit Liegen). Schlechte Orte sind die, an denen man nicht oder nur beschwerlich lesen kann (pralle Sonne, Fahrradsattel, für viele Leser auch Autos).

In meinem Leben hat die Leseleidenschaft auch meinen Küchenzettel beeinflusst: Wenn ich nur für mich koche, ist fast immer ein Gericht das Ergebnis, das ich mit einer Hand essen kann. Weil ich die andere schließlich für das Buch brauche, das ich beim Essen lese. Hm, genau genommen muss es mit einer Hand und Besteck zu essen sein. Käsebrote machen schließlich die Finger fettig – das mögen wir Leser überhaupt nicht. Eine Ausnahme mache ich höchsten bei Schokolade.

Leserfreundliche, einhändige Speisen sind also Eintöpfe aller Art, Suppen, Gemüsepfannen, Risotti, Hackbällchen in Soße, kleinere Nudeln wie Rigattoni.

Sollte ich jemals ein Kochbuch veröffentlichen, wird es sich vermutlich eher um diese Funktionalität drehen als um Geografie oder bestimmte Zutaten.

Friday Five

Samstag, 4. Oktober 2003

Friday Five

1. What vehicle do you drive?
“Fahren” ist eigentlich übertrieben. Das ist ja mein Problem: Ich brauche mein Auto eigentlich nicht. Es handelt sich um einen Citroën 2CV6 Club in Taubenblau. Erstzulassung 1991 (was ungewöhnlich ist, denn das Modell wurde nur bis 1988 gebaut). Das Auto ist in absolutem Originalzustand, inklusive Handkurbel und Holzkeil (für zum Radblockieren beim Reifenwechseln), noch nicht ein einziges Mal geschweißt. Weder habe ich irgend etwas eingebaut (nein, auch kein Radio), noch etwas aufgeklebt. Kilometerstand derzeit um die 46.000 – ich sag doch, ich brauch kein Auto.

2. How long have you had it?
Seit mein Bruder es mir 1998 geschenkt hat, damals mit gerade mal 12.000 Kilometer auf dem Tacho. Und da ich das Auto jetzt bitte endgültig loswerden möchte, bekommt er es zurückgeschenkt, als Zweitauto in seiner Familie. So wachsen seine beiden Söhne wenigstens mit einem echten Automobil auf, dessen Motor in all seinen Funktionsteilen sichtbar ist.

3. What is the coolest feature on your vehicle?
Schwer zu entscheiden, alles an diesem Auto ist cool. Ich würde mal sagen: Die Fenster, die nicht durch Kurbeln, sondern durch Klappen zu öffnen sind. Das Fahren eines 2CV wird dadurch eine fließende und elegante Bewegung: Schnalle öffnen, Fenster hochklappen, Einrasten überprüfen – das ist Schwanensee pur. Wie hölzern ist dagegen das Herunterkurbeln eines Autofensters, wie roboterhaft das Betätigen eines Knopfes zum Senken…

4. What is the most annoying thing about your vehicle?
Dass es eben nicht immer dann fährt, wenn es soll. Gerade bei Regen springt es gerne mal einfach nicht an. Und ich muss wieder die Bahn nehmen. Deswegen verzichte ich jetzt eben gleich.

5. If money were no object, what vehicle would you be driving right now?
Die Bahn! Bei unbegrenztem Budget hätte ich eine Netzkarte erster Klasse der Deutschen Bahn. Wenn es denn unbedingt ein Auto sein muss: Taxi. Und wenn ich unbedingt eines haben müsste – Chrysler PT Cruiser in Schwarz. Aber nur, wenn die Garage gleich dabei ist! Auf ein Auto ohne Garage lasse ich mich garantiert nicht mehr ein.

Die englische Küche

Freitag, 3. Oktober 2003

Die deutsche Küche hat in England übrigens einen ähnlich schlechten Ruf wie die englische Küche in Deutschland. Jedesmal wenn jemand nach einem England-Aufenthalt die Augen verdreht und über das Essen dort herzieht, frage ich mich, was und wo die Leute bloß gegessen haben mögen.
Denn:
Die meisten Take-aways sind indisch oder chinesisch und fast durch die Bank gut. In jedem Supermarkt, in jeder Drogerie bekommt man Sandwiches mit den ausgefeiltesten Füllungen. Pub-Food ist meist mehr als ordentlich, man darf sich nur nicht daran stoßen, dass zu allem Kartoffeln in irgend einem Aggregatszustand serviert werden (also nicht wundern, wenn man auch bei der Bestellung einer Lasagne gefragt wird, ob man dazu Pommes haben möchte oder Folienkartoffel).
Tatsächlich gewöhnungsbedürftig sind englische Würstchen – aber die kann man nun wirklich einfach umgehen.

Kann natürlich sein, dass deutsche Englandbesucher all die asiatischen Restaurants nicht als englisch ansehen. Und wenn sie ausgezeichnet chinesisch oder indisch gegessen haben, diese kulinarischen Vergnügen nicht dem Urlaubsland zuordnen.

Ein bisschen traurig ist allerdings der Versuch vieler junger Restaurants, Fusion Cooking anzubieten. Die Früchte-Nudeln mit Sojasoße aus dem Wok, die ich letztes Jahr in einem hippen Lokal in Brighton gegessen habe, waren zwar ganz nett. Auch der Red Kipper mit Lemon Gras. Aber so richtig aufregend ist das nicht, eher konturlos.

Und wie erklären sich die Verächter des englischen Essens dann bitte den internationalen Erfolg des Naked Chef Jamie Oliver, sehr verehrt auch von der Meisterköchin?

Meine ganz persönliche Aufklärungs-Mission für das englische Essen, die ich bislang hauptsächlich an meinen Gästen ausgelebt habe, setzte ich also ab sofort auch in diesem Blog fort. Unter den Rezepten findet sich seit heute der Cheese and Spinach Pancake Pie von Helene aus Poynton bei Manchester.