Archiv für Juni 2006
Leere Ränge beim Eröffnungsspiel
Samstag, 10. Juni 2006Als ich gestern Abend den Münchener Hauptbahnhof auf südlicher Seite verließ, ärgerte ich mich schon sehr, dass ich meinen Fotoapparat in einer anderen Tasche vergessen hatte: Die türkisch/italienisch/libanesischen Straßencafés hatten Fernseher zwischen die Tische gestellt, jeder Stuhl war besetzt, in der schrägen Abendsonne saßen Menschen jeden Formats, vieler Farben und schauten Fußball. Es war laut, es war fröhlich, es war anders – wunderschön. Genau deswegen kann ich nicht einfach so gegen die WM nölen. Ich habe sieben Jahre in der Einmarschschneise des Oktoberfestes überlebt und kann deshalb kompetend vergleichen:Oktoberfest ist das blanke Grauen, dieses Fußballfest könnte ein Spaß sein.
Daheim schaltete ich auch gleich den Fernseher ein, in erster Linie, um meine Erwartung bestätigt zu sehen: Viele, teilweise ganze Blöcke leere Plätze in der Münchener Arena. Ich arbeite ja in einem deutschen Großunternehmen, und unsere Kunden sitzen zu 75 Prozent im Ausland – die wichtigsten gehen natürlich davon aus, dass wir sie zur WM einladen. So beobachtete ich in den vergangenen Wochen meine Kollegin bei der Organisation solcher Einladungen und bekam dadurch das undurchschaubare und mordsaufwändige Ticketsystem mit. Preise (beim vorgestrigen Versuch, noch schnell zusätzliche Tickets zu bekommen, lag das niedrigste Angebot bei 2000 Euro) und Komplexheit der Eintrittsmodalitäten (u.a. muss jeder Besucher eines Spiels bis spätestens 72 Stunden vor Spielbeginn ein Formular mit allen persönlichen Angaben inklusive Passnummer einreichen) legen den Verdacht nahe, dass die Organisatoren in Kauf nehmen, auf einem großen Anteil der Tickets sitzen zu bleiben, weil sie wohl dennoch auf ihre Kosten kommen.
Claim to fame
Freitag, 9. Juni 2006Ich hatte mal eine Studentin in meinem Seminar „Einführung in die Englische Literaturwissenschaft“ sitzen, die sah aus wie ein etwas verlebter Michel von Lönneberga über 20 und war vor Studienantritt monatelang als Roadie der Backstreet Boys durch die Lande gezogen.
(Begegnungen, aus denen ich mich beim Schreiben meines ersten Romans bedienen werde.)
Maßwechsel
Donnerstag, 8. Juni 2006Die Veröffentlichung des untigen Textes zu diesem Zeitpunkt hat einen Grund: Ich hatte mir vorgenommen, ihn erst online zu stellen, wenn das eintreten würde, was es jetzt zu feiern gilt:
Begrüßen Sie mit einem großen Applaus den Einzug ins Hause Kaltmamsell von
KONFEKTIONSGRÖSSE 40!!!!
Was ich der Korrektheit halber relativieren muss: Mir passt diese Größe von den meisten Herstellern, bei H&M-Oberteilen ist das aber Größe 44. Und während mir von Eddie Bauer die Größe M passt, nennt man diese Maße im Hause Zara XL. An schlechten Tagen kann mich das runterziehen.
Ob diese Verdünnung nun eine Kapitulation vor dem Diätterror ist oder ein Sieg darüber, kann ich noch nicht sagen. Vergangenen Oktober klappte ein Schalter in mir um, wodurch mir nach drei Jahren Sport wieder Spaß machte. Gleichzeitig stellte ich auf kohlenhydratarme Ernährung um (keineswegs konsequent: Ich ließ und lasse Mehl- und Stärkeprodukte sowie Zucker fast ganz weg, nicht aber Obst und Gemüse.): Das ließ sich besonders gut mit dem Speiseplan der Fabrikkantine vereinbaren, außerdem erspart es mir Kalorien- oder Punktezählerei.
Wir wissen ja alle, dass Diät dick und krank macht, also machte ich keine. Statt dessen verhielt ich mich seit vergangenen Herbst, als müsse ich Kleidergröße 40 lediglich halten. (Na ja, mit Ausnahmen: Die ganze Advents- und Weihnachtszeit ohne Süßigkeiten, Plätzchen, Stollen, Lebkuchen war sicher eine einmalige Angelegenheit.) Vor allem aber schwor ich mir, und hier bitte ich, sich Scarlett O’Hara im Abendrot vor dem abgefackelten Tara vorzustellen, das Fäustchen gen Himmel gereckt: „Ich will NIE WIEDER HUNGERN!“
Ob die Tatsache, dass ich drei Jahre lang tatsächlich so dick war, wie ich mich immer gefühlt hatte, mich von meinen Körperwahrnehmungsstörungen geheilt hat, kann ich genauso wenig sagen. Superpeinlich war es mir in den vergangenen Monaten, von meiner Umgebung auf den Gewichtsverlust angesprochen zu werden. Vor allem von meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen. Vor vier Jahren, als ich vier Kleidergrößen im Lauf von etwa 15 Monaten zunahm, hat ja netterweise auch keiner was gesagt. Es geht los mit dem als Kompliment gemeinten „Mei, Sie ham ja so abgnommen!“, wird von „Wie ham’S denn des gmacht?“ fortgesetzt, woraufhin zu 80 Prozent (bei Frauen immer) die persönliche Gewichts- und Diätgeschichte des Ansprechers / der Ansprecherin folgt: „Mei, früher war i ja au mal schlanker.“ „Wenn i net viermal die Woche ins Fitness geh, nehm i sofort zu.“ „Mir schmeckt’s halt zu gut, gell.“ „I hab scho alles probiert.“ – Selbstverständlich ist nicht ein überraschendes Detail dabei. Es ist bis heute eine eherne Tatsache, dass eine Frau für nichts in ihrem Leben so viel offene Bewunderung und so häufiges Lob erntet wie für den Verlust von Körpergewicht.
Wie es sich anfühlt? Ich wackle noch. Einerseits ist es eine ungeheure Erleichterung, mich normal zu fühlen. (Da ich in Körperdingen ziemlich gestört bin, kam ich mir in Größe 46/48 – Dauerleser der Vorspeisenplatte erinnern sich – wie ein Freak vor.) Ich habe seit einiger Zeit auch aufgehört, Spiegel zu meiden, schaue im Gegenteil vor allem mein von Feistigkeit befreites Gesicht ganz gerne an. Am wichtigsten wäre mir aber, endlich eine entspannte Haltung zu dem Thema zu finden, den Figur-Blockwart endlich in Rente zu schicken. Daran arbeite ich noch. Dann bin ich hoffentlich auch gleich auf die bereits deutlich sichtbare Alterung dieses Körpers vorbereitet.
Von den Ekligkeiten des Dickseins
Dienstag, 6. Juni 2006Diesen Text habe ich bei dieser Lesung im März vorgelesen.
Gewidmet allen Dicken und Ex-Dicken.
Klar hat man sich als Durchschnittsfeministin spätestens ab der Pubertät gegen die Zwänge der gesellschaftlichen Schönheitsideale gewehrt. Hat Models „Hungerhaken“ genannt und die Bigotterie von Frauenzeitschriften angeprangert, die einerseits behaupten, die weibliche Selbstbestimmung zu unterstützen, andererseits jede Saison mit neuer Sinneskasteiung per Diät eröffnen.
Aber lassen Sie sich sagen: Einen Frauenkörper der Konfektionsgröße 48 zu haben, steckt ganz abseits jeglicher Ideologie rundum voll ekliger, widerlicher physischer Details.
Da ist zum Beispiel der Rückenspeck: Ein dicker Bauch lässt sich einziehen, der speckige Rücken nicht. Er legt sich in fischgrätförmige Falten Richtung Wirbelsäule, die nicht nur unterm und überm BH hervorquellen: Selbst bei einfachen Bewegungen wie dem Gehen reiben diese Falten aneinander, im schlimmsten Fall schweißig. Fühlt sich wie ein kompletter Fremdkörper an.
Unangenehmes Scheuern bringt uns zu den Innenseiten umfangreicher Oberschenkel. Diese hindern eine Dicke daran, Röcke ohne Strumpfhosen zu tragen, da bereits nach einem fünfminütigen Fußmarsch wunde Stellen entstanden sind. Körperpuder verzögert diesen Effekt um höchstens eine halbe Stunde, dann brennt die Haut bereits und nässt.
Das Aneinanderreiben von Riesenschenkeln hat auch eine auditive Note: In manchen Kunstfaser-Hosen und manchen Strumpfhosen macht es ein ganz typisches Dicken-Geräusch, so ein grusliges Swisch – Swisch – Swisch.
Ein zudem mächtiger Busen hindert die entsprechende Dicke unter anderem daran, zum Sockenanziehen im Stehen einfach das Knie zu heben. Sie muss beim Heben mit dem Bein außen am Busen vorbei. Weiterer Effekt: Sie kennen vielleicht nach sportlicher Betätigung die angenehme Dehnübung, bei der man den Arm ausgestreckt schräg über den Brustkorb streckt und ein wenig daran zieht? Vergessen Sie es, ein Monsterbusen macht den entsprechenden Winkel unmöglich.
Das bringt uns zur hässlichen Unterwäsche: In Größe 85F aufwärts gibt es keinen, überhaupt keinen Büstenhalter, der angezogen gut aussieht – wenn er tatsächlich die Funktion erfüllen soll, die sein Name vorgibt. Haben Sie schon mal was von „Minimizer-BHs“ gehört? Nein? Sie haben ja keine Ahnung: Die Ästhetik von Unterwäsche für Dicke bewegt sich im besten Fall – das heißt, wenn man Hautfarben meidet – auf dem Niveau von Ski- und sonstiger Sportwäsche.
Auch Unterhosen in Liebestöter-Format sind bei Dicken keine freiwillige Wahl, sondern anatomische Notwendigkeit. Denn der fette untere Bauch wirft über die Scham eine zusätzliche Falte. Irgendwann habe ich herausgefunden, dass dieses Geschwabbel als „Schürze“ bezeichnet wird. Eine Dicke spürt selbst beim aufrechtesten Sitzen den Bauchspeck auf dem Oberschenkel aufliegen – superwiderlich.
Aber zurück zum wogenden Busen: In Dickengröße wogt er sehr, sehr heftig beim Gehen. Hat eine Frau zudem, wie zum Beispiel ich, von Natur aus den Gang „einer Anden-Bäuerin“ (so bezeichnete es ein alter brasilianischer Regisseur), respektive geht sie „like a police woman on a drug squad“ (Urteil eines irischen Romanautors) – auf jeden Fall energisch und unelegant, hat sie doppelt Pech. Denn dabei legt ihr Busen durch Auf- und Abbewegungen fast halb so viel Weg zurück wie die Frau als Ganzes. Trägt sie also keine verdeckende Mäntel oder Jacken, muss sie sich zu einem Geisha-Gang wie auf Schienen zwingen, um nicht die falschen Blicke auf ihren Oberkörper zu ziehen.
Wo es wogt, da schwappt es auch, zum Beispiel im Liegen. Wer dick ist, will oft zumindest nicht weiß und madenhaft sein: ab ins Solarium (auf öffentliche Sonnenwiesen geht eine Dicke nämlich ungern). Dort hat sie unter den UV-Leuchten liegend ein neues Problem: Ihr Busen schwappt Richtung Hals und bildet neue Speckfalten – die nach Besonnung und zurück in aufrechter Haltung weiße Streifen ergeben. Also schiebt und zieht die Dicke unter der Höhensonne ihr Fett mal in die eine, mal in die andere Richtung, um der Faltenbildung entgegen zu wirken.
Mit Brustmassen verbunden sind Gerüche. Ein Minimizer-BH quetscht die Brüste in der Mitte zusammen, so dass sich die Haut beider auf großer Fläche berührt. Hier entsteht im Lauf des Tages ein säuerlicher Altweibergeruch, der beim Ausziehen des BHs jeden Abend nach oben steigt und durchaus Würgereiz auslösen kann.
Damit sind die Ekligkeiten noch nicht zu Ende. Auch am Hals einer Dicken bilden sich Speckfalten. Selbst auf die Geschmeide, die noch drumrum passen, verzichtet sie bald, da sie nicht auch noch Aufmerksamkeit auf ihre Michelin-Männchen-Gurgel ziehen will. Zumal gleich drunter das Pendant zu den Querfalten des Haltes liegt: die strahlenförmigen Längsfalten am vor der Zeit welken Dekollete.
Zum Abschluss noch etwas Harmloses, um nicht mit Ekelbildern aufzuhören. Was nun wirklich nur eine Frau weiß, die schon mal wirklich dick war: Schultertaschen halten nicht mehr an der Schulter. Fettschichten machen diese zu rund von allen Seiten, als dass der Schulterriemen einer Tasche Halt finden könnte. Eiserne Dicke behelfen sich damit, die Hand einzuhaken und den Riemen mit Gewalt im Schulterspeck zu fixieren, die meisten wechseln zu Taschen mit Handgriff.
Berlin Hauptbahnhof
Montag, 5. Juni 2006Die Berliner haben sich ein neues Einkaufszentrum gebaut: Berlin Hauptbahnhof. Allerdings ist der Name irreführend: Zwischen den zahllosen einkaufslustigen Berlinern jedes Alters, die diese neue Konsummöglichkeit testen, sieht man immer wieder Reisende, die große Koffer hinter sich her ziehen und damit mühsam einen Weg durch ganze Familienclans auf Einkaufstour bahnen. Sie schließen ganz offensichtlich aus dem Namen der neuen Mall, dass es hier irgendwo Züge geben muss. Oder Ticketschalter. Oder Bahnhofsrestaurants. Oder einen Wartesaal. In erster Linie aber stören sie das Einkaufsvolk.
(Wirklich interessant fand ich die Erscheinung McCafé: McDonalds holt sich ein Stück vom Ketten-Coffeeshop-Kuchen, lernt dafür Geschirr, Torten sowie Besteck und Ledersessel, setzt sich mit alldem in den eigenen Fastfood-Laden. Sah echt aus, und der Latte macchiato schmeckte.)
Nochmal das mit der Studienreise
Sonntag, 4. Juni 2006Ich musste erst mal in mich gehen, um mir darüber klar zu werden, was ich eigentlich erwartet hatte, als ich leichthin eine „Studienreise“ buchte. Denn in erster Linie hatte ich mit meiner Mutter Polen anschauen wollen, selbst aber weder Zeit noch Energie gehabt, mich um Route und Organisation zu kümmern. Ich glaube, ich hatte einfach erwartet, dass ein Bus mich von Ort zu Ort bringen und in einem Hotel absetzen würde, dass eine reiseleitende Person mich mit ein paar einführenden Worten und Material versorgen würde, man mich ansonsten aber in Ruhe lassen würde. Da ich recht überrascht über den tatsächlichen Ablauf war, der laut regelmäßig Studienreisenden die Norm ist, hier also für ähnlich Naive die Details:
Bis auf deutlich gekennzeichnete Zeiträume „zur freien Verfügung“ ist jede Minute der Reise verplant. Auf den langen, langen Fahrten informiert der Reiseleiter per Busmikrophon über alle denkbaren Aspekte des Landes und der Leute, täglich werden im Durchschnitt eine Siedlung (Stadt oder Dorf), drei Kirchen, eine Burg besichtigt, mit ausführlichen Informationen zu weltlichen und religiösen Details. Und das alles in der Gruppe. In der täglich auch mindestens zwei Mahlzeiten eingenommen werden.
Die Veranstalter sind sogar stolz darauf, dass die Teilnehmer sich um rein gar nichts selbst kümmern müssen. Gar. Nichts. Manchmal kam mir die Reise vor wie eine Fahrt von einem Klo zum nächsten, auf der – wenn wir schon mal hier sind – auch Kirchen und Schlösser besichtigt wurden.
Bei Reiseantritt war ich durch und durch urlaubsbedürftig, die davorliegenden anstrengenden Arbeitswochen waren mir an die Substanz gegangen. Dass eine Studienreise nicht erholsam ist, hatte ich völlig verkannt. Für mich ganz persönlich belastend war das Reisen als Gruppe. Ich wollte all diese Leute einfach nicht kennen lernen:
Nicht den nervösen Zwinkerer / Schniefer mit leichter Altersdemenz, der kaum etwas mitbekam und seiner Frau während der Busfahrten immer von früheren Reisen erzählte, von denen er vergessen hatte, dass sie dabei war (ihre knappe Erläuterung: „Wenn ich verreisen möchte, muss ich ihn mitnehmen. Allein lassen kann ich ihn nicht mehr.“).
Nicht den Schweizer Dauerschleimlöser, der zumindest den Regler seines Hörgeräts zu nutzen wusste und sich nach Gusto ein- oder ausklinkte.
Nicht die dicke, alte Abseitssteherin mit ihren destruktiven Zwischenbemerkungen.
Nicht das Ehepaar, das sich bei einem Abendessen damit brüstete, wie oft sie sich bereits bei diesem Reiseveranstalter schriftlich beschwert hatten und wie viel Geld sie dadurch zurück bekommen hatten. (Die einzige Situation, in der mich mein diesmal eisern gutes Benehmen verließ und ich ein bisschen bellen musste.)
Nicht mal die beiden an sich interessanten über 80-jährigen Berliner Freundinnen mit ihrer rostfreien inneren und äußeren Eleganz.
Und schon gar nicht den belehrenden Nebenerwerbsschlossführer aus Bremen, der zu jeder Ausführung des Reiseleiters eine Zusatzinformation oder Korrektur präsentierte, ob zum Thema passend oder nicht.
Fluchtmöglichkeiten gab es keine, ich wollte ja auch die gemeinsame Zeit mit meiner Mutter nutzen. Also riss ich mich zusammen und beobachtete, wie dieser Stress mit der Zeit zu Appetitverlust, übler Laune und Heimweh führte.
Aber jetzt weiß ich unter anderem eine Menge Neues über Polen und seine verstrickte Geschichte, über die Rolle Deutschlands darin, über jüdische Geschichte in Europa. Andererseits brauche ich jetzt fast dringender Urlaub als vor zwei Wochen.